KURZE
UNTERBRECHUNG

Ich glaube, an dieser Stelle muss ich ein bisschen was erklären. Zum Beispiel, warum unser Opa im Gefängnis sitzt. Opa sitzt im Gefängnis, weil meine Familie anders ist als andere Familien. Zumindest was ihre Berufe und Hobbys angeht. Ich glaube, das wird am deutlichsten, wenn ich von jedem ein bisschen was erzähle, und am besten fange ich dabei mit dem jüngsten Mitglied der Calzones an, meinem kleinen Bruder.

022-15891-Rocco_Person_f.psdEnrico

(Spitzname: der süße Rico) … ist acht Jahre alt und kassiert vom Hausmeister seiner Grundschule zehn Prozent aller Einnahmen des Schulkiosks. Dafür beschützt Enrico den Kiosk vor anderen Erpressern. Außer ihm gibt es an seiner Schule aber niemanden, der den Hausmeister erpressen würde. Es ist also ein ziemlich lockerer Job. Den größten Teil seiner Einnahmen lässt er sich vom Hausmeister in Bonbons oder Schokolade auszahlen. Einiges davon verkauft er zu überteuerten Preisen an den Hausmeister gleich wieder zurück, den Rest lagert er bei uns in der Garage oder futtert es selbst.

022-15891-Rocco_Person_e.psdAngelina

(Spitzname: die listige Lina)

… ist siebzehn und das Mathegenie in unserer Familie. Deswegen hängt sie auch immer über ihrem Smartphone. Sie verschickt damit keine Nachrichten wie andere Mädchen in ihrem Alter, sondern programmiert Computerprogramme. Das hat sie schon als kleines Mädchen getan und sich damit bei dem Computerspiel World of Warcraft eine Menge Sonderzauber erschwindelt. Mit ihrem aktuellen Hackerprogramm verändert sie die Preise von Online-Kaufhäusern um genau einen Cent. Das fällt niemandem auf, und den zusätzlichen Cent leitet sie auf ein Konto um, das sie auf einer Bank in der Karibik eröffnet hat. Angelina ist derzeit die Einzige in unserer Familie, die nennenswerte Gewinne erzielt. Von den Süßigkeiten meines kleinen Bruders mal abgesehen.

022-15891-Rocco_Person_d.psdRenzo

(Spitzname: Auto-Kralle)

… ist fünfundzwanzig und hat sich in seiner Jugend auf die Entführung reicher Unternehmer spezialisiert. Deswegen liest er auch immer noch den Wirtschaftsteil der Zeitung. Weil er jedoch nicht der Klügste ist, hat er sich immer Manager und Banker ausgesucht, deren Firmen fast pleite waren, sodass niemand ein Lösegeld für sie zahlen konnte oder wollte. Die Männer saßen dann oft wochenlang bei uns mit am Abendbrottisch. Wir haben sie immer gut behandelt und sogar gefüttert. Mussten wir ja auch, weil die entführten Unternehmer meistens gefesselt waren und eine Augenbinde trugen. Irgendwann hat es Mama gereicht, und sie hat Renzo vorgerechnet, dass das zusätzliche Essen für seine Gäste mehr Geld verschlingt, als er an Lösegeld jemals wieder reinholen wird. Da hat Renzo umgesattelt und sich auf kleinere Einbrüche und Autodiebstähle spezialisiert.

022-15891-Rocco_Person_b.psdMama

(Spitzname: Pinsel-Lilly)

… hat Kunst studiert. Aber das ist schon lange her. Zwei Wochen nachdem sie Papa getroffen hat, sind die beiden zusammengezogen, und Mama hat ihr Studium geschmissen. Was sie dort gelernt hat, kann sie aber heute noch brauchen. Mama ist die Einzige, die in unserem Haus ein eigenes Arbeitszimmer besitzt. Darin stellt sie Urkunden und Pässe her, die aussehen, als wären sie echt. Da merken nicht mal Polizisten den Unterschied. Manchmal kopiert sie auch berühmte Gemälde. Die verkauft sie aber nicht, sondern behält sie lieber selbst. Bei uns im Haus hängen überall wunderschöne Ölbilder von Picasso, Dali, Rubens oder Rembrandt rum. Also die sind nicht wirklich von den berühmten Malern, sondern von Mama. Das sieht man aber nicht, echt nicht. Mama hat auch dafür gesorgt, dass wir alle neue Pässe und Geburtsurkunden haben. Denn eigentlich … und das ist jetzt ein wirkliches großes Geheimnis, das auf JEDEN FALL unter uns bleiben muss … heißen wir alle Schröder. Opa fand aber, dass Calzone gefährlicher klingt, so mafiamäßig, und damit viel besser zu unserem kleinen Familienunternehmen passt.

022-15891-Rocco_Person_h.psdPapa

(Spitzname: Dynamit-Theo)

… ist bei uns der Chef – solange Opa im Gefängnis sitzt und er dieselbe Meinung hat wie Mama. Papa erzählt gerne von früher, wenn Opa ihn nachts zur Arbeit mitgenommen hat. Den Schlaf hat er dann in der Schule nachgeholt. Deswegen hat Papa auch keinen Abschluss. Aber das macht nichts. Für seinen Beruf braucht er keine Mittlere Reife oder ein Abitur, für seinen Job muss man nicht mal eine Prüfung bestehen. Alles, was er dafür braucht, hat er von Opa gelernt. Also, wie man Autos klaut, in Banken einbricht, einen Safe knackt, all so ein Zeug eben. Dynamit und Tresore sind Papas Spezialität. Letztens aber kam er morgens nach Hause und war ganz blau im Gesicht. Die Bank hatte im Safe zwischen den Geldstapeln eine Farbpatrone versteckt, die ist hochgegangen, als Papa seine Beute einstecken wollte. Da war das ganze Geld blau und Papa auch. Zwei Monate konnte er das Haus nicht verlassen, weil er die Farbe nicht abgekriegt hat. Enrico und ich fanden das schön. Da durften wir auch tagsüber im Haus rumtoben. Das ist sonst strengstens verboten, weil Papa da ja schlafen muss, weil er nachts arbeitet. Nicht so schön war, dass wir in den zwei Monaten freitags immer ohne Papa zu Opa gefahren sind.

022-15891-Rocco_Person_g.psdOma

(Spitzname: die flotte Hilde)

… war als junges Mädchen eine berühmte Taschendiebin. Die beste, die es jemals gab, schwärmt Opa noch heute. So haben sich die zwei auch kennengelernt, weil Oma ihm die Brieftasche gestohlen hatte. Die beiden haben dann sehr gelacht, als Oma gemerkt hat, dass sie einen Kollegen beklauen wollte. Ein Jahr später haben sie geheiratet, aber weil meine Oma eine moderne junge Frau war, ist sie nicht zu Hause in der Küche geblieben, sondern hat weitergearbeitet. »Wenn man ihr zur Begrüßung die Hand gegeben hat, war nachher die Uhr weg, ohne dass man es gemerkt hat«, erzählt Opa oft lachend. Oma wird dann immer ganz rot. Aus Verlegenheit oder weil ihre Finger nicht mehr ganz so flink sind wie früher. Um einem Süßigkeiten aus der Jackentasche zu klauen, reicht es aber immer noch.

022-15891-Rocco_Person_c.psdOpa

(Spitzname: Pech-Otto)

… sagt, dass schon sein Opa als Viehdieb und Straßenräuber gearbeitet hat und dass es in unserer Familie vor ganz langer Zeit sogar einen echten Raubritter gegeben hat. Angeblich soll sogar Robin Hood zu einem englischen Zweig unserer Sippe gehören, aber das halte ich für ein Märchen. Opa hat früher als junger Mann jede Menge Banken überfallen. Doch das wurde ihm mit der Zeit zu anstrengend, weil die Banken heute so gut gesichert sind und in vielen Filialen ja sowieso nur noch Automaten stehen. Denen ist das völlig egal, wenn man die anschreit: »Das ist ein Überfall! Geld oder Leben!« Deswegen hat Opa sich auf Autos verlegt. Nicht so alte Karren, wie wir eine fahren, sondern so richtig teure Luxuslimousinen. Erwischt haben sie ihn vor zehn Jahren als er ein ganz großes Ding landen wollte. Da hat er gleich einen ganzen Autotransporter geknackt, der ein Dutzend Porsche nach Hamburg transportieren sollte. Leider ist Opa in eine Polizeikontrolle geraten. Bei der Verfolgungsjagd hat er dann die Höhe einer Brücke falsch eingeschätzt und ist mit dem Laster hängen geblieben. Die Porsche waren Schrott und Opa ist ins Gefängnis gewandert. Und da sitzt er immer noch, weil es nicht das erste Mal war.

Verbrechen gehören bei uns Calzones zur Familientradition und genau das ist mein Problem. Ich bin nämlich anders als die anderen. Irgendwas ist bei mir schiefgelaufen, denn ich tue nie etwas Verbotenes. Könnte ich gar nicht. Ich gehe noch nicht mal bei Rot über die Straße, selbst wenn die Ampel kaputt ist und rechts und links kilometerweit kein einziges Auto zu sehen ist. Mir fehlt einfach das Verbrecher-Gen, das sonst alle in meiner Familie besitzen. Das muss so eine Art Mutation sein wie bei einem Albino. Die sehen ja auch anders aus als alle anderen Verwandten, weil da irgendwas in der Vererbungskette schiefgelaufen ist. Genauso geht es mir. Ich bin das schwarze oder besser weiße Schaf der Familie.

So, jetzt ist es raus.

Mein größter Traum ist es, dass kein Calzone es mehr nötig hat, ein Verbrechen zu begehen. Deswegen kaufe ich mir von meinem Taschengeld zweimal die Woche einen Lottoschein. Genau wie der Rest der Calzones auf das ganz große Ding wartet, das uns alle reich machen wird, warte ich auf den Tag, an dem mein Lottoschein gewinnt. Und der Tag wird kommen. Da bin ich mir ganz sicher.

ENDE DER KURZEN UNTERBRECHUNG