Kapitel 5
Gerald
Gott, was hatte er getan? Wie hatte er nur derart ausfällig werden können? Noch nie in seinem Leben waren bei ihm die Sicherungen so durchgeknallt wie heute Morgen bei Julia. Natürlich war er mit dem festen Vorsatz zu ihr gefahren, sie davon zu überzeugen, diese Scheiße mit den Zwillingen zu lassen und stattdessen mit ihm auszugehen. Er wollte von ihr ernst genommen werden. Doch sein guter Vorsatz war bereits ins Wanken gekommen, nachdem er fast zwei Stunden auf sie hatte warten müssen. Die ganze Zeit hatte er sich ausgemalt, wie es wohl sein würde, wenn sie ihn sah, und dann, als es so weit war, war es mit ihm durchgegangen. Sie war zuerst überrascht gewesen und dann darüber sauer geworden, ihn wartend vorzufinden. Keine Freude, kein liebes Wort, was seine schlechte Laune noch mehr in den Keller hatte sinken lassen.
Natürlich rechtfertigte seine üble Stimmung nicht, was danach passiert war, doch er hatte nichts dagegen tun können. Sie und die ganze Situation hatten ihn dermaßen gereizt, dass er ausgetickt war. Er hatte sie angegriffen und befummelt, etwas, was er zuvor noch nie getan hatte. Zu guter Letzt hatte er sie auch noch beschimpft und bedroht. Kein Wunder also, dass sie sich gegen ihn gewehrt hatte.
Und nun saß er hier, mit einer gefrorenen Packung Erbsen am Kinn, und bewunderte sie insgeheim für ihre taffe Art und Weise, wie sie mit ihm umgegangen war, auch wenn dies bedeutete, vielleicht einen Zahn zu verlieren. Doch daran trug nur er alleine die Schuld. Und der viel größere Schaden war der, den er bei Julia angerichtet hatte. Voller Scham dachte er daran, wie rüde und frauenfeindlich er gewesen war. Wie nur sollte er ihr jemals wieder unter die Augen treten, ohne beschämt die Augen senken zu müssen? Er wusste es nicht. Dafür, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, war später noch Zeit. Der nächste Schritt war, seinen Zahnarzt aufzusuchen. Er kramte nach der Nummer seiner Zahnarztpraxis und rief seinen Arzt an, der ihm riet, sofort vorbeizuschauen.
„Sie hatten Glück, Herr Neitzel. Großes Glück sogar. Ihr Kiefer ist lediglich stark geprellt. Das ist zwar äußerst schmerzhaft, dürfte jedoch in wenigen Tagen wieder verheilt sein. Sie haben sich bei dem Aufprall ordentlich auf die Zunge gebissen, weshalb sie so stark geblutet hatten, und einer ihrer Backenzähne ist abgesplittert, aber den können wir mit einer Krone mit Sicherheit retten. Alles in allem ist es nicht ganz so dramatisch, wie es zunächst ausgesehen hatte.“
„Wenigstens etwas“, brummte Gerald und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Das sind die ersten guten Nachrichten heute.“
„Mhm. Verstehe. Ich werde Ihnen heute nur die Kanten des gesplitterten Zahnes abschleifen. Für den Rest machen wir einen neuen Termin aus, wenn Ihr Kiefer abgeschwollen und beweglicher ist. Wir müssen Sie ja nicht unnötig quälen, nicht wahr?“
Obwohl ich es verdient hätte , dachte Gerald und nickte wortlos. Was hätte er auch sonst dazu sagen sollen? Er wusste, an dieser Situation war er selbst schuld, doch daran ließ sich nun leider nichts mehr ändern.
Während er darauf wartete, dass seine Schmerzspritze wirkte, schrieb er eine E-Mail an die Praxis und bat Leni darum, seine Termine auf die Mitarbeiter zu verteilen und vorläufig erst einmal keine neuen Termine auszumachen.
Wenn einer fragt, ich bin krank. Ich melde mich, sobald es mir wieder besser geht , schrieb er zum Schluss und verschickte die Nachricht.
Dann überlegte er kurz, bevor er WhatsApp öffnete und eine Nachricht an Julia verfasste …