Im Sommer 1958 sah ich zum Dach des Senate House hinauf und grübelte darüber nach, wie sie es wohl geschafft hatten, den Transporter da hinaufzubefördern. Ein typischer Cambridge-Studentenstreich. Zum damaligen Zeitpunkt war er natürlich schon wieder verschwunden, aber es hatte fast eine Woche gedauert, und am Ende mussten sie ihn auseinandernehmen und in Einzelteilen nach unten bringen. Eigentlich schade – irgendwie hatte es mir gefallen, wie er dort oben auf dem First balancierte. Wenn so etwas möglich war, schien alles möglich zu sein.
Ich war jetzt stolze Hochschulabsolventin, arbeitete als Archivarin in der Bibliothek der altsprachlichen Fakultät und fragte mich, was ich als Nächstes tun sollte. Anders als bei meinen Altersgenossinnen übte in meiner Familie nun, da ich meinen Abschluss hatte, niemand Druck auf mich aus, endlich zu heiraten. Henry war damit beschäftigt, Karriere in der Politik zu machen, und Mama hätte mir eher geraten, mir einen Tiger als Haustier zu halten, als mir einen Ehemann zu suchen. Als junges Mädchen war meine Mutter – damals noch Lena Schorel – aus dem Haus geschlichen, um sich eine Rede von Sylvia Pankhurst anzuhören, und war frustriert, als der Erste Weltkrieg ausbrach, weil er ihrer noch jungen Laufbahn als Suffragette ein abruptes Ende setzte. Als die Frauen endlich das Wahlrecht bekamen, war sie sogar etwas enttäuscht, weil sie es so genossen hatte, für eine gerechte Sache zu kämpfen.
Weder mein Bruder noch meine Mutter interessierten sich also für meinen Familienstand, und da ich sonst praktisch keine Angehörigen hatte, war ich mir selbst überlassen. Vielleicht hätte mein Vater ein Wörtchen mitgeredet, aber William Jameson gehörte zu den Opfern des Zweiten Weltkriegs, und wir sprachen nur selten von ihm, weil der Verlust ein zu heikles Thema war. Fa-Fa war kurz nach Kriegsende gestorben; als er eines Morgens Tabak kaufen ging, fiel er auf der Straße um wie ein Baum. Das hätte ihm gefallen – ein sauberer Tod, ohne großes Aufhebens. Jette hatte sich danach sogar noch weiter in sich zurückgezogen, und als sie, kurz nachdem ich nach Cambridge gegangen war, in aller Stille verstarb, fiel es kaum jemandem auf. Vielleicht waren wir da schon zu sehr an den Tod gewöhnt. Tante Sibby kümmerte sich nur um ihre Tiere, und so übernahm meine Mutter ihr Elternhaus in Lancaster Villas und machte es zu einer Art Basiscamp für diverse Aktivistinnen. Wäre ich dorthin zurückgegangen, hätte sie mich garantiert für eins ihrer Anliegen eingespannt.
Was also tun? Ich wusste es weiterhin nicht, als ich an einem Augustabend, nachdenklich einen Stapel Bücher an die Brust gepresst, die King’s Parade hinunterging. Im nächsten Moment sah ich Leo Carmichael auf mich zukommen, sein goldenes Haar glänzte in der Sonne, und mich durchfuhr die Erkenntnis, dass er alles war, was ich je gewollt hatte. Für eine Sekunde wurde ich von der Flut der Erinnerungen überwältigt, mir wurde schwindelig, und ich schwankte. Meine Mutter, die im Wohnzimmer flüsterte; das kalte, grelle Licht; wie ich im Bett lag, an die Decke starrte und die trocken gewordenen Sandwiches ignorierte. Er durfte nichts davon wissen, durfte nie erfahren, wie viel mir all das bedeutet hatte. Ich presste die Bücher fester an mich, wappnete mich und versuchte, unbeteiligt und gleichgültig zu wirken. Als er näher kam, dachte ich kurz, er würde mich nicht einmal erkennen, aber dann hellte sich sein Gesicht auf, und er lächelte, anscheinend ehrlich erfreut.
»Milly!«, sagte er, packte meine Hand und schüttelte sie enthusiastisch. Natürlich ließ ich die Bücher fallen, und wir verbrachten die nächsten Minuten damit, sie aufzusammeln. Anschließend waren meine Haare zerzaust, und ich war vor Anstrengung und Verlegenheit ganz außer Atem.
»Möchtest du was trinken gehen?«, fragte er und deutete in Richtung Fluss.
Ich wollte auf keinen Fall übereifrig wirken – sollte er ruhig glauben, ich hätte öfter Verabredungen, würde interessante Partys mit interessierten Partygästen besuchen.
»Ja, gern.«
Er nahm meine Bücher, und wir gingen zusammen zum The Anchor, ein Lieblingstreffpunkt der Studenten. Als wir uns dem River Cam näherten, war ich mir schmerzlich meines Zustands bewusst – dass mein rechter Schuh am kleinen Zeh drückte, dass mir ein Schweißtropfen den Nacken hinunterlief und dass ich immer noch außer Atem war. Ich sah zum Queens’ College hinüber, wo die Kahnfahrer vorsichtig ihre Stecken unter der Mathematical Bridge hindurchmanövrierten. Der Legende nach war sie von Sir Isaac Newton entworfen und anfangs ohne jegliche Verbindung zwischen den Fugen gebaut worden. Dann, so hieß es, hatte eine Gruppe von Studenten sie auseinandergenommen, konnte sie aber nicht wieder zusammensetzen, sodass sie mit Muttern und Bolzen verschraubt werden musste. Das stimmte natürlich nicht, aber die Vorstellung gefiel mir. Auf ähnliche Art würde ich auch meine und Leos Beziehung mit ein paar Muttern und Bolzen sichern. Und vor allen Dingen durfte er nie erfahren, wie viel Wasser seitdem unter unserer Brücke hindurchgeflossen war.
In jenem Sommer gab ich mir alle Mühe, eine Frau darzustellen, die erobert werden musste. Wenn wir etwas trinken gingen, brach ich früh wieder auf, mit der Erklärung, es hieße, ein paar Studenten hätten einen Spitfire in den Trinity Great Court geschleppt. Als er mich einlud, mir mit ihm Zwei Städte im Kino anzusehen, erklärte ich, ich könnte Dirk Bogarde nicht leiden. Als er mich fragte, ob ich mit zu einer Vorlesung von F. R. Leavis gehen wolle, sagte ich zu, sorgte aber dafür, dass wir auf dem Weg mehreren Bekannten über den Weg liefen, mit denen ich unbedingt sprechen musste. Ich ließ ihn warten.
Warum all diese Verschleierungstaktiken? Ich spürte instinktiv, dass Leo, der selbst so direkt und geradeheraus war, diese Eigenschaften an anderen nicht bewunderte. Er mochte es, wenn jemand mit List handelte, ihn verunsicherte. Er mochte das schwer zu Fassende. Und so wurde ich genau das. Kurz vor Weihnachten machte er mir einen Antrag, hinterließ einen Ring in einer Ausgabe der Odyssee, mit der kleinen Nachricht, dass für mein Antlitz ebenfalls tausend Schiffe in See stechen würden, obwohl ich mich eher wie das trojanische Pferd fühlte als wie die schöne Helena. Er lungerte im Türrahmen herum und sah zu, wie ich das Buch aufschlug, ein schiefes Grinsen im Gesicht und eine Sektflasche in der Hand. »Was meinst du?«, sagte er und hielt mir die Flasche hin, während ich mich zusammenreißen musste, um nicht in Tränen auszubrechen. Wir heirateten an einem trockenen, kühlen Tag im Januar – auf dem Foto, das Tristan vor der Kapelle des King’s College machte, war ich bereits schwanger, obwohl ich es damals noch nicht wusste. Alea iacta est.
Und wo lag bei alldem das Problem? Der Fehler in meinem Plan? Nachdem ich einen Ring am Finger hatte, ein Baby im Bauch und das kleine Haus am Jesus Green … wann konnte ich mich endlich entspannen, die Muttern und Bolzen herausziehen und sehen, ob es dennoch hielt?
Nie. Nachdem ich ihn so gezielt an mich gebunden hatte, konnte ich nie mehr loslassen; ich musste an ihm festhalten.