Kapitel 6

Am darauffolgenden Dienstag gab es in meinem neuen Stammcafé eine handgreifliche Auseinandersetzung.

Nach der Begegnung mit Sylvie in der Apotheke hatte ich begonnen, mich öfter in der Gegend herumzutreiben, besonders in dem Café, bis die lächelnde Kellnerin mich wiedererkannte und mir den Kaffee von selbst immer mit kalter Milch statt diesem Schaum-Blödsinn servierte. Sie gaben mir eine kleine Karte, die jedes Mal, wenn ich einen Kaffee bestellte, abgestempelt wurde und für die man, wenn sie voll war, ein Freigetränk erhielt. Das Brot in dem türkischen Laden nebenan war preiswert und frisch, und in der Kinderabteilung der Wohltätigkeitsbuchhandlung stöberte ich herum und nahm als Geschenk für Arthur einen Band von Thomas, die kleine Lokomotive für fünfzig Pence mit.

Vorher hatte ich mir nie die Mühe gemacht, meine Umgebung zu erkunden – ich hatte zu viel mit den Kindern und dem Haushalt zu tun, und später, als Leo krank wurde, mit seiner Pflege. Damals hatte ich auch keine Geldsorgen, während ich mich heute auf die Suche nach Schnäppchen machte, auch wenn ich es mir eigentlich nicht leisten konnte. Doch meine Streifzüge halfen, mir die Zeit zu vertreiben und Kleingeld auszugeben. Aber von Sylvie keine Spur.

An jenem Dienstag, als ich gerade wie üblich einen caffè americano genoss, kam, wer hätte es gedacht, Angela herein, diesmal jedoch ohne Otis. Sie sah wie immer ungepflegt aus, Strähnen ihrer zu roten Haare lösten sich aus ihrem Dutt, ihr Eyeliner war verwischt, und sie trug eine Lederjacke und klobige Stiefel mit Schnallen, die beim Gehen klirrten. Anfangs bemerkte ich die Frau, mit der sie zusammen war, gar nicht, aber als sie sich in eine Ecke setzten, sah ich, dass die andere weinte und dass Angela sie anscheinend zu trösten versuchte. Sie redete eindringlich auf sie ein, aber die Frau schüttelte nur den Kopf und wischte sich über die Augen. Sie war schrecklich dünn und hohlwangig, was mich vermuten ließ, dass sie drogensüchtig war.

Dann lehnte sich Angela plötzlich zurück und schlug mit der Hand auf den Tisch, als hätte sie genug, und die andere Frau sprang auf und stürmte zum Ausgang. Angela erhob sich halb und rief etwas wie »Flicks!« hinterher, aber vielleicht fluchte sie auch nur. Die Frau blieb an der Tür stehen und drehte sich um. Sie hatte die Zähne gebleckt, und die Wimperntusche lief ihr in Streifen über die eingefallenen Wangen.

»Du kapierst es einfach nicht!«, fauchte sie. »Du wirst es nie kapieren.«

Sie schienen die anderen Gäste gar nicht wahrzunehmen, die verstummt waren und sie über die Ränder ihrer Tassen beobachteten, als würden sie diese kleine Szene durchaus genießen.

»Ich will dir doch nur helfen«, sagte Angela. »Bitte.« Sie streckte die Hand aus.

Wie bei einem Tennisspiel richteten sich nun alle Blicke auf die andere Frau an der Tür.

»Dann hör auf, dich in mein Leben einzumischen. Lass mich in Ruhe!«, rief sie und zog am Türknauf. Was dann passierte, war schier unglaublich.

Angela stürzte auf sie zu, schlug die Tür wieder zu und versperrte ihr den Weg. Die Frau versuchte, sie beiseitezuschieben, und es entstand ein Handgemenge. Die offenen Münder der Schaulustigen beachteten sie dabei nicht. Plötzlich holte die andere Frau aus und schlug Angela ins Gesicht, die mit einem Aufschrei nach hinten taumelte, und alle schnappten kollektiv nach Luft. Ein Mann, der an seinem Laptop gearbeitet hatte, erhob sich, als wollte er protestieren, doch dann schien er es sich anders zu überlegen, da Hanna, die Kellnerin, herbeieilte und Angela zurückhielt. Die andere Frau beäugte sie schwer atmend, die Haare standen ihr wirr vom Kopf ab, dann riss sie die Tür auf und rannte nach draußen.

Als sie fort war, ertönte ein kollektiver Seufzer der Enttäuschung – was für eine Spielverderberin, es war doch gerade erst richtig losgegangen –, aber ich hatte solche Szenen in aller Öffentlichkeit immer furchtbar gefunden. Leo und ich waren einmal bei einer Party in Streit geraten, hatten dabei jedoch nur hinter vorgehaltenen Gläsern geflüstert und aus dem Mundwinkel gezischt und gleichzeitig vorbeikommenden Gästen freundlich zugenickt. Aber heutzutage kannten die Leute einfach keine Diskretion mehr; sie wuschen ihre schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit.

Angela, die einen dunkelroten Handabdruck auf der Wange hatte, ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken, nahm ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und zündete sich an Ort und Stelle eine an. Hanna ging zu ihr, um ihr das zu untersagen. Angela schnitt eine Grimasse und drückte die Zigarette auf einer Untertasse aus. Sie barg das Gesicht in den Händen und saß für eine Weile so da, dann nahm sie ihre Tasche und ging zur Tür. Als sie an meinem Tisch vorbeikam, zog sie erschöpft die Augenbrauen hoch.

»Oh, hi, äh …« Im Gegensatz zu Sylvie hatte sie meinen Namen vergessen.

»Millicent.«

»Hi, Millicent. Alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Danke, bestens. Ähm … und bei Ihnen?« Zu meiner Bestürzung warf sie plötzlich ihre Tasche auf den Boden, setzte sich zu mir und gab Hanna einen Wink.

»Wie Sie sehen, geht’s mir ziemlich beschissen. Ich bleibe ein paar Minuten hier sitzen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Halten Sie mich davon ab, noch mehr Dummheiten zu machen.« Sie zog die Schale mit den Zuckerwürfeln zu sich und biss mit gelben Zähnen ein Stück von einem ab. Sie war sehr blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Vermutlich von den wilden Gelagen mit Sylvie.

»Natürlich.« Ich hoffte, das bedeutete nicht, dass ich ihren Kaffee bezahlen musste.

Wir saßen eine Zeit lang schweigend da; sie knibbelte an der Haut rings um ihre Nägel, die abgekaut waren und auf denen man noch Flecken von abgesplittertem Nagellack sah. Hanna brachte ihren Kaffee, und sie nippte daran und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.

Schließlich sah sie mich von der Seite an. »Sind Sie verheiratet?«

Es verschlug mir den Atem. »Ja. Aber er ist nicht … ist nicht mehr …«

Sie winkte ab. »Ich nicht«, sagte sie mit grimmiger Miene. »Und manchmal bin ich darüber scheißerleichtert, wissen Sie? Das macht mehr Ärger, als es wert ist.«

Ich war interessiert genug, um ihr meinerseits eine Frage zu stellen. »Und was ist mit Ihrem Sohn? Ist sein Vater … noch da?«

Sie schnaubte. »Keine Ahnung. Ist besser so, glauben Sie mir. Wie auch immer, reden wir nicht über mich. Haben Sie Kinder? Enkelkinder?«

»Ja, zwei Kinder. Und einen Enkel.«

»Junge oder Mädchen?«

»Junge. Arthur.«

Sie grinste. »Ich wette, er ist ein richtiger Terrorkrümel.«

»Ja«, sagte ich. »Ein Terrorkrümel.« Aber sie war in Gedanken schon wieder woanders, starrte ins Leere, trommelte mit den Fingern den Takt der Jazzmusik mit, die im Hintergrund lief.

»Sie muss die Kinder da rausholen. Und Bob. Das ist das Problem«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu mir.

Ich schwieg und wartete darauf, dass sie mit ihren Grübeleien zu einem Ende kam. Frauen wie sie hatten in ihrem Leben immer irgendwelche Dramen. Gerade als ich mich fragte, ob es unhöflich wäre, Hanna um die Rechnung zu bitten, lehnte sich Angela zurück, rieb sich das Gesicht und seufzte laut.

»Stimmt, ich darf mich nicht einmischen«, sagte sie.

Ich neigte den Kopf und warf Hanna einen diskreten Blick zu.

Angela rieb sich die Nasenwurzel und schnaubte erneut. »Scheiße.«

Ich finde die Kraftausdrücke, mit denen Gespräche heutzutage gespickt sind, geschmacklos, hässlich und langweilig, obwohl es eher die ständige Wiederholung ist, die mir gegen den Strich geht, als die Worte selbst. Angela benutzte sie so unablässig, dass es fast wie eine Art Interpunktion wirkte, wobei jeder Punkt einen sauren Nachgeschmack hinterließ – in meinem Mund und in ihrem. Ihre Sprache war ebenso schmuddelig wie ihre abgewetzten Schuhe. Ich nahm meine Tasche und stellte sie auf den Schoß, bereit zum Aufbruch.

Hanna brachte die Rechnung. Als sie die Untertasse vor uns hinstellte, drückte sie kurz Angelas Schulter, aber bevor ich erkennen konnte, was die Geste wohl bedeutete, hatte Angela die Rechnung schon in der Hand. »Lassen Sie mal, ich mach das schon.«

Ich schüttelte den Kopf. »Oh, nein, bitte nicht.« Ich griff nach den Münzen in meinem Portemonnaie. Angela winkte ab. »Nein, schon gut. Ich hab mich Ihnen aufgedrängt, dann ist das hier das Mindeste.« Sie klatschte einen Fünfpfundschein auf den Tisch und nickte der wartenden Hanna zu.

»Das ist doch nicht nötig. Wirklich nicht. Aber danke.« Ich stand auf, verlegen wie immer am Ende einer Unterhaltung. Egal, ob es darum ging, Gespräche anzufangen oder zu beenden, ich bekam es einfach nicht hin. »Äh, dann auf Wiedersehen. Ich hoffe, Sie schaffen es, das … einzurenken.« Aber als ich mich zurückziehen wollte, schnappte sie sich ihre Tasche und stand auf. »Ich begleite Sie ein Stück, ich kann etwas frische Luft vertragen.« Jetzt war es an mir, leise zu fluchen.

Angela zündete sich eine Zigarette an, sobald wird draußen waren, und inhalierte ihre »frische Luft« mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen; der Bluterguss auf ihrer Wange färbte sich bereits dunkel. Sie sah mich an, und Rauch kringelte sich aus ihren aufgeblähten Nasenlöchern.

»Und wo ist Arthur jetzt?«

Ich wäre fast gestolpert, so verwirrt – und beleidigt – war ich über die Frage. Angela hatte etwas verstörend Direktes, Eindringliches an sich.

»Er lebt bei seinem Vater, meinem Sohn. In Australien. Sie sind vor drei Jahren dorthin gezogen.« Ich brachte die Worte nur mühsam über die Lippen, alles in mir sträubte sich dagegen. Angela starrte mich eine Sekunde lang an, dann wandte sie den Blick ab und trat nach einem heruntergefallenen Blatt.

»Schöne Scheiße«, sagte sie. »Und wie ist er so?«

Wieder hatte ich einen Kloß der Beklemmung im Hals. »Er ist vier. Und er liebt Lego, Fußball und Batman, das Übliche bei einem Jungen in seinem Alter, schätze ich.« Ich brach ab, doch dann merkte ich, dass ich es nicht dabei belassen konnte. »Ich sehe ihn nicht oft, aber wenn … Er ist immer mit irgendetwas beschäftigt. Spielen, rennen, kämpfen. Er sitzt kaum still, sprudelt über vor Energie, die ganze Zeit, und wenn er ausnahmsweise einmal innehält, möchte man ihn … festhalten, irgendwie verankern. Es ist schwer, mit seiner Entwicklung Schritt zu halten. Aber ich möchte es gern. Am liebsten würde ich eine Version von ihm in jedem Alter behalten. Er wird immer größer. Aber mir fehlen all die Babys und Jungs, die er einmal gewesen ist, ich möchte sie alle zurückhaben.« Ich verstummte peinlich berührt.

Angela nickte langsam. »Ja, das kann ich mir vorstellen.«

»Und Otis?«

»Er ist so ein lieber Junge«, sagte sie. »Überhaupt nicht wie ich. Und überhaupt nicht wie sein Vater, Gott sei Dank. Er hat keine dunklen Seiten, keine scharfen Ecken und Kanten. Manchmal kriege ich richtig Angst vor der Liebe. Früher war ich knallhart – das musste ich sein, bei meinem Job –, aber seit ich ihn habe, ist das anders, er hat mich verändert.«

»Er hat Sie weich geklopft«, sagte ich.

»Genau. Er hat mich weich geklopft, der kleine Scheißer, wie ein Steak. Ich bin nicht mehr so gut in meinem Job wie früher.«

Ich mochte sie zwar immer noch nicht besonders, aber sie hatte Otis, und ich hatte Arthur. »Sylvie hat gesagt, Sie sind Journalistin?«

»Ja, aber Freelancerin, da muss man sich immer ganz schön abstrampeln, um Geld ranzuschaffen.« Sie schaltete wieder in den Verhörmodus. »Sie sind im Ruhestand, stimmt’s? Was haben Sie denn früher gemacht?«

»Ich war Bibliothekarin. Bevor die Kinder kamen.«

»Heutzutage machen viele Bibliotheken dicht«, erwiderte sie düster.

»Tja, hier wohne ich«, sagte ich, die Hand auf das Zauntor gelegt.

Angela sah nach oben. »Du meine Fresse, das ganze Haus ist Ihres? Ich wohn gleich die Straße runter, in einer Dachgeschosswohnung. Die reinste Sardinenbüchse. Und Sie haben wirklich das ganze Haus für sich?«

»Wir haben es in den Sechzigerjahren gekauft. Da war die Gegend noch nicht so gentrifiziert.« Ich dachte an die Straßenschlachten, die Streiks, die Einbrüche. Die Müllhaufen auf den Straßen. Damals waren wir Pioniere gewesen.

Ich fand mich damit ab, dass Angela offenbar mit hineinkommen wollte, trotzdem wagte ich einen letzten Akt des Widerstands. »Und wo ist Otis jetzt?«, fragte ich in der Hoffnung, ihr würde wieder einfallen, dass sie ihn abholen musste.

»Bei der Tagesmutter«, murmelte sie, den Blick weiter nach oben gerichtet. »Das ganze Haus. Wahnsinn.«

Als ich die Haustür aufschloss, spürte ich, wie sie hinter mir erwartungsvoll von einem Fuß auf den anderen trat. Wir gingen hinein.

Ich hatte den Flur 1964 zum ersten Mal betreten. Hochschwanger und eingeschüchtert von der breiten, geschwungenen Treppe war ich nach links gewatschelt und hatte einen entzückenden Salon entdeckt. Sonnenlicht fiel durch ein riesiges Erkerfenster auf die lackierten Holzdielen, Hell auf Dunkel, Staubpartikel tanzten in den Lichtstrahlen, zwischen denen ich hindurchschlenderte. Unmöbliert, wie das Haus war – die Vorbesitzerin war gestorben, und anscheinend war die Verwandtschaft schon hier eingefallen und hatte sich alles unter den Nagel gerissen –, hatte es etwas von einem unbeschriebenen Blatt gehabt. Während Leo mit dem Makler über feuchte Flecken diskutierte, flüsterte das Haus mir zu, dass es mir gehörte.

Heute reißen die Menschen, wenn sie in ein altes Haus ziehen, erst mal alles heraus und entkernen es. Neue Hausbesitzer sind versessen darauf, allem »ihren Stempel aufzudrücken« – was für ein aggressiver Ausdruck, als könnte man einem Haus seine Persönlichkeit aufzwingen. Wir zogen es vor, den Eigencharakter des Hauses durchschimmern zu lassen, und veränderten nichts, ließen nur die Zimmer für die Kinder neu streichen. Genau genommen sah es heute – bis auf allgemeine Renovierungsarbeiten – immer noch genauso aus wie damals, als Miss Edith Crawshay darin gestorben war.

»Scheiß die Wand an«, sagte Angela beim Anblick der Küche. »Es ist, als wäre man in einer verdammten Zeitschleife.« Sie war wohl tatsächlich etwas altmodisch – die Schränke stammten noch aus den 1950ern. Es gab einen AGA-Herd, der nicht so recht in ein Stadthaus zu passen schien, aber er funktionierte einwandfrei, was ich demonstrierte, indem ich einen Wasserkessel auf die Kochplatte stellte. Doch Angela war schon davongeschlichen, um sich im Rest des Hauses umzusehen. Ich eilte ihr nach, um zu verhindern, dass sie …

Leos Arbeitszimmer. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Wie konnte sie es wagen, einfach in mein Haus zu platzen und überall herumzuschnüffeln? Doch als ich den Mund öffnete, um ihr Vorwürfe zu machen, drehte sie sich um, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck solcher Verblüffung, dass ich zögerte.

»Oh, Millicent«, hauchte sie. »Das ist ja sensationell.« Ehrfürchtig strich sie über Leos John Milton. »Das ist ja die reinste Fundgrube. Nicht zu fassen!«

»Das gehört meinem Mann«, sagte ich, nahm es ihr aus der Hand und stellte es zurück ins Regal.

»Was für ein Sammler«, sagte sie, ohne meine Reaktion zu bemerken, und ging zu seiner verstaubten Dickens-Sammlung hinüber. »Ist er das?« Sie hatte sich zu seinem Schreibtisch umgedreht und nahm ein Foto von uns in die Hand, das kurz nach unserer Hochzeit aufgenommen worden war.

»Ja.«

»Sehr attraktiv«, bemerkte sie und sah mich abschätzig an. »Alle beide.« Sie nahm ein anderes Foto in die Hand. »Sind das Ihre Kinder? Der Sohn, der in Australien wohnt. Und was ist mit dem Mädchen?«

»Melanie. Sie lebt in Cambridge.« Ich widerstand dem Drang, ihr den Bilderrahmen aus der Hand zu reißen.

»Sehen Sie sie oft?« Sie war zur historischen Abteilung weitergegangen.

»Nein. Sie hat viel zu tun. Sie ist Dozentin an der Universität.«

Melanie, wie sie in der Küche vor mir zurückwich. »Was du getan hast … es war nicht falsch … Mach dir keine Vorwürfe …«

»Und wer ist Leonard Carmichael?« Angela deutete auf ein Regal, das mit seinen Werken gefüllt war – auf allen Buchrücken prangte sein Name.

»Mein Mann«, sagte ich mit nur leicht zitternder Stimme. »Er hat historische Biografien verfasst. Hauptsächlich von Politikern.«

Wortlos sah sie mich an, dann begann der Wasserkessel zu pfeifen, und ich eilte in die Küche, um Tee aufzusetzen. Als ich ihn ins Wohnzimmer brachte, war sie schon da, schaukelte auf den Fersen und blickte sich mit offenem Mund um.

»Haben Sie vor Kurzem einen Flohmarkt abgehalten oder so?« Sie machte eine alles umfassende Handbewegung.

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja … es ist ein bisschen kahl hier, oder?«

Abgesehen von dem Überwurf und der Lampe, die ich neulich Abend geholt hatte, gab es außer dem Sofa, dem Hocker, der als Couchtisch diente, und dem Fernseher auf einem Unterschrank nicht viele Möbel. Keine Teppiche, keine Bilder an den Wänden, kein Krimskrams jeglicher Art. Ich konnte Unordnung nicht ausstehen. Als die Kinder noch klein waren, hatte ich das Gefühl, darin zu ertrinken, und verbannte nach und nach alles auf den Dachboden, denn je weniger Zeug um mich herumstand, desto ruhiger wurde ich. Leo war es egal – solange er seine Bücher hatte, war er glücklich.

»Das meiste steht auf dem Speicher.«

Angelas Augen leuchteten bei dem Gedanken an all die unentdeckten Schätze auf, aber in dieses Wespennest würden wir ganz sicher nicht stechen. Sie trank ihren Tee und beklagte sich über einen drohenden Abgabetermin. Dann sagte sie, sie würde gern einen Artikel schreiben über »die Häuser, die aus der Zeit gefallen sind« und meins dafür als Beispiel benutzen – als würde ich etwas derart Abgeschmacktes auch nur in Erwägung ziehen. Aber als sie auf dem Weg zur Haustür mit dem Finger über das Geländer strich und einen letzten Blick zu dem in die Jahre gekommenen Kronleuchter über dem Treppenabsatz hinaufwarf, drückte sie plötzlich verschwörerisch meinen Arm.

»Wie wär’s, wenn Sie mir Ihre Nummer geben? Ich hab am Freitag frei und wollte mit Otis in den Park gehen. Sie könnten uns begleiten. Er würde sich freuen. Er hat keine Großmutter, zumindest nicht in diesem Land.«

Das war natürlich Unsinn. Otis hatte mich kaum beachtet. Aber mein Gesicht rötete sich vor Freude, als ich meine Nummer in ihr Handy tippte.

»Vielleicht«, sagte ich. »Wenn das Wetter schön ist.« Ich schloss die Tür hinter ihr und gestattete mir einen seltenen Moment des Triumphes. Zumindest gab es jetzt etwas, das ich Alistair schreiben konnte.