»Komm näher, Missy.«
Kensington im Jahr 1942; ungerührt von dem Dröhnen über unseren Köpfen beugte Fa-Fa sich vor, um den Docht einer der Kerzen zu entzünden, dann umfasste er mit einer seiner riesigen Pranken seine Pfeife und paffte ein paar Züge, um sie in Gang zu bringen. Mit jedem Einsaugen der Luft erglühte das zerfurchte Gesicht meines Großvaters im Licht des glimmenden Tabaks. Das Donnern ließ mich kurz zusammenzucken, aber ich war zu neugierig auf seine Geschichte, um die Bomben groß zu beachten. Mein Bruder und ich kuschelten uns in unserem Stockbett unter der kratzigen Wolldecke aneinander, ein halb gegessenes Karottensandwich in der Hand. Fa-Fa blies eine Rauchfahne und lehnte sich zurück.
»Mesopotamien im Jahr 1916. Fliegen umschwirren mein Gesicht.« Er wedelte den grauen Rauch fort, und ich glaubte fast, die Insekten vor meinen Augen zu sehen.
»Das vermaledeite Fieber. Ich war zu schwach, um sie zu vertreiben … Nachdem ich genesen war, bekam ich Heimaturlaub. Nach der schrecklichen Hitze war es der reinste Segen, wieder in London zu sein. Deine Großmutter und ich sind in ein Restaurant gegangen – wo war es noch gleich, Jette? In der Swallow Street? –, um meine Heimkehr zu begießen.«
Meine Großmutter saß schniefend in einer dunklen Ecke. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum jemand sie zum Essen ausführen sollte – sie machte, egal ob zum Sprechen oder Essen, kaum je den Mund auf. Sie schenkte uns ein dünnes Lächeln und zog, als ein schrilles Kreischen ertönte, den Kopf ein. Dann eine Pause, wie die Ruhe kurz vor einem Donner. Als es kam, klang es weit entfernt.
»Nach einem zünftigen Gelage sind wir zu Fuß zum Piccadilly Circus gegangen, um uns eine Droschke zu nehmen – es waren keine in der Nähe, in den Seitenstraßen war es dunkel, und ich muss zugeben, wir waren ein bisschen angeschickert.« Er schmunzelte, zog an seiner Pfeife, und Henry und ich kicherten, als wir uns Fa-Fa, und besonders unsere Großmutter, in diesem Zustand vorstellten. Er redete nicht um den heißen Brei herum, und wir liebten ihn dafür.
»Dann fiel Jette in der Dunkelheit hin, und als ich ihr wieder aufhelfen wollte, kam ein Dieb herbeigeflitzt und riss ihr die Handtasche weg, der dreiste Schuft! Ich habe mich natürlich sofort an die Verfolgung gemacht.«
Fa-Fa verlagerte auf dem niedrigen Schemel seinen massigen Körper, während Henry und ich nach Luft schnappten und uns aneinanderklammerten. Jette saß gebeugt im Schatten, eine Maus im Vergleich zu diesem Mann. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck im Halbdunkel nicht erkennen, sah nur ihre Hand, die ein Taschentuch umklammert hielt.
»Hab ihn problemlos eingeholt, und als ich ihn stellte, sah ich, dass er fast noch ein Kind war, zu jung, um im Krieg zu kämpfen, aber alt genug, um in diesen Zeiten etwas zu klauen. In der Handtasche war nicht viel von Wert, nur ein bisschen Kleingeld, aber ich wollte natürlich nicht ohne sie zu Jette zurückkehren. Hab ihn ein bisschen durchgewalkt, damit er wusste, mit wem er es zu tun hat. Dachte, das wär’s dann, aber er klammerte sich an die Tasche, als ob sein Leben davon abhinge, und sosehr ich mich auch anstrengte, er wollte sie einfach nicht loslassen. Ein Griff wie ein Schraubstock.« Fa-Fa hob eine seiner riesigen Hände mit den hervorquellenden Sehnen, und ein paar Tabakflöckchen schwebten zu Boden. Er beugte sich vor, um sie aufzuheben, ehe er weitererzählte.
»Am Ende habe ich ihm eine richtige Tracht Prügel verpasst, eine Abreibung, die sich gewaschen hatte, aber egal, was ich tat, er ließ die Tasche nicht los.«
Wieder zog er an der Pfeife, und erneut glomm der Tabak auf. Jettes dürre Finger zupften an ihrem Kleid.
»Rechter Haken, linker Haken, rechter Haken, linker Haken! Aber er wollte einfach nicht loslassen. Wie ein Hund mit einem Knochen.«
Wumm!, machten die Bomben. Meine Großmutter putzte sich die Nase. Wir waren alle in Fa-Fas Mief eingehüllt, der mir die Tränen in die Augen trieb, trotzdem konnte ich den Blick nicht von ihm wenden.
»Ich habe ihm gegen das Schienbein und auf die Füße getreten. Kein Mucks. Als ich mit ihm fertig war, lag er zusammengekrümmt zu meinen Füßen, hatte aber immer noch die Tasche umklammert. Sie war schon ganz schmutzig und blutverschmiert. Es war klar, dass Jette sie, selbst wenn ich sie zurückeroberte, nicht mehr benutzen würde. Also ließ ich ihn dort auf der Straße liegen, wimmernd wie ein Baby, die Tasche in den blutigen Händen.«
Eine kurze Stille folgte, auch über unseren Köpfen, und Fa-Fa nahm die Pfeife aus dem Mund, putzte seine Brille, die wässrigen Augen konzentriert darauf gerichtet. Seine Hände zitterten leicht, als er sie wieder aufsetzte.
»Der verdammte Rotzlöffel hat die Tasche nicht hergegeben. Dafür habe ich ihn bewundert. Er wollte sie unbedingt haben, und er hat sie bekommen. Gut für ihn.« Großvater beugte sich vor, leckte sich die Finger an und löschte die Kerze an unserem Stockbett. »Und das ist die Moral der heutigen Geschichte. Wenn ihr etwas wirklich wollt, setzt euch dafür ein. Gebt nicht auf. Klammert euch daran fest, als würde euer Leben davon abhängen.«
»Selbst wenn mich jemand grün und blau schlägt?«, meldete Henry sich zu Wort.
»Selbst dann!«, gab Fa-Fa zurück und zerwühlte ihm die Haare. »Selbst wenn sie dich ohrfeigen«, sagte er und zwickte ihn ins Ohr. »Selbst wenn sie dich in den Bauch boxen.« Er tat, als würde er Henry einen Schwinger in den Magen versetzen, dann noch einen, diesmal härter. »Selbst wenn sie dich windelweich prügeln, du lässt nicht los!« Er und Henry fingen an zu kämpfen, anfangs spielerisch, doch dann, als erneut Bomben fielen, wurde aus Spaß Ernst. Fa-Fa nahm Henry in den Schwitzkasten, bis das Gesicht meines Bruders knallrot anlief und seine Augen glänzten, ob vor Aufregung oder vor Tränen, konnte ich nicht erkennen. Jette stand auf und streckte die Hand mit dem Taschentuch aus.
»Vater! Was machst du da?«
Meine Mutter war unbemerkt durch die Kellertür getreten. Sie nahm ihren scharlachroten Schal vom Hals, noch blass vor Kälte und wie üblich aufgebracht. Jette stürzte auf sie zu, um sie zu umarmen, aber Mama ignorierte sie und funkelte meinen Großvater an. Fa-Fa sah auf und ließ Henry los, der auf das Bett zurücksank, die Hände um seinen Hals gelegt.
»Wann begreifst du endlich, dass du mit den Kindern sanfter umgehen musst? Sie sind doch keine von deinen Rekruten! Ich wette, du hast ihnen wieder irgendwelche schrecklichen Geschichten erzählt. Los, Milly, Henry, ab ins Bett mit euch, ihr solltet längst schlafen.« Sie begann mit der üblichen mütterlichen Routine, deckte uns zu und stellte unsere halb gegessenen Butterbrote für den nächsten Tag beiseite.
Fa-Fa zog sich schmollend auf einen Stuhl in der Ecke zurück, um die Pfeife erneut zu befüllen, während Mama sich auf ihre Pritsche legte. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, wie sie die verbliebene Kerze ausblies, und an das tröstliche Glühen von Fa-Fas Pfeife. Dann lullten die tintenschwarzen Schatten an der Wand mich in einen tiefen Schlaf, den selbst das Donnern über uns nicht stören konnte.
In der folgenden Nacht traf eine SC250-Bombe die Straße vor unserem Haus und legte die Gartenmauer in Schutt und Asche. Niemand wurde verletzt, nur Fa-Fas Brille fiel durch die Erschütterung auf den Boden und zerbrach. Danach entschied meine Mutter, dass wir auf dem Land besser aufgehoben waren, und verfrachtete uns zu meiner Tante Sibyl nach Yorkshire. Doch anscheinend hatte ihre Entscheidung weniger mit der Bombe zu tun als mit der Geschichte von der Tasche, die Henry am nächsten Morgen Mama brühwarm weitererzählte, was einen neuerlichen Wutausbruch auslöste. Es sei unverantwortlich von Fa-Fa, uns irgendwelche wilden Geschichten aufzutischen, die vermutlich nicht einmal wahr seien (Jette wollte sie auf Nachfrage weder bestätigen noch dementieren), und es sei höchste Zeit, dass wir etwas frische Landluft schnupperten, und so weiter und so fort. Und so fuhren wir nach Kirkheaton, wo wir in der Mansarde eines zugigen, alten Pfarrhauses schliefen, in alten Priesterverstecken nach bösen Geistern suchten, uns im Wald Höhlen bauten und den Krieg und Fa-Fas seltsame Angewohnheiten fast vergaßen.
Die Geschichte jedoch vergaßen wir nie und erzählten sie uns immer wieder gegenseitig, während wir in unseren harten, schmalen Betten direkt unter dem Dachgebälk lagen. Wir schmückten sie jedes Mal mehr aus – ein dramatischer Schnörkel hier, ein schmutziges Detail dort –, bis wir uns schließlich nicht mehr sicher waren, wo Fa-Fas Geschichte anfing und unsere endete. Hatte er sie erfunden oder wir? War das alles passiert oder gar nichts? Im Lauf der Jahre neigte ich immer mehr dazu, Letzteres anzunehmen.
Trotzdem – es stimmt, oder? Wenn man etwas wirklich will, muss man daran festhalten.