Kapitel 48

Ich verließ das Haus drei Tage lang nicht, saß in meinem Morgenmantel auf dem Sofa, starrte das Porträt meines Vaters an, las weitere Briefe meiner Mutter und schaute mir Fotos von Arthur an. Ich wollte alles aus meiner Vergangenheit in mich aufnehmen, um besser für das gerüstet zu sein, was vor mir lag. Gelegentlich klopfte jemand an die Tür und rief etwas durch den Briefschlitz, aber ich lernte, es auszublenden, und als ein Gesicht vor dem Fenster auftauchte, zog ich einfach die Vorhänge zu.

Ich aß die Reste des Leichenschmauses – vertrocknende Schinkensandwiches und kalte Würstchen im Schlafrock. Der Blätterteig schmeckte fettig und fade; Krümel fielen auf das Sofa, und es war keine Bobby mehr da, die sich als Staubsauger betätigen konnte. Ich war so allein, wie ich immer gewesen war, losgelöst und im Fluss, ein Chaos aus verknäuelten Gedanken und willkürlichen Impulsen. Der Alkohol war mir ausgegangen, also trank ich Milch.

An dem Tag, als es keine Sandwiches und Würstchen im Schlafrock mehr gab, aß ich trockene Cornflakes und rief schließlich einen Immobilienmakler an, um den Wert des Hauses schätzen zu lassen. Ich vernahm die Aufregung in seiner Stimme, als ich ihm die Adresse nannte, und konnte mir vorstellen, wie gierig er auf seine Maklergebühr lauerte. Dies hatte zur Folge, dass ich bei dem Telefongespräch ungewöhnlich kurz angebunden war. Danach musste ich die Küche putzen, wusch wie besessen alle Schränke aus und schrubbte den Boden, bis alles glänzte wie eine frisch vom Baum gefallene Rosskastanie.

Am späten Nachmittag fühlte ich mich ausgelaugt, und es zog mich auf den Dachboden zu den alten Truhen meiner Mutter. Im Halbdunkel durchwühlte ich die Kleider, strich mit den Händen über Seide und Chiffon, ließ Federn und Perlen zwischen meinen Fingern hindurchgleiten. Aus einer Laune heraus nahm ich ein langes Jugendstilkleid mit hochgeschlossenem Kragen, hielt es mir vor den Körper und betrachtete mich in dem schrägen Standspiegel in der Ecke. Es war zartlila, die Farbe der Trauer. Ich streifte den Morgenmantel ab, zog mir das Kleid vorsichtig über den Kopf, und es fiel in seidigen Falten an mir hinab, umfloss die Konturen meines Körpers, als wäre es für mich gemacht. Im Zwielicht sah ich aus wie meine Großmutter, zupfte mit rastlosen Händen an dem üppigen Rock herum. Jette und ihre Singer-Nähmaschine; sie hatte sich mit ihrem Summen und Rattern abzulenken und den Geist darin zu ignorieren versucht. Am Ende war sie gescheitert – das Einzige, was wirklich funktionierte, war, sich ganz von seinem Elend zu erlösen. Wie Jette. Nimm die Pillen, gib den Geist auf.

»Missy.«

Geschockt schrie ich auf. Im Spiegel sah ich Angela hinter mir stehen, mit weißem Gesicht und roten Augen. Ich wirbelte herum, und sie war tatsächlich hier, auf meinem Dachboden.

»Wie bist du hier hereingekommen?«

Wortlos hielt sie einen Schlüssel hoch – den Schlüssel, den ich Sylvie gegeben hatte. Sylvie selbst kam gerade die Treppe hoch, und nach ihr – ich sog scharf die Luft ein – Melanie. Sie sah sich auf dem Dachboden um, bevor ihr Blick an dem Kleid hängen blieb, das ich über dem Nachthemd trug.

»Komm mit nach unten, wir müssen reden«, sagte sie.

Ich zog in Erwägung, mich zu weigern und den Rest meines Lebens, wie lange das auch sein mochte, hier auf diesem Dachboden umzugehen, wie die Art von Gespenst, nach der ich abends in meinen Schränken suchte, aber ein Blick in Sylvies und Angelas entschlossene Gesichter überzeugte mich, dass sie durchaus willens waren, mich mit Gewalt nach unten zu zerren. Und so nahm ich die Schleppe meines Kleides und rauschte hocherhobenen Kopfes an ihnen vorbei.

Unten in der Küche wollte ich Tee machen, aber dann fiel mir ein, dass ich keine Milch mehr hatte. Melanie, die mein Zögern bemerkte, griff in ihre Tasche und zog eine Packung heraus. Gereizt nahm ich sie ihr aus der Hand. Während die drei sich über das wunderbare Wetter unterhielten, kochte ich eine Kanne Tee, stellte alles Nötige auf ein Tablett und trug es ins Wohnzimmer. Sylvie bemerkte die kahlen Wände, sagte aber nichts.

Ganz die perfekte Gastgeberin im eleganten Kleid, goss ich uns allen eine Tasse Tee ein, lehnte mich dann auf dem Sofa zurück und wappnete mich für die Moralpredigt. Wenn sie wieder weg waren, würde ich einen weiteren Immobilienmakler anrufen – es war wohl am besten, mehrere Schätzungen einzuholen, bevor man den Preis festlegte. Ich sah Melanie mit hochgezogenen Augenbrauen an, aber ausnahmsweise schien sie es nicht zu bemerken.

Stattdessen stellte jetzt Sylvie ihre Tasse hin, stand auf und ging zum Kamin, um das Porträt meines Vaters zu betrachten.

»William Jameson«, sagte sie und strich über den Rahmen. »Ich habe mich über ihn informiert. Du hast mir gar nicht erzählt, dass er ein Kriegsheld war.«

Die Teetasse zitterte an meinen Lippen. »Er hätte nicht gewollt, dass man Aufhebens um ihn macht«, sagte ich und trank einen Schluck, um mich wieder zu fangen, verbrannte mir allerdings die Zunge.

»Er hat dreiundzwanzig britische und amerikanische Soldaten aus einer ukrainischen Scheune gerettet. Alle sind entkommen, nur er wurde von einem russischen Wachposten erschossen. Der Krieg war damals schon vorbei. Er hätte nach Hause fahren können. Aber er ist geblieben.«

»Er hat durchgehalten«, flüsterte ich.

»Und deine Mutter, Helena Jameson. Sie hat Selbstverteidigungs- und Fahrunterricht für Frauen abgehalten. Im Geheimen, sodass ihre Männer nichts davon erfuhren. Sie hat Hunderten von Frauen beigebracht, wie man sich selbst verteidigt und Auto fährt. Sie hat nie Geld dafür genommen. All diese Frauen waren dank ihr sicherer und unabhängiger als zuvor. Sie war auch eine Heldin.«

»Worauf willst du hinaus?« Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich schluckte sie mit zu heißem Tee hinunter.

Angela nahm mir die Tasse aus den Händen und umfasste sie mit ihren eigenen.

»Sie will darauf hinaus, dass sie anderen Menschen geholfen haben. Menschen helfen anderen Menschen. Du hast mir geholfen. Und jetzt wollen wir dir helfen.«

»Niemand kann mir helfen.« Ich verstand zudem nicht, warum irgendjemand das tun sollte. Ich war kein Kriegsheld wie William Jameson. Oder eine Aktivistin wie Helen Jameson. Ich war nur Missy Carmichael.

»Falsch«, sagte Sylvie und schlug mit der Hand auf den Kamin. »Ich habe eine Idee, und wie du weißt, sind meine Ideen immer hervorragend.«

»Es ist zu spät. Du weißt nicht, in was für Schwierigkeiten ich stecke.«

»Au contraire. Ich weiß genau, in welchen Schwierigkeiten du steckst, und ich weiß auch, wie wir dich da rausholen können.«

Melanie, die im Sessel ihres Vaters saß, mischte sich ein. »Ich habe ihnen alles erzählt, Mum.«

Ich funkelte sie an. »Das haben wir doch schon x-mal durchgekaut. Ich werde nicht in irgendeinen schrecklichen Bungalow in Cottenham ziehen, mit alten Schachteln Bridge spielen oder mich im Bus ans Meer karren lassen.«

»Du liebes bisschen, natürlich nicht«, sagte Sylvie herzlich. »Melanie, ich muss schon sagen, das war ein schrecklicher Plan. Meiner ist viel besser.«

»Die Kosten für Dads Heim sind exorbitant«, erklärte Melanie. »Ali und ich steuern gern etwas bei, wenn sie uns lässt, aber selbst dann …«

Selbst dann konnten wir es uns nicht leisten. Ich hatte es ausgerechnet, als die ersten Briefe von der Bank kamen, und wusste, dass wir uns nicht länger über Wasser halten konnten.

»Ich will ihn nicht woandershin verlegen lassen«, murmelte ich. »Er ist dort glücklich. Auf eine gewisse Art.«

»Du musst ihn nicht verlegen«, sagte Sylvie. »Er kann genau da bleiben, wo er ist. Und du auch.«

Ich fuhr mir durch die kurzen Haare und hörte, wie das Kleid unter den Armen einriss. »Aber wie?«

Sylvie lächelte. »Es hat mit dem Dachboden zu tun«, sagte sie.

Ich hatte mein Haus immer als Vermögenswert betrachtet, aber nur in dem Sinne, dass man es zu Geld machen konnte. Aber Sylvie sah etwas anderes. So viele Räume, so viel Platz. So viel Potenzial, aus dem man auf andere Art Kapital schlagen konnte.

»Wir werden den Dachboden renovieren«, verkündete sie. »Ich habe alle Kontakte, die Arbeiter, die Maler. Ich entwerfe alles. Wir bauen ein kleines Bad ein, dann kannst du den Dachboden vermieten und davon Leos Pflege bezahlen.«

»Aber wer soll dort einziehen?«, fragte ich.

»Ich«, sagte Angela. »Otis und ich, wir ziehen bei dir ein. Ich hab die Schnauze voll von meinem Vermieter. Da zahl ich lieber dir Miete. Außerdem hab ich den Babysitter dann direkt im Haus, Otis kriegt einen Endlosnachschub an Plätzchen, und das Allerbeste an dem Ganzen ist …« Sie verstummte und sah mich bedeutungsvoll unter gesenkten Wimpern an.

»Was ist das Allerbeste?«

Sie grinste. »Dass wir uns einen Hund anschaffen können.«

Plötzlich machte mein Herz einen Satz, mir blieb die Luft weg, und ich war wie gelähmt. »Einen Hund?«

Sylvie platzte dazwischen. »Und dann wäre da noch das Gästezimmer. Wenn wir es ein bisschen auf Vordermann bringen, kannst du es an Studenten vermieten. Mehr Geld. Mehr Gesellschaft.«

»Aber wie soll ich dafür aufkommen? Ich habe kein Geld für den Ausbau eines Dachbodens, den Einbau eines Badezimmers oder neue Tapeten oder … egal, was. Es ist nichts mehr übrig.« Ernüchtert ließ ich mich wieder aufs Sofa sinken. Einen Moment lang hatte ich doch tatsächlich einen Hoffnungsschimmer am Horizont gesehen.

»Du wirst für das alles aufkommen. Aber für den Moment gibt Denzil dir ein Darlehen. Nein, keine Widerrede!« Sie hob den Finger, als ich den Mund aufmachte, um zu protestieren. »Ein Darlehen. Er kann es sich leisten, außerdem zahlst du es ja zurück. Wir werden ein paar Sachen verkaufen. Für den Anfang all das Zeug auf dem Dachboden. Und Leos Bücher. Die sind Tausende wert.«

»Leos Bücher? Aber …«

»Kein Aber. Das Geld nutzt ihm mehr als die Bibliothek. Phillip Kingston ist Antiquar, er hat ein Geschäft in der Charing Cross Road, und er wird dir für alle Bücher einen guten Preis machen. Sie sind ein Vermögen wert. Simon Charles ist Bauunternehmer, seine Frau Maddie Klempnerin. Sie warten schon darauf, alles auszumessen, um zu sehen, was getan werden muss. Wir sind alle startklar.«

»Sie warten …?«

»Sie stehen draußen im Garten. Sieh nach.«

Ich stand auf und ging durch den Flur in die Küche und zur Hintertür. Als ich sie öffnete, sah ich eine kleine Schar von Menschen und Hunden auf dem Rasen bei Bobbys Zypresse – Denzil mit Badger und Barker, Phillip mit Dexter, Simon und Maddie mit Tiggy und dem kleinen Timothy, Octavia, Hanna und Otis mit Decca und Nancy. Alle standen plaudernd in der Sonne. Als sie mich entdeckten, winkten sie fröhlich. Wieder ging mir das Herz auf, und ich schlug mir die Hand vor den Mund. Hier war er, mein Gordischer Knoten, nonchalant aufgeknotet, zerschlagen, mit einem einzigen Schwerthieb durchtrennt von den Menschen, die ich liebte und die mich liebten. Sie brauchten es nicht zu sagen, es zeigte sich in allem, was sie taten.

»Siehst du?«, sagte Sylvie mir ins Ohr. »Ein ziemlich guter Plan, oder? Was hältst du davon? Dürfen sie reinkommen?«

Sie, Angela und Melanie starrten mich erwartungsvoll an, warteten auf eine Antwort. Aber ich konnte nichts sagen, nur hinschauen. Die aufgeregten, freundlichen Gesichter, die Art, wie sie vor Ideen und Plänen übersprudelten. All diese Freunde in meinem Garten, die bereit waren, mir ihre Fähigkeiten und ihre Dienste zur Verfügung zu stellen. Die Hilfe, die ich brauchte, befand sich gleich vor meiner Haustür, ich brauchte sie nur hereinzubitten.

»Ich glaube«, sagte ich schließlich, drehte mich lächelnd zu Melanie um und legte ihr die Hand auf die Wange, bis ich meine Stimme wieder unter Kontrolle hatte, »ich glaube, wir brauchen noch viel mehr Milch …«