»Nein, nein. Bitte nicht!«
Nur noch Panik. Angst. Blinde Verzweiflung.
Helga Grubmüller lässt fast alles liegen, greift nach ihrem Telefon, stolpert ins Freie, lässt sogar Tante Lotte stehen. Nur noch davon. Der gelbe Regenmantel von ihren Beinen ein Stück mitgezerrt, der weiße Wollhaufen, nun ausgebreitet, als Bart erkennbar, die hautfarbene Kopfbedeckung eine Perücke.
Eine haarlose Perücke.
»Helga!«, ruft ihr die alte Huber noch hinterher, hört ihr »Nein, nein, was mach ich jetzt, was mach ich jetzt …«.
»Helga, bitte, so warte doch! Es bringt doch nichts. Davonzulaufen!«
Das Pferd nervös, der Kopf hochgestreckt, ein Tänzeln.
»Brrr, Lotte. Brav, brav!«
Sportarten gibt es, diese auszuüben ist ab einem gewissen Alter ähnlich schlau, wie einen Zweijährigen Fallschirmspringen zu lassen.
Gut, manches ist in den Augen der alten Huber sowieso immer grenzdebil. Paragleiten zum Beispiel. Wer sich da auf einem Hochspannungsmast ungünstig einschwingt, auf Maibäumen aufspießt, zufällig in den Kampfhundezwinger eines Neonazis purzelt oder als Nichtschwimmer einen Baggersee erwischt, um den ist’s nicht schad.
»Na dann los, Lotte. Aber langsam!«
Kurzum: »Reiten muss ich wirklich nicht mehr!«, hat die alte Huber schon vor zehn Jahren beschlossen. Und jetzt das.
Was bleibt ihr auch andres übrig. Ihren Gehstock als Gerte getragen, unbenutzt natürlich.
»Langsam, Lotte, bitte, langsam!« Nein, klug ist das nicht.
Wobei: Sie kann es noch, muss zwar gewaltig aufpassen, die etwas zu langen Steigbügel nicht zu verlieren, und auch den Oberschenkeldruck betreffend gab es Zeiten, da war dieser Oberschenkeldruck sogar für das Pferd als Druck erkennbar. Ansonsten aber sitzt die alte Huber recht passabel im Sattel, selbstbewusst sogar. Kein Wunder.
Sogar Springreiten hat sie betrieben, die gute Hannelore, sich auf ihrem damaligen Haflinger Eukalyptus – der leider schon so gerufen wurde, wie ihm als Dreijähriger sein Herr, der alte Hammerschmied, weggestorben ist – zwar nur stets vor dem gleichen Baumstamm mit demselben Herzklopfen aus dem Sattel gedrückt, lachhaft eigentlich, aber das Gefühl nach dem Abheben und vor der Landung war jedes Mal, als würde sie für drei Sekunden federleicht dem Himmel näher sein als dieser Erde – und richtig geflogen ist sie bis heute nicht. Aber wer weiß.
Schrill der Pfiff.
Lang gezogen.
Severin Praxmoser verlangt nach seinem Pferd.
Tante Lotte also spitzt die Ohren, schwingt ihre Hufe, und hätte die alte Huber den Glauben, ein Stoßgebet könnte nützlich sein, würde sie jetzt wohl den Rosenkranz anstimmen.
»Ja spinnst. Brrr! Halt!« Alles versucht sie, zieht an den Zügeln, so stark sie kann. Doch keine Chance. Wenn der Mechanismus stimmt, dreht auf Kommando eben nicht nur der Mensch, sondern sogar ein Tier das Hirn komplett ab, wird zum geistlosen Wesen, jedem Befehl hörig, und sei er noch so bestialisch.
Und die alte Huber kämpft ums Überleben.
Nur nicht fallen. Nur nicht fallen. Ist in ihrem Alter ja ohnedies schon zu Fuß mit 4 km/h kein Spaß, aber hoch zu Ross im fliegenden Galopp.
Und gewiss gab es Zeiten, da war der guten Hannelore durchaus bewusst, um wie viel leichter als das Traben der Galopp wird – wenn man’s kann. Und sie bemüht sich. Möglicherweise sieht sie ja aus weiter Ferne, mit ihrem transparenten Regenponcho, dem darunter so verschwommen, ja direkt elegant herausschimmernden lila Arbeitskittel-Kleid mit rot-grünem Blumenmuster, dem flatternden Kopftuch und Gummistiefeln ein wenig aus wie die englische Königin. Nur nutzt ihr das leider wenig.
Zügig rücken die Felswände zu beiden Seiten immer weiter auseinander, setzt wieder Wald ein, wenn auch nur für ein kurzes Stück, denn nicht weit entfernt schimmert bereits der Holzturm des einstigen Sägewerks Königsdorfer durch die Äste.
Dann geht es hinaus, direkt auf den Anlieferungsplatz.
Sie war erst einmal hier. Vor fünf Jahren. Als die Gedenkstätte der an dieser Stelle ums Leben gekommenen Waltraud Königsdorfer enthüllt wurde.
Und Tante Lotte beschleunigt, wodurch der alten Huber noch Übleres schwant, als sie ohnedies grad erleben muss. Der immer noch herabfallende Regen hat jetzt schon ganze Arbeit geleistet und zwischen all den vielen ungeordnet herumliegenden Baumstämmen kleine Becken angelegt.
Und mittendurch läuft sie: das jüngste Mitglied der Familie Grubmüller.
»So warte doch!«
Helga dreht sich um. Zu ihrer Verzweiflung hat sich Zorn gemischt, Verbitterung: »Geh weg von mir, von hier, geh einfach weg!«
»Helga. Ich bitte dich!«
»Warum bist du nicht einfach zu Hause geblieben, Frau Huber? Warum? Du hättest nicht herkommen dürfen. Niemals, niemals!«, bricht ihr die Stimme weg.
Und Tante Lotte läuft und läuft. Immer näher kommen all die lose liegenden Stämme, die Pfützen.
Ein »Halt, Lotte, halt!« ringt sich die gute Hannelore noch ab, krallt sich an der Mähne fest: »Ich fleh dich an!«
Und diese Bitte wirkt.
»Steh!«, kommt es mit lautem, strengem Wort aus Helgas Mund, das »E« lang gezogen, fast wie ein »Ö«, so als würde die Grubmüller Anita nach ihrer Tochter rufen: »Höööl!«
Und tatsächlich.
Ob es jetzt ein Meter oder drei oder fünf vor dem ersten zu überspringenden Baumstamm sind, ist belanglos, Hauptsache, Tante Lotte hält an.
»Meine Güte, Helga!«, steigt die alte Huber nun behäbig ab, und zu behaupten, die bereits eingenommene Stadlmüller-Schmerztablette könnte sich um alles kümmern, wäre gelogen. Die Arme, die Hände, die Oberschenkel; den Nacken, den Rücken, den Hintern. Alles spürt sie.
Und das Herz.
In vielerlei Hinsicht.
»Helga, ich weiß nicht, was da Schreckliches vor sich geht, aber ich versprech dir so gut ich kann zu helfen!«
»Niemand kann mir helfen, niemand! Und auch dir nicht, wenn du nicht gehst!«, führt sie ihre rechte Hand an die Lippen. Und da ist er wieder. Dieser lang gezogene, schrille Pfiff des Severin Praxmoser, nur eben aus Helgas Mund.
So stark wirkt dieses Mädchen, wie es sich nun in Tante Lottes Sattel hochzieht, so erhaben. Pippi Langstrumpf auf
ihrem Kleinen Onkel. Und doch rutschen ihr die Füße aus den glitschigen Steigeisen, kommt all ihre Kraftlosigkeit zum Vorschein, ungeschminkt. Kein Make-up, kein Puder. Nichts. Nur ihr offenes Gesicht. Die neben ihrem Nasenrücken wie die Flügel eines Schmetterlings sich ausbreitenden weißen Flecken, bis hinauf zum Haaransatz ziehen sie sich, dort, wo für gewöhnlich die Jerseymütze sitzt, wie ihre zweite Haut. Dazu die Spuren der Gewalt, der Schläge.
»Helga, jeder kann dir helfen, und zuallererst du!«
»Lauf weg, Frau Huber! Bitte. Ich weiß nicht, was sonst als Nächstes passiert.«
»Ach, mein Kind!«, zwingt sich die gute Hannelore ein Lächeln auf. »Jetzt bin ich doch grad erst angekommen! Außerdem lauf ich doch nicht mehr weg, in meinem Alter. Wo soll das denn auch schon groß hinführen.«
Der Himmel zeigt kein Erbarmen. Entleert sich weiter und weiter. Darunter zwei, die im Regen stehen und beide nicht recht wissen wohin.
»Du kannst doch reden mit mir, Helga. Was ist denn da los und vor allem warum?« Und mehr als die nun folgende Antwort braucht die alte Huber gar nicht zu hören, um zu wissen, in welch fast aussichtsloser Lage dieses Mädchen steckt. Worte, die ein Gefühl vermitteln sollen. Von Generation zu Generation zu Generation frisst es sich wie ein Parasit so lange durch seinen Wirt, bis dieser stirbt.
»Es passiert alles nur meinetwegen!«
»Deinetwegen? All die Toten?«
Schuld. Eine Wertanlage, die erst durch den Wertverlust des anderen Gewinn bringt.
Schuld. Eine Überweisung mit dem Ziel, aus dem Haben ein Soll werden zu lassen.
Schuld. Ein dunkler, schwerer Barren ohne Glanz in dem Schließfach eines Lebens. Und niemals wurde dieses Leben je gefragt, als Bank zur Verfügung stehen zu wollen.
Jede Währung erlaubt. Die Möglichkeiten schier unendlich.
Das Räuspern, Kopfschütteln, Naserümpfen,
Getuschel, Köpfe-Zusammenstecken, Moralisieren,
Ausformulieren irgendwelcher Erwartungen, Kundgeben der eigenen Enttäuschung, die Bestrafung durch Schweigen und rohe Gewalt.
»Wenn du einmal Menschen in deiner Umgebung hast, Hannerl, meistens in deiner Familie, die für ihre eigene Kraft deine Schwäche brauchen, die dich nur mit ihrer Anwesenheit schon zu Boden drücken, wie Ringkämpfer, dann schau, dass du davonkommst, so schnell es geht!« Er war ein guter Mensch, ihr Vater.
»Helga, wirf d…!«
»Verstehst du denn nicht!«, unterbricht Helga Grubmüller, greift dabei in ihre Hosentasche, führt neuerlich ihre Hand an den Mund, lässt mit nur noch schwachem Atem die fallende große, die aufsteigende kleine Terz und anschließende kleine Sekunde über den Rundplatz des Sägewerks erklingen, Ennio Morricone, das Lied vom Tod,
schleudert die Mundharmonika in hohem Bogen Richtung Turm und reitet davon.
»Wirf doch dein Leben nicht weg, was hast du sonst auch!«, flüstert ihr die alte Huber noch hinterher.
Dann sieht sie ihn.
Severin Praxmoser.