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Der Albino-Panda
Auf der Rückfahrt sagt keiner von uns ein Wort. Mama schimpft nicht einmal, als unser Wagen nach fünf Kilometern einfach liegen bleibt, weil irgendwas am Motor kaputtgegangen ist. Papa schaut unter die Haube und schüttelt dann traurig den Kopf, was wohl heißen soll, dass Opas alter Wagen endgültig hinüber ist. Wir steigen alle aus, und Renzo beweist, dass man ihn nicht umsonst Auto-Kralle nennt. Er knackt schweigend das Schloss eines Kleinwagens, den irgendwer direkt vor uns in einer Parkbucht abgestellt hat. Ich fahre da nicht mit, weil das Auto geklaut ist. Renzo hat sich noch nicht mal bemüht, das vor mir zu verheimlichen. Das tut er nämlich manchmal, damit ich keinen Ärger mache.
Okay, den Mini-Van hat Opa damals natürlich auch geklaut, aber den haben wir schon so lange, da ist der Diebstahl längst verjährt. Vor einigen Jahren habe ich mal versucht, den rechtmäßigen Besitzer zu ermitteln, um ihm ein anonymes Entschuldigungsschreiben zuzuschicken. Die ganze Sache war aber von Anfang an hoffnungslos, weil Opa als alter Profi den Wagen natürlich umlackiert und auch die Rahmennummer aus dem Motorblock gefeilt hatte. Ich habe es irgendwann aufgegeben und zur Wiedergutmachung ein paar alten Damen ihre schweren Einkaufstaschen getragen, ohne dafür auch nur einen Cent zu nehmen. Ich glaube nämlich, dass es auf der Welt eine riesige, unsichtbare Waage gibt: Links in die Waagschale kommen die Taten, die nicht so gut sind, also Verbrechen oder sonst irgendwelche Gemeinheiten, die Menschen anderen Menschen antun. Und auf die rechte Seite kommt das andere, also das Gute, das Nette, das Freundliche und Hilfsbereite, was Leute tun. Dabei ist es ganz wichtig, dass die Waage immer im Gleichgewicht ist, oder noch besser: dass sie sich nach rechts auf die gute Seite neigt. Ich weiß nicht was passiert, wenn die linke Seite zu schwer wird. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass das – was auch immer dann geschieht – für die Menschheit nicht besonders angenehm sein wird. Daran glaube ich, so wie andere Leute an Gott, Allah oder Buddha glauben – und deswegen versuche ich jeden Tag, die Taten meiner Familie irgendwie auszugleichen, damit die große Waage noch möglichst lange im Gleichgewicht bleibt.
Über solche Sachen denke ich nach, als ich die fünf Kilometer zurück nach Hause laufe. Selbst ohne meine Skrupel, wäre in dem geklauten Wagen kein Platz mehr für mich gewesen. Meine Familie quetscht sich so schon zu viert auf die Rückbank. Für Enrico blieb nur der Platz auf Omas Schoß, und da bin ich eigentlich ganz froh, dass ich so eine ehrliche Haut bin. Noch bevor Papa das Auto kurzgeschlossen hatte, beschwert sich mein kleiner Bruder bereits lautstark, dass ihm Omas Tränen sein T-Shirt am Rücken durchnässen. Seit wir den Besucherraum verlassen haben, hat sie die ganze Zeit geheult. Auch das ist ein guter Grund, zu Fuß zu gehen. Ich kann es nicht gut aushalten, andere Menschen weinen zu sehen. Ich kann es auch nicht gut aushalten, wenn andere Menschen mir beim Weinen zusehen. Und das werde ich gleich, weil ich auch an Opa und seine Krankheit denken muss. Zum Glück sind nicht viele Leute unterwegs, und wenn mir jemand entgegenkommt, drücke ich das Kinn auf meine Jacke und bemühe mich, nur ganz leise zu schniefen. Dann erinnere ich mich plötzlich wieder an dieses zufriedene Grinsen in seinem Gesicht, das so gar nicht zu seiner Krankheit passt und das ich mir einfach nicht erklären kann.
Als ich die halbe Strecke geschafft habe, liegt vor mir plötzlich eine Tageszeitung auf dem Bürgersteig. Ich hebe sie auf und sehe mich um, ob ich jemanden entdecken kann, der sie verloren haben könnte. Weit und breit ist aber niemand. Kurz überlege ich, ob ich die Zeitung ins Fundbüro bringen soll und ob das irgendeine Auswirkung auf die große Waage hätte. Ich verwerfe den Gedanken aber schnell wieder, weil ich mich noch gut an meinen letzten Besuch dort erinnere. Damals hatte ich einen Schnuller in der Nähe eines Kinderspielplatzes gefunden. Den wird das Baby bestimmt vermissen, habe ich gedacht, und deswegen gleich beim Fundbüro abgegeben. Die Frau hinter dem Schalter hat mich nur mit großen Augen angeguckt, den Schnuller mit spitzen Fingern angefasst und in den Mülleimer gepfeffert.
Während ich weiterlaufe, schlage ich die Zeitung auf, um nach den Lottozahlen zu gucken. Das wäre überhaupt das Tollste, wenn ich jetzt sechs Richtige hätte!
Dann könnte ich für Opa den besten Arzt der Welt bezahlen, einer der ihn wieder gesund macht, und meine Familie bräuchte dann auch keine krummen Dinger mehr zu drehen. Wir würden ein Haus mit Swimmingpool kaufen und uns den ganzen Tag faul auf den Liegen rumfläzen und im Winter würden wir einfach vier Glaswände und ein Glasdach drum herumbauen. Dann hätten wir unser eigenes Hallenbad. Das wäre schön.