Als Pfarrer Feiler eine seiner obligatorischen Runden durch die Kirche unternehmen wollte, stand das Kirchentor bereits offen.
»Einbrecher!«, so sein erster Gedanke.
Dann der zweite: »Ich hab doch zugesperrt«,
und schließlich der dritte: »Oder nicht?«
Elendes Kurzzeitgedächtnis.
Schließlich ist er nicht mehr der Jüngste und wie seine Pfarrersköchin Luise Kappelberger längst in Rente, führt diese Pfarre also freiwillig und nur deshalb, weil hier sonst endgültig Sperrstunde wäre.
Da ist es dann wohl nicht verwerflich, wenn sein Erinnerungsvermögen die ewigen Routinen erst gar nicht mehr abspeichert. Ob seine Verdauung regelmäßig funktioniert, er könnte es nicht sagen, ebenso wenig, welcher Schwachsinn am Vortag wieder im Fernsehen lief, wie viel Gläser Rotwein er dabei getrunken hat und was ihm zuvor als Abendessen serviert wurde.
»Wie haben dir denn gestern die böhmischen Buttermilch-Dalkerln mit frischen Himbeeren und Vanilleeis geschmeckt, Ulrich?« Etwas Süßes hat es gegeben, wirklich?
»Gut waren s’, Luise!«
Er weiß es einfach nicht mehr. Wozu auch.
Dafür weiß er haargenau, welch wahrlich süße Verführung ihm seine erste und wahrscheinlich einzig große Liebe, die Königsdorfer Waltraud, stets aufgetischt hat, wenn sie ihn besuchen kam. Die Vergesslichkeit ist eben wählerisch, und manches bleibt eben ewig haften. Wie das erste Mal.
In der finstersten Ecke seiner Kirche, dort, wo der
Beichtstuhl steht, war ein Knarren zu hören. »Wer ist da!«, ging er darauf zu, da erhellte plötzlich einladend hell das flimmernde Rot des kleinen Lämpchens die Dunkelheit. Kurzum: Der Beichtstuhl hatte seinen Betrieb aufgenommen, zeigte ihm »Besetzt«, was für Pfarrer Feiler von diesem Tag an bedeuten sollte: Waltraud Königsdorfer sitzt auf der Sünderseite und wartet darauf, ihm gleich an Ort und Stelle den Grund dafür liefern zu dürfen, sich von ihren Fehltritten lossprechen lassen zu können.
Schrecklich schöne Fehltritte.
Nur beisammengesessen sind sie anfangs, jeder auf seiner Seite, haben es hinausgezögert, sich vorgelesen. Er ihr. Stellen aus dem Hohelied der Liebe zum Beispiel:
Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles!
Und auch wenn er als Pfarrer damals schon wusste, was das alles für Schmarrn ist und eine Liebe, die alles duldet, Stockholm-Syndrom genannt wird, es war trotzdem wunderschön. Vor allem ihre Texte, ihre Stimme, die reinste Erotik. Heinrich Böll zum Beispiel, Billard um halb zehn:
… das, wovon dir deine Freundinnen Gruselmärchen erzählen, werden wir nicht im Schlafzimmer tun, sondern im Freien: Du sollst den Himmel über dir sehen. Blätter oder Gräser sollen dir ins Gesicht fallen, du sollst den Geruch
eines Herbstabends schmecken und nicht das Gefühl haben, an einer widerwärtigen Turnübung teilzunehmen, zu der du verpflichtet bist; du sollst herbstliches Gras riechen, wir werden im Sand liegen, unten am Flussufer, zwischen den Weidenbüschen … Wir werden keinen blutigen Ernst draus machen, obwohl’s natürlich ernst und blutig ist …
Irgendwann ist es dann erstmals geschehen.
Danach immer wieder.
Bis die Königsdorfer Waltraud ging, zwischendurch unter anderem die Traude Hanslbauer, spätere verheiratete Grubmüller, kam, und sogar verheiratet kam sie noch, ja, und irgendwann nahm die Reise bei Luise Kappelberger ihr Ende. Heilfroh ist er, sein eigener Beichtvater sein zu dürfen.
»Dann muss die Luise in Zukunft eben kontrollieren gehen!«, betritt er nun also seine Kirche und nimmt die obligate Morgenrunde trotzdem äußerst vorsichtig in Angriff.
Aufmerksam lässt Pfarrer Feiler zuerst das große Weihwasserbecken, dann den Beichtstuhl, den Treppenaufgang hinauf zur Empore mitsamt Orgel hinter sich und geht auf den Altar zu. Jeden Namen kennt er, der links und rechts an den Holzbänken auf kleinen ovalen Messingschildern zu finden ist.
Die Birngrubers und Grubmüllers, Hanslbauer und Schuster, Holzinger, Huber, Absamer, Bruckner, Königsdorfer, Praxmoser und wie sie sonst noch alle heißen. Manche mittlerweile ausgestorben: die Pointners, Gschwandtners, Lugner. Um eine Sitzgelegenheit muss sich hier also keiner mehr streiten, weder zu Weihnachten noch Ostern. Ruhig liegt das Kirchenschiff in Gottes Hafen, und so viel Segel kann der katholische Dreimaster bestehend aus Vater, Sohn und Heiliger Geist gar nicht
setzen, um in der aktuellen Flaute auch nur irgendwie in Fahrt zu kommen. Selbst hier in Glaubenthal gleichen die Besucherzahlen der Sonntagsmesse mittlerweile den Zulaufzahlen ehemaliger Großparteien.
Die Welt verändert sich.
Ständig.
So auch genau in diesem Augenblick.
Denn da kennt Ulrich Feiler seine Pfarrkirche gut genug, um zu wissen: Hausgeist hat er keinen, maximal den Heiligen, und der steinerne, von Holzpfeilen durchbohrte Sebastian wird ihm da jetzt wohl auch nicht grad, kaum hörbar, in den Rücken räuspern. Schneller, als es die untere Hälfte seiner Soutane erlaubt, kehrt er sich um. Wie der Rock einer Tänzerin dreht sich der Saum hinterher, lässt die für einen Moment bloßgestellten behaarten Unterschenkel wieder verschwinden.
»Hallo!«
Nichts zu sehen. Nur der leere, düstre Gang.
Und nein: Auch der Beichtstuhl knarrt nicht von allein.
Logisch kommt Pfarrer Feiler der Gedanke, es könnte, wie schon des Öfteren, ein versprengtes Schäflein der Stammtischrunde den Heimweg nicht mehr gefunden und in Ermangelung eines Taxistandes diese kleine Holzkammer mit einer Kutsche verwechselt haben. Oder Zeitmaschine, Raumkapsel, Peepshow, was auch immer. Alles schon erlebt. Nur ist da weder ein Stöhnen durch den dicken Filzvorhang heraus zu hören noch ein Schnarchen oder Gelalle: »Scotty, beam mich hoch!«, »Kitt, hol mich hier raus!« Nichts. Nur Stille. Und auch die hat er in seinem Beichtstuhl schon oft erlebt, endgültig sogar. Mit Theodora, der Ehefrau des Dorfältesten Alfred Eselböck.
Und nun hört er es wieder. Dieses Schluchzen.
Dazu das angehende rote Licht. Besuch auf der Sünderseite.
Da fährt ihm jetzt natürlich ein wenig der Schauer über den Rücken, läge ihm fast ein »Waltraud!« auf den Lippen. »Blödsinn!«, flüstert er. Jemand will sein Herz erleichtern, das ist alles.
»Wer ist da?«
Vorsichtig öffnet Ulrich Feiler den schweren Filzvorhang, schiebt den Kopf ins Dunkel, um sich umgehend zu bekreuzigen. Nur Elend, Schmerz, Tränen.
»Was machst du hier, um Gottes willen!«
»Wie haben dir denn gestern die böhmischen Buttermilch-Dalkerln mit frischen Himbeeren und Vanilleeis geschmeckt, Ulrich?«
»Verdammt, Luise, was willst du hier?«
»Beichten, Ulrich?«
»Hier? Du hockst ja eh jeden Tag mit mir im Wohnzimmer, da können wir doch reden!«
»Da hörst du mir aber nie zu! Und ich glaub, das zahlt sich aus!«
»Wieso?«
»Weil die Helga verschwunden ist!«