18.


Er sah besser aus als noch wenige Stunden zuvor, wenn ich ihn auch nicht auf einen Marathonlauf hätte schicken wollen. Seine Schuppen zeigten wieder einen Anflug der Färbung, der die Aoree den despektierlichen Namen 'Blaue' zu verdanken hatten, und seine Augen waren klar. Allerdings führte eine bedenkliche Anzahl von Schläuchen in seinen Körper, und auf den Monitoren und Hologrammen, die über dem Antigravbett die Wand bedeckten, blinkten einige rote Icons, was auch bei den Aoree nichts Gutes zu bedeuten hatte. Bevor wir das Zimmer betreten hatten, war uns von einem Mediker versichert worden, dass keine akute Lebensgefahr mehr für Darean bestand. 'Soweit wir dies derzeit überblicken können' , wie er hinzugefügt hatte. Auch bei den Aoree versuchten die Ärzte anscheinend gerne, ihre gut bezahlten Hintern aus der Schusslinie zu halten. Wie gesagt, wir waren uns ähnlicher, als man annehmen sollte.

»Hey, Kleiner! Wie fühlst du dich? Immer noch Stimmen im Hirn?« Ich freute mich riesig, Darean außer Gefahr zu wissen.

»Hallo, Gregory«, antwortete er leise, fast flüsternd. »Es geht mir etwas besser! Nein, keine Stimmen mehr, aber ich fühle mich, als ob ich drei Gangur mit einem Helrar gekorkelt hätte.»

Ich hatte keinen blassen Schimmer, was er mir damit sagen wollte, aber es schien ihm tatsächlich besser zu gehen.

»Wie ich gehört habe, hast du dich sehr tapfer geschlagen und meinem Freund und Clanbruder Gregory das Leben gerettet, Darean«, sagte Selkumar mit väterlichem Stolz. »Du hast für unseren Clan Ehre erworben und man wird deinen Namen auf Bregara rühmen.«

Ich konnte sehen, wie es dem Jungen schlagartig mehrere Prozent besser ging. Einige der Icons wechselten von Rot zu Orange. Es geht doch nichts über die Heilkraft des Geistes.

»Du hast nach uns verlangt?«, fragte Selkumar seinen Sohn.

»Ja, ich bin sicher, was ich euch zu sagen habe, ist von großer Wichtigkeit. Ich kann mich an vieles erinnern.«

»Erinnern? Woran?«, wollte ich wissen.

»Die Stimmen. Sie haben mir Dinge gesagt … mitgeteilt … ich weiß nicht genau, wie ich es nennen soll. Es war, als ob ich mich an einen Traum erinnern könnte, von dem ich jedoch bestimmt weiß, dass ich ihn nie geträumt habe.«

»Das Rassebewusstsein!«, rief ich aus.

»Vielleicht. Wahrscheinlich. Es war … als ob …« Er stockte. »Wie Stimmen und Bilder, die mir eine Geschichte erzählen wollen, die meine Geschichte ist. Obwohl sie es nicht ist … als Darean, meine ich. Ich wusste teilweise nicht mehr, wer ich bin. Ich konnte nicht mehr zwischen meinen eigenen und den fremden Erinnerungen unterscheiden, die aber auf eine seltsame Art ebenfalls meine waren. Oder vorgaben, es zu sein. Ich habe versucht, mich dagegen zu wehren. Es war … schwierig.«

Er sprach immer leiser und seine Worte klangen zunehmend gequält. Es war offensichtlich, dass ihn die Unterhaltung sehr anstrengte.

»Es muss qualvoll für dich gewesen sein«, sagte ich. »Du hast eine übermenschliche Leistung vollbracht, Darean.«

Trotz seines Zustandes schnaubte er belustigt und grinste mich an. »Übermenschlich trifft es wohl kaum!«

Ich musste ebenfalls spontan lachen und auch Selkumar konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, obwohl die Situation ernst war und einige der Icons wieder von Orange zu Rot wechselten.

»Du bist ein Held des Clans der Mallnichon, mein Sohn. Nein, nicht nur unseres Clans, sondern des gesamten Volkes der Aoree.« Er legte eine Hand auf Dareans Schulter. »Und nun solltest du dich ausruhen. Wir …«

»Nein, es gibt einige Dinge, die ihr wissen müsst!«, unterbrach er seinen Vater heftig, und trotz seiner zunehmenden Schwäche ließ sein Tonfall keinen Widerspruch zu. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass aus dem unerfahrenen, tollpatschigen und vorlauten jungen Aoree infolge dieses Erlebnisses ein Mann, ein Kämpfer geworden war. »Ich besitze nur schemenhafte Erinnerungen, aber sie dürften von enormer Bedeutung sein. Ich weiß, woher die Kraylor kommen und wo sie sich befinden. Ich kenne den ungefähren Standort ihrer Operationsbasis!«

Natürlich! Wir hatten unsere Hoffnungen auf Penny gesetzt, aber Darean war ebenfalls dem Mutagen ausgesetzt worden, auch wenn bei ihm die beabsichtigte Umwandlung nicht erfolgreich gewesen war. Es war ein Glücksfall, dass sich einige der aufgepfropften Erinnerungen erhalten hatten und uns nun Hinweise auf den Feind geben konnten. Sicher waren seine Erinnerungen nicht so detailliert und vollständig wie bei einem komplett umgewandelten Opfer, aber jeder noch so kleine Informationshappen konnte wichtig sein.

»Ich will nicht, dass du dich überanstrengst«, sagte Selkumar besorgt.

»Keine Sorge!« Darean lächelte verlegen. »Es wird nicht lange dauern. Leider ist es nicht sehr viel, an was ich mich erinnern kann.« Er atmete einmal tief durch, schloss die Augen und begann zu erzählen. »Die Kraylor haben weder einen Heimatplaneten noch ein Herrschaftsgebiet. Ihr Ursprungsplanet wurde vor mehreren Zehntausend Jahren von einem Gammablitz getroffen, der jedes Leben dort ausradiertte. Es überlebten nur diejenigen, die sich zufällig gerade unter der Erde, in einem Gebäude mit dicken Mauern oder in ihrer einzigen Kolonie auf einem unwirtlichen Nachbarplaneten aufhielten. Sie standen erst am Beginn ihrer Ausbreitung ins All. Ihre Rasse wurde bis auf einige Zehntausend Überlebende fast vollständig ausgelöscht. Ich kann nicht sagen, wo sich dieses Sonnensystem befand. Die verbliebenen Kraylor haben in den nächsten Jahrzehnten in mühsamer Arbeit einen Asteroiden ausgehöhlt und ihn zu einem Generationenschiff umgebaut. Damit machten sie sich auf den Weg zu einem bewohnbaren Planeten in einigen Lichtjahren Entfernung, den ihre Astronomen entdeckt hatten. Die Reise dauerte mehrere Jahrhunderte unserer Zeitrechnung und während dieser Zeit wurden sie aus Notwendigkeit zu Meistern der Biotechnologie und Genetik. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, wenn sie überleben wollten. Nahrungsmangel, Krankheiten und andere biologische Probleme drohten ständig, auch die letzten Kraylor auszulöschen. Dann hatten sie Glück im Unglück. Das andere System war bewohnt. Auf ihrem Zielplaneten hatte sich eine Spezies entwickelt, die gerade an der Schwelle zur überlichtschnellen Raumfahrt stand. Die Kraylor waren viel zu wenige und viel zu schwach, um eine bewaffnete Auseinandersetzung zu riskieren. Aber sie verhandelten um ihr Leben! Als man ihnen die neu entwickelte FTL-Technologie nicht überlassen wollte, drohten sie dem anderen Volk mit dem Einsatz einer biologischen Waffe. Es wäre ihnen ein Leichtes gewesen, einen Virus oder Ähnliches in die Atmosphäre einzubringen, um Tod und Verderben zu säen. Das andere Volk gab nach und überließ den Kraylor die begehrte Technologie. – Sie haben den Virus trotzdem eingesetzt und keinen der anderen am Leben gelassen. Aus Angst vor Verfolgung und Rache, nehme ich an.«

Mir stockte der Atem. Was Darean berichtete, zeugte von einem unfassbaren Ausmaß an Skrupellosigkeit und Gewaltbereitschaft.

»Seitdem ziehen sie durch die Galaxis. Inzwischen sind aus dem einen Asteroiden eine ganze Menge geworden. Sie haben andere Spezies getroffen, diese ausgeplündert, teilweise in Kraylor umgewandelt und in ihre Reihen aufgenommen. Von den Kraylor in ihrer ursprünglichen Form ist schon lange keiner mehr am Leben. Sie waren wohl einst Arachnoiden, besitzen inzwischen aber eine Vielzahl an unterschiedlichen Körperformen. Keine der Spezies, die sie unterwandert und ausgeplündert haben, befand sich auf einem besonders hohen technologischen Niveau. Sie benutzen immer noch die FTL-Technik, die sie zu Beginn ihrer Odyssee gestohlen haben. Inzwischen zählen sie einige Hunderttausend Individuen. Sie reisen mit ihrer Armada, zu der nur wenige richtige Raumschiffe gehören, nur mit etwa einhundert Lichtjahren pro terranischem Jahr durch die Milchstraße. Einige ihrer Schiffe sind zwar schneller, aber die riesigen Generationenschiffe halten die Armada auf. Und nun haben sie uns gefunden! Gleich zwei raumfahrende Spezies, die ihnen technologisch weit überlegen sind. Sie fürchten uns, haben es aber abgesehen von Nahrung und Wasser, die beide immer knapp sind, in erster Linie auf unsere überlegene Technologie – vor allem auf unsere schnellen und leistungsfähigeren Überlichttriebwerke abgesehen! Wenn sie diese in ihren Besitz bringen, können sie weite Teile der Milchstraße überrollen und ausplündern.«

Darean sank erschöpft in seinem Antigravbett zurück und atmete schwer. Ich war sprachlos und Selkumar schien es ebenso zu gehen. Er sah mich an und ich konnte eine Mischung aus Abscheu und Zorn, aber auch Entschlossenheit in seinem Blick erkennen.

»Wir müssen die Kraylor aufhalten. Wir werden sie aufhalten!«, sagte er.

»Ja, das werden wir!« Ich war ansonsten um Worte nicht verlegen, aber diesmal fiel mir kein lockerer Spruch ein. Es wäre mir auch unpassend erschienen. »Die Kraylor sind Monster, Parasiten, blutsaugende Vampire«, fügte ich hinzu und spürte, wie auch in mir die Wut aufstieg. Jede Spezies wollte überleben, und die Kraylor waren vom Schicksal hart getroffen worden, doch als Konsequenz auf einen galaxisweiten Raubzug zu gehen und überall Leichen am Wegesrand zurückzulassen war … monströs! Bis hierher und nicht weiter , dachte ich.

»Eines noch!« Ich hatte geglaubt, Darean wäre eingeschlafen, doch er hatte nur eine kurze Pause einlegen müssen. »Ich kann euch sagen, wo … wo ihr sie finden könnt. Die Armada. Zumindest … ungefähr.« Seine Stimme war nur noch ein kaum vernehmbares Gemurmel und wir mussten uns anstrengen, ihn zu verstehen. Er hielt die Augen geschlossen, doch er sprach weiter. »Sie sind … auf der anderen Seite der … der Terranischen Föderation. Irgendwo in … in der Nähe eines Doppelsterns. Ich kenne die … Positionsdaten nicht, aber einer der … einer ist ein Schwarzes Loch. Unge… ungefähr … einhundert Lichtjahre …«

Sein Kopf fiel zur Seite und er schlief vor Erschöpfung ein. Ich warf einen raschen Blick auf die Monitore und Hologramme. Es schien alles in Ordnung zu sein – zumindest war sein Zustand nicht schlechter als zu Beginn seines Berichtes.

Selkumar strich ihm zum Abschied über den schuppigen Kopf und bedeutete mir, das Krankenzimmer zu verlassen. Ich blickte noch einmal auf die dünne, blaue Gestalt im Bett und empfand eine bittersüße Mischung aus Trauer und Zuneigung. Und Zorn – auch auf mich selbst. Selkumar hatte mir seinen Sohn anvertraut und dies hatte für Darean beinahe mit dem Tod geendet. Ich schwor mir, die Kraylor dafür teuer bezahlen zu lassen.