26 Der Hammer
Als Pepi Straubinger an diesem letzten Schultag den Schulbus in die Garage manövrierte, um danach in die Ferien zu gehen, war sein Stofftaschentuch bereits pitschnass.
»Die Hitze, der Schweiß!«, würde er sagen, sollte ihn zufällig jemand ansprechen.
Und jetzt, wo dem eingeschäumten Bus selbst an allen Ecken und Enden das trüb gefärbte Wasser herabläuft, als würde er mit seinem Lenker solidarisch bittere Tränen vergießen, spürt Pepi Straubinger bereits diesen ersten Hauch der eisigen Kälte, derer er sich Jahr für Jahr trotz der wärmsten Jahreszeit nicht erwehren kann. Die Erstarrung eines Winterschlafes inmitten des Sommers, das gelingt nur ihm. Vielleicht schafft er es damit ja eines Tags noch ins Buch der Rekorde, die Heilige Schrift der wahren menschlichen Natur. Überschwemmt mit Leseexemplaren müsste er werden, der Weltraum, bis hinein in die unendlichen Weiten, selbst einem Klingonen vergeht da blitzartig vor lauter Grausen das Ansinnen, die Erde erobern zu wollen. Nur die Kinder freuen sich, wenn es dann unter dem Weihnachtsbaum liegt und sie endlich in den Sommerferien genug Zeit haben, sich das längste Nasenhaar, den größten Speichelpatzen, das fetteste Furunkel genauer anzusehen. Und ja, vielleicht ist dann eines Tages er mittendrin: »Schau, der Herr Pepi, unser Busfahrer, das ist der einzige Mensch auf dem Planeten, der im Sommer einen Winterschlaf macht!«
Schön wäre das, so ein Eintrag. Vielleicht würde man an ihn denken, ihn sogar besuchen kommen.
Wird nur leider alles nicht passieren.
Demzufolge verändert sich nun sein Wesen, als würde ein Clown nach Ende der Vorstellung in seiner kleinen Garderobe die Schminke entfernen.
Die ganze Traurigkeit entblättert,
ihre Belachbarkeit abgestreift,
übrig geblieben,
ohne Applaus.
Sommer muss es werden, Jahr für Jahr, um Pepi Straubinger sein Alter spüren zu lassen. Denn so schnell er sonst auch unterwegs ist, sich von dem »Dalli, dalli, Herr Pepi, dalli!« seiner Passagiere antreiben lässt, ihnen dabei jeden Wunsch erfüllt: »Das schaffen Sie nie, Herr Pepi, sich während der Fahrt ein M&M in den Mund zu werfen!«, »Das schaffen Sie nie, Herr Pepi, den Jakob vom Traktor direkt in den Bus steigen zu lassen, ohne dass sein Papa stehen bleiben muss«, so langsam wird er an diesem letzten Schultag während seiner Heimfahrt. Jedes Jahr ein kleines Sterben. Und jetzt ist auch noch die Uschi tot.
Er hat sie geliebt.
Auch Pepi ist für das Sägewerk Königsdorfer Lastwagen gefahren, hat damals bereits die Uschi verehrt, als sie noch im Sekretariat ihrer Eltern Severin Praxmoser und Waltraud Königsdorfer tätig war. Bis dann das Sägewerk geschlossen, aus Pepi ein Schulbusfahrer, aus Uschi Kosmetikerin wurde.
Uschi war damals die Einzige, die sich gefreut hat zu erfahren: »Dann bist du ja mein Halbbruder. Gut, dass wir nie …«
»Gut, aber auch schade irgendwie!«
Ja, er hat die Uschi geliebt.
Und zwar aufrichtig, nicht so verlogen wie all die anderen. Hat gesehen, wie schwach sie ist, ausgeliefert, auch sich selbst, verletzlich, am Ende sogar gebrochen. Und schwache Tiere suchen und erlegen nur die Raubtiere. Bis auf den hatscherten Herrenausstatter Engelbert war jeder ihrer Männer ein Dreckschwein.
»Willst du dir keine Frau suchen, Pepi?«, hat sie ihn einmal gefragt.
»Ich hab ja eh schon Kinder!«, so seine Antwort. »Einen ganzen Bus voll!« Keinen schöneren Beruf könnte er sich vorstellen.
Die Bauernhöfe der Umgebung anfahren, den ganzen Haufen einsteigen lassen, jedem einzelnen Fahrgast die Stufe hinein in seinen Bus bereits ansehen, ob es gerad schwere, aber gute Zeiten sind zu Hause, oder leichte, aber schlechte.
Und sie stets mit der gleichen Begrüßung willkommen heißen.
Manche verdrehen genervt die Augen, atmen tief dabei aus, dieses stumme: »Nicht schon wieder!«, »Fällt Ihnen nichts anderes ein!«, manche lachen einfach nur, ja, und einige sprechen mit:
Ruhe, ihr Rotzpipn, ihr elendiglichen. Aber dalli, dalli.
Oder:
Einsteigen, hinhocken und Mund zu, ihr Rotzpipn und seit Neuestem auch -pipinnen. Aber dalli, dalli!
Der fünfzehnjährige Xaver Wurm zum Beispiel. Kaum eingestiegen, klopft er Pepi auf die Schulter: »Dalli, dalli, Herr Pepi, dalli, dalli!«, wartet, bis dieser mit den Worten »Lies, du Depp!« die Hand hebt, auf das Schild über sich deutet, worauf sich Xaver umdreht, in den Innenraum blickt, gleich einem Dirigenten die Arme hebt, und wie im Chor setzen die anwesenden Kinderstimmen ein.
»Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen!«, klingt es dann durch den Bus, und dem Straubinger Pepi zieht es die Mundwinkel empor.
Sogar seine Nichte, die Grubmüller Helga, die immer allein in Reihe sieben, ans Fenster gepresst, sitzt, hat er dabei schon einmal schmunzeln gesehen, ganz heimlich, versteckt hinter ihren stets vorgezogenen Schultern, ihrer Jerseymütze und über die Stirn hängenden Haaren. So zerbrechlich sieht sie aus, und heute, am Zeugnistag, war sie nicht eingestiegen!
Kinder, die weiche Masse, in deren Oberflächen die Stempel ihrer Mitmenschen, Eltern, Lehrer, Mitschüler Abdrücke hinterlassen. Oft unübersehbar.
Ausgeliefert.
Wehrlos.
Aber nicht mit ihm. Pepi Straubinger.
Denn links neben dem Fahrersitz liegt dem Straubinger Pepi sein schwerer Vorschlaghammer. Für alle Fälle. Falls ihm wieder einmal versehentlich ein Besoffener einsteigen will: »Is sas nich der Pohostbus nach Sahahankt Ursula!?« Falls er von einem akut vor die Tür gesetzten Ehebrecher überfallen wird: »Lukas, steig aus, du fährst jetzt nicht heim zu Mama, sondern kommst mit mir!« Alles schon erlebt. Sogar von innen musste er mit seinem Hammer bereits die Fenster einschlagen, weil ihm in der Station drüben beim Hanslbauer eine herabstürzende Dachlawine die komplette, zum Glück noch geschlossene Türe verschüttet hatte. Wenn da gleichzeitig eines seiner Kinder ausgestiegen wäre, der Hanslbauer hätte einen zertrümmerten Schädel. Den Wutausbruch vor seiner Haustür jedenfalls wird er sein Lebtag nicht mehr vergessen, seither hat er die saubersten Dächer wahrscheinlich im ganzen Land.
Ja, und letzten Frühling, kurz vor Beginn der Osterferien, ist er mit seinem Hammer sogar ausgestiegen und ein Stück marschiert. Direkt vor der Einfahrt hinunter in den Glaubenthaler Graben zu den Grubmüllers hat er den Schulbus geparkt, seine Kinder angewiesen: »Warten und nix anrühren!« Und wenn er eines weiß, dann, wie sehr er sich im Ernstfall auf den Haufen verlassen kann.
»Und jetzt komm!«
Bis zur Haustüre hat er seine Nichte, die Grubmüller Helga, begleitet, ihre bereits schon in der Früh geschwollene rechte Gesichtshälfte betrachtet, noch einmal nachgefragt: »Und das sind wirklich Zahnschmerzen? So wie dein blaues Auge vor drei Wochen eine Küchenkasteltür war!«
Ihr langsames Nicken, der immer schleppender werdende Schritt, je näher der Hof kam, waren ihm Antwort genug.
Laut, sein Klopfen.
Zähe Sekunden des Wartens, bis endlich ihre Mutter im Vorzimmer stand. Seine Halbschwester.
»Grüß dich, Anita!«
»Pepi, was willst du hier?«
Das wusste er schon, wie sehr sie ihn verachtet, als wäre es seine Schuld, von ihrem Vater gezeugt worden zu sein. Nur Ablehnung hat sie ihm stets entgegengebracht. Auf Davids Beerdigung, wo er mit Bürgermeister Stadlmüller, dem Schusterbauern und seinem Schwager Ulrich Grubmüller sogar den Sarg getragen hat, war sie kaum fähig, ihm ins Gesicht zu sehen.
»Ist der Ulrich da? Oder der Adam?«
»Was ist los?«
»Gute Frage!«, deutete er auf Helga, die wie ein Schatten die Wand entlang im Haus verschwand.
»Also: Ist der Ulrich da? Oder der Adam?«
Besonders seinen Schwager, den Schweinebauern Ulrich Grubmüller, kennt er bestens. Zwei seiner Backenzähne hat diese Ausgeburt der Hölle jedenfalls vorm Tankstellenimbiss Pittner verloren, das weiß der Pepi haargenau, und die Monika Pittner ist ihm heut noch dankbar dafür.
Anita Grubmüller brachte kein Wort heraus.
Und, nein, an Pepi Straubingers Erscheinungsbild allein wird das garantiert nicht gelegen haben. Und das hat es in sich: kahlköpfig, gertenschlank, trainiert, mit Kurzarmshirt, sehnig die daraus herausragenden tätowierten Arme, einer grünen Jägerhose mit breiten Oberschenkeltaschen und Schnürschuhen.
»Wer ist da?«, kam es grob aus einem der hinteren Räume.
»Ich. Der Straubinger Josef!«
»Lass uns allein, Frau!«, betrat Ulrich Grubmüller das Vorzimmer.
»Was willst?«
Einfach nur auf sich zukommen lassen hat er den Schweinebauern – »Was du willst, hab ich dich g’fragt, Straubinger«. Abgewartet, bis er vor ihm stand, dabei ganz leicht nur den Vorschlaghammer schwingen lassen, sanft das Schleifen des schweren Eisenkopfes über den sandigen Boden, gst, gst, gst, und seelenruhig gemeint: »Nur zur Information, Grubmüller. Beim nächsten Mal, wenn die Helga wieder solche Zahnschmerzen hat, dann denk an mich. Wie du ja weißt, kenn ich einen guten Spezialisten!«
Tage später kam ihm dann nach langer Zeit wieder Helgas Schmunzeln zu Gesicht, dank Xaver Wurm.
»Dalli, dalli, Herr Pepi, dalli, dalli!«
»Lies, du Depp!«
»Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen!«
»Und jetzt hock dich, ab heute fix in die siebte Reihe! Kapiert?«
»Jawohl, Herr Pepi!«
Er liebt seinen Beruf.
Wer verdammt noch mal braucht durchgehend so lange Sommerferien? Die Eltern nicht, die Kinder schon gar nicht, und er am allerwenigsten.
Heute aber war Helgas Sitzplatz leer, ist ihr Zeugnis also in der Schule geblieben. Warum? Aus Traurigkeit, weil ihr Großvater, diese Ausgeburt des Bösen, endlich tot ist? Aus Mitgefühl, weil sich ihr Halbbruder Adam nach seinem Ache-Sprung leider nur einen Gipshaxen geholt hat? Es muss ihr doch endlich herrlich gehen. Vor allem jetzt, wo auch ihr Vater in die Hölle abgefahren ist. Wenn einem all das, an einem solch düsteren Tag, nicht wenigstens ein kleiner Trost sein darf, was dann?