Ich hatte mich bereit erklärt, am Silvesterabend auf Decca und Nancy aufzupassen, die Angst vor dem Feuerwerk hatten, weil Sylvie zu einer Party in Maida Vale gehen wollte. Die Aussicht, diesen Abend allein zu verbringen, machte mir nicht besonders zu schaffen, ich war sowieso immer der Meinung gewesen, dass Silvester überbewertet wird – zu viel Erwartungsdruck, ganz zu schweigen davon, unbedingt bis Mitternacht wach bleiben zu müssen.
Ich war damit zufrieden, einfach nur mit den Hunden auf dem Sofa zu sitzen, fernzusehen und die Shepherd’s Pie zu essen, die Sylvie als Dankeschön mitgebracht hatte. Alle schienen froh zu sein, dass das alte Jahr zu Ende war, als würden sich all die schrecklichen Dinge, die auf der Welt geschehen waren, Schlag zwölf in Luft auflösen. Für mich persönlich waren es alles in allem so glückliche Monate gewesen, dass ich mich lieber nicht von ihnen trennen wollte. Vielleicht konnte ich, wenn ich um Mitternacht schlief, etwas von diesem Zauber mit ins neue Jahr nehmen.
Abends, als ich gerade die Hunde fütterte und abräumte, klopfte jemand an der Tür, was Bobby in die übliche Raserei versetzte, zu der Nancy und Decca die Begleitung lieferten. Angela stand vor der Tür. Sie sah dünn und blass aus, trug die Haare zu einem unordentlichen Knoten gebunden und hatte eine nach Essig riechende Tüte dabei.
»Hast du was dagegen, wenn ich die bei dir esse? Meine Mutter ist mit mir nach London gekommen, und sie treibt mich in den Wahnsinn. Ich hab die ganze Milch in den Ausguss geschüttet, nur damit ich welche kaufen gehen kann. Mam muss das alte Jahr, und alles andere auch, unbedingt mit einer Tasse Tee verabschieden. Kann ich reinkommen?«
»Natürlich.« Ich trat beiseite, um sie hereinzulassen, und sie folgte mir in die Küche, wo ich weiter das Geschirr spülte, während die Hunde geräuschvoll fraßen. Angela öffnete die Tüte auf dem Küchentisch, setzte sich, dippte ihre Pommes in Ketchup und betrachtete die diversen Bilder von Otis, die ich an meinen Kühlschrank geheftet hatte.
»Wie war dein Weihnachtsfest?«, fragte ich und stellte einen Teller auf den Stapel auf der Anrichte.
»Angespannt«, murmelte sie mit vollem Mund. »Meine Mutter ist nur glücklich, wenn sie mir von allen Leuten erzählen kann, die gestorben sind, und was noch schlimmer ist, sie trinkt keinen Tropfen Alkohol. So nach dem Motto, sie hatte im Jahr 1992 ihr letztes Piccolöchen, und alle, die allein trinken, sind Alkoholiker. Außerdem findet sie, ich hätte Otis’ Vater Sean heiraten sollen, obwohl er ein nichtsnutziger Depp ist. Aber er ist immerhin ein nichtsnutziger Depp aus unserem Dorf, also der ideale Schwiegersohn. Und jetzt ist sie zu Besuch, was bedeutet, dass ich auf dem Sofa schlafen muss und sie mich fragt, warum ich mir noch kein Haus gekauft habe. ›Liegt es an all den Migranten?‹ ›Großer Gott, Mam, ich bin eine scheiß Migrantin‹, hab ich geantwortet, und sie meinte nur: ›Missbrauche den Namen des Herrn nicht.‹«
»Oje«, sagte ich und verkniff mir ein Lachen. »Willst du was trinken?«
»Nein«, sagte sie seufzend. »Sie würde die Fahne riechen, und dann setzt es was. Es ist, als wäre ich wieder ein Teenager, nur ohne den heimlichen Sex.«
Ich hängte das Geschirrtuch auf und setzte mich zu ihr an den Tisch, und die Hunde, die mittlerweile aufgefressen hatten, stromerten in der Küche herum in der Hoffnung, noch einen Leckerbissen zu ergattern.
»Sylvie ist bei der Party?« Angela deutete auf Decca und Nancy.
Ich nickte. »Ich muss wohl das Radio anmachen, wenn die Knallerei losgeht, die armen Dinger. Hast du irgendwelche guten Vorsätze fürs nächste Jahr?« Leo und ich hatten sie immer zusammen gefasst, für jeden drei. Seine waren immer dieselben: ein Buch fertig schreiben, das nächste anfangen und keine Schokolade mehr essen – Toblerone mochte er am liebsten, er brachte immer welche von seinen Vortragsreisen mit. Die ersten beiden guten Vorsätze konnte er meist umsetzen, den dritten nie. Meine Vorsätze waren jedes Jahr andere, für gewöhnlich ging es um neue Hobbys, die ich mir zulegen wollte. In einem Jahr hatte ich mir vorgenommen, Cello spielen zu lernen, und mir sogar eins in einem Laden in der Church Street angesehen, aber der Preis schreckte mich ab. Leo zog mich gern damit auf, nannte mich Jacqueline du Pré und fragte, wie ich mit dem Elgar-Cellokonzert zurechtkam. Ich würde es immer noch gern lernen.
Angela schluckte und leckte sich die fettigen Finger ab. »Das Rauchen aufgeben«, sagte sie. Ich lächelte nachsichtig. Sie wollte damit aufhören, seitdem ich sie kannte, und hatte versucht, es sich mit diversen Hilfsmitteln abzugewöhnen. Die Hilfsmittel kamen und gingen, die Zigaretten blieben.
»Und was sind deine?«, fragte sie und warf Decca eine Pommes zu. Decca fing sie noch in der Luft und lief damit fort, um sie genießen zu können, ohne von Nancy gestört zu werden. Bobby hechelte und wartete geduldig, bis sie an die Reihe kam.
Ich zögerte. »Ich weiß nicht. Ich glaube … im Moment ist alles gut so, wie es ist.« Angela warf Nancy eine Pommes zu, dann wandte sie sich zu mir um, und ihre Augen wurden schmal.
»Das ist gut.« Sie warf für Bobby ebenfalls eine Pommes, aber die Hündin schnappte ins Leere, und die Pommes fiel auf den Boden, wo Decca sie erhaschte. »Ach, arme Bobby. Hier hast du auch eine.« Angela hielt Bobby eine Pommes hin, die sie vorsichtig annahm.
»Das konnte sie noch nie gut«, bemerkte ich und stand auf, um den Wasserkessel aufzusetzen.
Angela lachte und zerzauste Bobby das glänzende Fell. »Und was machst du, wenn Fix sie zurückhaben will?«, fragte sie.
Ich drehte ihr weiterhin den Rücken zu, während ich den Kessel mit Wasser füllte und ihn auf den Herd stellte. Die Uhr an der Wand tickte. Bobby fraß unter dem Tisch ihre Pommes. Das Geschirrtuch hing etwas schief, ich rückte es gerade.
»Na?«, sagte Angela sanft.
Ich drehte mich zu ihr um. Sie sah besorgt – fast betroffen – aus. Bobby legte ihr gerade den Kopf aufs Knie, in der Hoffnung auf mehr.
»Ich … ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, stotterte ich. »Will sie sie denn wirklich zurückhaben?« Ich hatte gehofft, dass Fix beschlossen hatte, ohne Hund in ihr neues Leben zu starten, und dass ich meins mit Hund erhellen konnte. Schiffe, die sich nachts begegnen, mit Bobby als Rettungsboot dazwischen.
Angela rieb sich die Nase und seufzte. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich hör kaum was von ihr. Ursprünglich hat sie gesagt, es wäre für ein paar Monate, vielleicht sogar ein Jahr. Aber der Plan war immer, dass Bobby am Ende wieder zurückgeht. Sie gehört Fix.«
Ich sah Bobby an, die sich die Lefzen leckte, und dachte: Stimmt nicht, sie gehört mir. Und in dem Moment wurde mir klar, dass ich alles tun würde, um sie zu behalten.
»Tut mir leid«, sagte Angela, als sie mein Gesicht sah. »Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Es ist nur … ich bin nicht davon ausgegangen, dass es so gut läuft. Ihr passt echt gut zusammen. Es ist eine Schande – na ja, du weißt, was ich meine.«
Der Kessel fing an zu pfeifen, und ich bereitete den Tee zu.
»Denk einfach nicht dran«, sagte Angela. »Vielleicht will Fix sie erst in ein paar Monaten oder noch später zurückhaben. Kein Grund zur Panik.« Es hörte sich an, als wollte sie sich selbst ebenso beruhigen wie mich.
Wir tranken Tee, und Angela erzählte von Otis, der sich auf das nächste Halbjahr in der Schule freute, aber ich konnte mich nicht auf das Gespräch konzentrieren, dachte an meine Mutter, an Jonas den Labrador und an den Tag, an dem wir von Leos Diagnose erfuhren. Der Kloß im Hals war wieder da, mir fielen ständig irgendwelche Flecken in der Küche auf, und es juckte mich in den Fingern, sie mit Desinfektionsmittel zu entfernen, um mich davon abzulenken, dass mein Gesichtsfeld immer enger wurde. Bobby, meine Bobby, mein Oikos.
Schließlich sagte Angela, sie müsste nach Hause gehen, sonst würde ihre Mutter garantiert einen Suchtrupp losschicken. Sie wünschte mir ein frohes neues Jahr, warf ihre nach Essig riechende Tüte in den Müll und verschwand in der Dunkelheit. Schon wurden die ersten Feuerwerkskörper gezündet. Die Hunde wurden unruhig, legten die Ohren flach zurück, und so beschloss ich, ins Bett zu gehen. Im Badezimmer wusch ich mir das Gesicht und putzte mir die Zähne, aufmerksam beobachtet von drei Paar Hundeaugen – Bobby stand mit ihrem Stoffhasen im Maul in der Mitte. Ich schaltete das Radio ein, um den Lärm auszublenden, ging ins Bett und klopfte auf die Matratze. Alle drei sprangen herauf und drehten sich im Kreis, um eine bequeme Schlafposition zu finden, ohne sich um meine zu kümmern. Mit Hunden auf meinen Beinen lauschte ich den entfernten Böllern und den Freudenschreien, die von dem Klassiksender kaum übertönt wurden. Sie spielten Elgar. Nicht das Cellokonzert, sondern die Enigma-Variationen, die ich immer geliebt hatte, besonders »Nimrod«. Doch jetzt bekam das Thema einen unangenehm unheilverkündenden Beigeschmack, wie ein Vorbote des neuen Jahrs und dessen, was es mit sich bringen würde. Als die Glocken von Big Ben erklangen, war ich immer noch wach und schaute aus dem Fenster, während der eine oder andere Feuerwerkskörper im Dunkel aufblitzte. 2017, mein einundachtzigstes Jahr auf dieser Erde.
Bobby spürte mein Unbehagen und rieb den Kopf an meinem Arm. Ich umarmte sie, streichelte ihr weiches Fell, atmete ihren warmen Geruch ein und fühlte mich von dem leisen Seufzen und Schnarchen ringsum getröstet. Letztes Jahr hatte ich mich nach Veränderungen gesehnt, in diesem wünschte ich mir, dass alles so blieb, wie es war. Semper eadem. Das war mein guter Vorsatz für dieses Jahr. So weitermachen wie bisher.