13
Noch ein
Familienausflug
Als ich aufwache, ist es schon Mittag. Ich habe die Schule verpennt und das ist mir noch nie passiert. Trotzdem fühle ich mich das erste Mal seit Tagen gut, weil ich ausgeschlafen bin, Albi wieder da ist, wo er hingehört, und ich die Waage wieder ins Gleichgewicht gebracht habe. Die anderen Mitglieder der Familie Calzone sehen weniger fit aus.
»Boah, habe ich Kopfschmerzen«, jammert Papa, der mir im Flur entgegenkommt. »So viel haben wir gestern doch gar nicht getrunken, oder?«
Oma, Mama, Renzo, Angelina und Enrico geht es auch nicht viel besser. Das müssen die Nebenwirkungen von den Tropfen sein, und das beweist, dass ich absolut recht damit hatte, sie Albi nicht zu geben.
»Was macht der Panda?«, will Mama wissen, die sich einen nassen Waschlappen gegen die Schläfe drückt. »Hat der endlich was gegessen?«
»Albi geht es gut«, sage ich.
»Wer ist Albi?«, fragt Papa.
»Der Dinosaurier, den Renzo heute Nacht entführt und in unserer Garage versteckt hat«, antworte ich.
»Echt?« Papa sieht mich mit großen Augen an.
»Nein, Albi heißt der weiße Panda«, sage ich.
Bevor Papa etwas entgegnen kann, kommt Oma in den Flur gestürmt und brüllt aufgeregt: »Wir sind zu spät! Wir sind zu spät!«
»Zu spät wofür?«, will Mama wissen.
»Heute ist doch Besuchstag! Wir müssen zu Opa!«
Danach geht alles ganz schnell. Die Calzones flitzen alle gleichzeitig ins Bad, um sich ein bisschen frisch zu machen. In der ganzen Aufregung fragt niemand mehr nach Albi. Eine Viertelstunde später fahren wir auch schon in dem hellgrünen Leichenwagen zu Opas Gefängnis. Papa und Mama sitzen vorne, Oma hat wieder auf der Liege Platz genommen, Angelina und Renzo hocken rechts auf dem Boden, Enrico und ich links. Unterwegs wird nicht viel geredet, weil den anderen von den Tropfen immer noch etwas übel ist. Das tut mir natürlich leid, aber wenn ich es ihnen später irgendwann mal erkläre, werden sie es bestimmt verstehen und mir verzeihen. Vielleicht.
Wir fahren an der Tankstelle, dem Friedhof, dem großen Möbelhaus und dem Shoppingcenter vorbei. Erst als Papa in die Sackgasse einbiegt, die zum Gefängnis führt, sagt endlich jemand etwas. Es ist Oma: »Opa wird Augen machen, wenn wir ihm erzählen, dass unser Rocco ein Fahrrad geklaut hat! Mit Anhänger!«
»Vielleicht stimmt ihn das etwas milder, wenn er erfährt, dass wir das große Ding noch nicht zu Ende gebracht haben«, erwidert Papa.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt Mama. »Irgendwann wird der Zoo schon einknicken und uns das Geld für den Panda geben.«
»Ich will den Panda aber behalten!«, brüllt Enrico dazwischen.
Ich würde auch gerne schreien und ihnen sagen, dass Albi gar nicht mehr da ist. Irgendwann muss ich es ja tun. Ich warte nur auf eine gute Gelegenheit. Jetzt ist es gerade nicht so gut, weil wir schon auf dem Parkplatz angekommen sind und es alle eilig haben, aus dem engen Wangen auszusteigen.
Wir gehen durch das Tor, durchqueren die Sicherheitsschleuse und werden von einem Wärter, diesmal ist es ein anderer, durch die Flure und das große Treppenhaus ins Besuchszimmer geführt. Alles ist wie immer und doch ganz anders, weil in den letzten Tagen so viel passiert ist.
Opa wartet schon auf uns. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Stapel Tageszeitungen, und das wundert mich, weil ich gar nicht wusste, dass er überhaupt Zeitungen liest. Höchstens vielleicht »Polizei und Hund«, das Fachmagazin für Polizisten, um sich über die neuesten Trends auf der Gegenseite zu informieren.
Oma umarmt Opa zur Begrüßung und fängt dabei gleich wieder an zu heulen. Dann sind wir anderen dran in derselben Reihenfolg wie jeden Freitag. Als ich an die Reihe komme, ruft Papa: »Rocco hat ein Fahrrad geklaut! Mit Anhänger!«
Opa zieht die Augenbrauen kraus und betrachtet mich zweifelnd.
»Eigentlich …«, sage ich schnell. »… ist es mehr geliehen, weil …«
Weiter komme ich nicht. Renzo tritt mir von hinten in die Kniekehlen.
»Aua!«
»Er ist einfach zu bescheiden«, mischt sich Mama ein und drückt mich so liebevoll an sich, dass mir die Luft wegbleibt und ich nicht mehr weitersprechen kann.
»Gratuliere«, brummt Opa, als würde er meinen Eltern die Sache mit dem Rad und dem Anhänger nicht glauben. Dann setzen wir uns alle um den Tisch.
»Wie läuft das große Ding?«, flüstert Opa, weil er nicht will, dass der Wärter an der Tür mithört. »Ihr wisst ja, dass ich nicht mehr viel Zeit habe.«
Enrico und Renzo stehen auf und machen sich an dem Getränkeautomaten zu schaffen, Oma fängt wieder an zu weinen, Angelina starrt auf ihr Smartphone, und Mama streicht mir immer wieder über die Haare, um meine strubbelige Frisur in Form zu bringen. Dabei liegen die schon ganz glatt.
»Prima! Wirklich ganz prima! Könnte gar nicht besser sein«, sagt Papa schließlich, weil sonst niemand auf Opas Frage antworten möchte. »Wir stehen so kurz vor dem Abschluss!« Dabei hält Papa seinen Zeigefinger und Daumen so dicht aneinander, dass nicht mal mehr ein Blatt Papier dazwischen passen würde.
»Fabelhaft! Ganz fabelhaft!«, erwidert Opa mit so einem komischen Ton in der Stimme. »Und wie viel springt dabei raus? Was glaubt ihr?«
»Eine, vielleicht sogar zwei Millionen«, sagt Papa, und das finde ich ziemlich gewagt. Bei ihrer letzten Lösegeldforderung sind er und Mama schließlich schon auf zwanzigtausend Euro runtergegangen. Keine Ahnung, wo Papa das Geld auftreiben will. Er weiß ja noch nicht mal, dass er die Zwanzigtausend auch nicht kriegen wird, sondern nur den Fresskorb, den ich in der Garage versteckt habe.
»Eine, vielleicht sogar zwei Millionen«, brummt Opa. »Nicht schlecht.«
»Natürlich nur, wenn alles gut läuft«, sagt Papa und lächelt jetzt sogar, weil er glaubt, dass Opa ihm glaubt.
»Wollt ihr mich verarschen?!« Opa haut mit der Faust auf den Tisch. Der Knall lässt alle zusammenzucken, sogar den Wärter an der Tür.
»Meint ihr, ich könnte nicht eins und eins zusammenzählen?!«, fragt Opa und wirft die Zeitungen wütend in die Luft. »Diese komischen Anzeigen »Teddybären-Rücknahme verweigert« und dann dieser Panda, der angeblich krank ist, obwohl er vorher noch kerngesund war. Da steckt doch ihr dahinter, oder?« Opa ist es jetzt scheinbar völlig egal, ob der Beamte ihn hört oder nicht. »Ihr hattet doch nicht etwa die total bescheuerte Idee, einen Panda zu entführen? Das ist das dämlichste große Ding, von dem ich jemals gehört habe! Ist doch klar, dass die dafür nichts zahlen. So selten ist so ein Panda ja auch wieder nicht. Ist schließlich nicht die Mona Lisa!«
»Reg dich bitte nicht so auf! Nicht in deinem Zustand«, fleht Oma.
»Was denn für ein Zustand?«, schimpft Opa.
»Na, wegen deiner Krankheit. Der, wegen der dir nur noch so wenig Zeit bleibt«, erklärt Mama.
Opa lacht kurz auf, dann wischt er mit seiner Hand durch die Luft.
»Das habe ich doch nur gesagt, um euch ein bisschen Feuer unterm Hintern zu machen. Ich wollte, dass ihr endlich mal in die Pötte kommt und was Vernünftiges auf die Beine stellt. Was Vernünftiges! Aber doch keine Pandaentführung! Wo steckt das Viech jetzt überhaupt?«
Die anderen sind so überrascht, dass sie sich gar nicht richtig darüber freuen können, dass Opa nicht sterben wird. Zumindest nicht so bald. Ich hatte das ja vorher schon geahnt, halte aber lieber den Mund, um nicht als Klugscheißer dazustehen. »In Roccos Zimmer«, erklärt Angelina nach einer Weile kleinlaut, während Renzo noch kleinlauter fragt: »Möchte jemand eine Cola?«
»Nein«, widerspreche ich mit leiser Stimme.
»Für Rocco keine Cola, aber das war ja sowieso klar«, sagt Enrico zu Renzo, der die Brüllerei genutzt hat, um unbemerkt den Automaten zu knacken.
»Das meinte ich nicht«, stelle ich das Missverständnis richtig, und während ich spreche, wird meine Stimme immer lauter und fester. »Ich meinte den Panda. Der ist nicht mehr in meinem Zimmer. Albi ist wieder im Zoo. Ich habe ihn zurückgebracht.«
Alle schauen mich an. Die gesamte Familie Calzone und auch der Wärter, der uns schon die ganze Zeit anstarrt, so als säße er im Kino, und wir würden das hier alles nur zu seiner Unterhaltung aufführen.
»Wer ist Albi?«, fragt Opa verwirrt.
»Na, der Panda, wer denn sonst«, antwortet Papa, dann wendet er sich mir zu. »Was meinst du damit: Er ist zurück im Zoo?«
»Was ist daran so schwer zu verstehen?«, entgegne ich. »Er ist wieder da, wo er hingehört, und dort geht es ihm gut. Nehme ich jedenfalls an.«
»Warum hast du ihn nicht gleich nach Afrika gebracht?«, will Renzo wissen, während Enrico anfängt zu flennen: »Ich will meinen Panda wiederhaben! Ich will meinen Panda wiederhaben!«
»Asien! Pandas leben in Asien«, sage ich. »Und ich habe tatsächlich darüber nachgedacht. Aber was soll er in China? Dort kennt er doch niemanden. Der ist schließlich in Österreich geboren. Der kann ja nicht mal die Sprache, und außerdem ist er verliebt, und seine Liebste lebt hier bei uns im Zoo, und deswegen war er auch so traurig. Der hatte Liebeskummer, ganz schrecklichen Liebeskummer!«, sage ich, obwohl das mit der fremden Sprache natürlich Blödsinn ist.
Kurz darauf beginnt ein typischer Calzone-Streit. Jeder brüllt jeden an und gibt ihm die Schuld an der blödsinnigen Idee, einen Panda zu entführen. Alle außer mir und Oma. Oma ist über den Tisch geklettert, um Opa abzuknutschen, weil sie so glücklich ist, dass er doch nicht todkrank ist. Ich schaue in die aufgeschlagene Zeitung, die vor mir auf dem Tisch liegt. Es ist die Ausgabe von gestern, und da fällt mir ein, dass ich noch gar nicht nach den Lottozahlen geguckt habe.
Sie stehen direkt auf der Titelseite rechts unten und lauten drei, zwölf, fünfundzwanzig, dreiunddreißig, siebenunddreißig, neununddreißig und fünfundvierzig. Ich muss die Zahlen zwei Mal lesen. Sicherheitshalber krame ich meinen Lottoschein aus der Tasche, während sich um mich herum noch immer alle anschreien. Ich vergleiche die Zahlen eine nach der anderen, aber ich habe mich nicht geirrt. Die Zahlen in der Zeitung sind dieselben wie auf meinem Schein.
»Ich habe sechs Richtige plus Zusatzzahl«, brülle ich, so laut ich kann.
Sofort herrscht Ruhe und alle blicken mich an. Es ist das zweite Mal innerhalb von zehn Minuten, aber auch daran gewöhnt man sich.
»Hier, seht selbst.« Ich halte mit der linken Hand den Lottoschein und mit der rechten die Zeitung in die Höhe. »Damit gewinne ich eine Million, vielleicht sogar zwei Millionen Euro!«