Einleitung

Ich war in meinem ganzen Leben nie glücklich.« So lautet die Selbstbeschreibung von Georgina(1) Sand, die über achtzig Jahre alt war, als ich sie interviewte. »Ich bin nie wirklich an einem Ort daheim gewesen. Wenn ich in England(1) bin, betrachte ich mich immer noch als Flüchtling. Obwohl ich, wenn ich gefragt werde, woher ich komme, manchen Gesprächspartnern sagen muss, dass ich schon länger hier lebe, als sie auf der Welt sind. Aber wenn ich in Wien(1) bin, fühle ich mich nicht als(1) Österreicherin. Ich habe das Gefühl, eine Fremde zu sein. Das Gefühl, eine Heimat zu haben, ist verloren.«1

Äußerlich wirkt Georgina(2) elegant und selbstsicher. Sie ist intelligent und gebildet und scheut nie davor zurück, ihre Meinung zu sagen. Sie lacht auch viel, sei es über die Absurditäten des Lebens oder über sich selbst und die Eigenheiten und exzentrischen Züge ihrer Familie, die sie liebevoll beschreibt.

Sie weiß, dass es in ihrem Leben vieles gibt, für das sie dankbar sein muss. Sie war mehr als fünfzig Jahre mit ihrer mittlerweile verstorbenen Jugendliebe Walter(1) verheiratet, mit dem sie mehrere Kinder bekam. Sie hat ein Enkelkind, auf das sie sehr stolz ist. Sie hat sich als Malerin einen Namen gemacht und ihre Werke in Großbritannien(2) und Österreich(2) ausgestellt. Sie führt ein Leben, das die meisten Menschen als annehmlich bezeichnen würden, und wohnt in einer schicken Londoner(1) Wohnung an der Themse mit Blick auf St. Paul’s Cathedral.

Aber hinter ihrem Lächeln, hinter ihren Erfolgen, ihrer Eleganz und ihren scheinbar angenehmen Lebensumständen verbirgt sich eine grundlegende Verunsicherung. »Ich bin sehr unsicher, bin es immer gewesen … Ich habe mein Leben in ständiger Besorgnis geführt … Beispielsweise hatte ich stets übermäßige Angst um meine Kinder. Ich lebte immer in der Sorge, ich könnte sie verlieren. Noch heute träume ich, dass ich sie irgendwo verloren habe. Diese Unsicherheit ist immer da … Mein Sohn sagt, dass in unserem Haus stets ein unterschwelliges Unbehagen herrschte.«

Sie weiß genau, woher dieses Unbehagen kommt. Es hat seinen Ursprung in den Erfahrungen, die sie und ihr Ehemann im Zweiten Weltkrieg(1) machten. Sie bezeichnet diese Erfahrungen geradeheraus als »traumatisch«. Der Krieg veränderte ihr Leben vollkommen und unwiderruflich, und die Erinnerung an das, was er ihr angetan hat, quält sie noch heute. Dennoch fühlt sie sich verpflichtet, ihre Geschichte zu erzählen, weil sich diese Geschehnisse nicht nur auf ihr eigenes Leben, sondern auch auf das ihrer Familie und ihrer Umgebung ausgewirkt haben. Sie spürt den Widerhall ihrer Geschichte in der Welt. Was sie erlebte, veränderte das Leben von Millionen Menschen wie Georgina(3) in ganz Europa(1) und darüber hinaus. Ihre individuelle Geschichte ist ein Sinnbild für unsere Epoche.

Georgina(4) wurde im Jahr 1927 in Wien(2) geboren, zu einer Zeit, als die Stadt ihren Status als Mittelpunkt eines Großreichs verloren hatte und auf der Suche nach einer neuen Identität war. Als Hitler(1) an der Spitze seiner Truppen im Jahr 1938 in Wien einzog, jubelten die Menschen in den Straßen der Hauptstadt des verschwundenen Habsburgerreichs. Die Österreicher(3) träumten von einer Rückkehr zu früherer Größe, die ihnen ihrer Meinung nach zustand. Georgina hatte keinen Grund zum Feiern, denn sie war Jüdin. Wenige Tage nach dem »Anschluss« wurde sie in der Schule angewiesen, sich in die letzte Reihe zu setzen, und einige ihrer Freundinnen eröffneten ihr, dass ihnen ihre Eltern jeden Kontakt mit ihr, dem jüdischen(1) Mädchen, verboten hatten. Sie sah, wie die Schaufenster jüdischer Geschäfte mit antisemitischen Parolen beschmiert und wie orthodoxe Juden auf der Straße schikaniert wurden. Einmal sah sie, wie sich Passanten auf der Straße um mehrere jüdische Männer scharten, die gezwungen wurden, Spucke vom Pflaster aufzulecken. »Und die Zuschauer lachten und trieben sie an. Es war entsetzlich.«

Georginas(5) Familie hatte noch weitere Gründe, sich vor der nationalsozialistischen(1) Machtergreifung zu fürchten: Ihr Vater stand als aktiver Kommunist(1) bereits unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden. Als er zu der Überzeugung gelangte, dass die Situation nach dem Anschluss zu gefährlich geworden war, setzte er sich nach Prag(1) ab. Zwei Monate später folgten ihm seine Frau und seine Tochter. Unter dem Vorwand, zu einem Picknick aufs Land zu fahren, packten sie ein paar Habseligkeiten zusammen und nahmen einen Zug bis zur Grenze, wo sie von einem »sonderbaren Mann« in Empfang genommen und in die Tschechoslowakei(1) geschmuggelt wurden.

Im folgenden Jahr lebte die Familie in der Prager Wohnung von Georginas(6) Großvater, doch ihr Glück währte nicht lange. Als die deutschen(1) Truppen in der tschechoslowakischen(2) Hauptstadt einmarschierten, tauchte Georginas Vater erneut unter. Um ihre Tochter in Sicherheit zu bringen, schrieb die Mutter Georgina in das britische(3) Kindertransportprogramm ein, das gefährdete Kinder dem Zugriff der Nationalsozialisten(2) entzog. Ihr Großvater, der Großbritannien(4) mehrfach besucht hatte, sagte ihr, dass sie dort bei einer reichen Familie in einem großen Haus wohnen werde. Ihre Mutter versprach, ihr bald nach London(2) zu folgen. So wurde die elfjährige Georgina in einen Zug gesetzt und nach Großbritannien(5) geschickt, wo sie unter Fremden leben würde. Sie sollte ihre Mutter nie wiedersehen.

An einem Sommertag im Jahr 1939 traf Georgina(7) voller Vorfreude in London(3) ein. Ihr war nicht bewusst, dass für sie ein neues Leben begonnen hatte; sie fühlte sich wie auf einer Urlaubsreise. Doch ihre Begeisterung verflog rasch. Zunächst wurde sie in der Familie eines Militärangehörigen untergebracht. Die Leute wirkten kalt und verdrießlich, insbesondere die Mutter. »Sie hatte zwei Söhne, und ich glaube, sie hatte sich ein verschmustes kleines Mädchen gewünscht. Aber ich weinte unentwegt, weil ich meine Familie vermisste.«

Als Nächstes wurde sie bei einem alten Ehepaar untergebracht, das in einem feuchten, heruntergekommenen Haus – tatsächlich war es ein Elendsquartier – in einem Armenviertel von Reading(1) wohnte. »Dort wurde ich abgeladen. Buchstäblich abgeladen. Vermutlich bezahlten sie [die Behörden] ein wenig Geld für meinen Unterhalt, aber die Leute waren nicht in der Lage, für mich zu sorgen. Ich war sehr, sehr unglücklich. Im Haus lebte auch ihr Enkel, der bereits ein erwachsener Mann war. Er bedrängte mich und versuchte, unangenehme Dinge mit mir zu tun … Ich fürchtete mich so sehr vor ihm.«

In den folgenden sechs Monaten begann Georgina(8), unter Furunkeln unter den Achseln zu leiden. Sie lebte in wachsender Furcht vor dem Enkel ihrer Pflegeeltern. Schließlich wurde sie von ihrem Vater gerettet, dem es gelungen war, sich nach Großbritannien(6) durchzuschlagen. Aber er konnte sich nicht lange um seine Tochter kümmern, weil ihn die britischen Behörden, die misstrauisch gegenüber Deutschsprachigen waren, als potentiell feindlichen Ausländer internieren wollten. Also wurde Georgina erneut zu einer Pflegefamilie geschickt, diesmal an die Südküste Englands(7).

Es begann eine Reihe von Ortswechseln, die das Leben des heranwachsenden Mädchens prägen sollten. Nach kurzer Zeit wurde die Bevölkerung an der Südküste aus Furcht vor einer deutschen(2) Invasion evakuiert. Georgina(9) verbrachte eine Weile im Lake District(1) und wurde anschließend in ein Internat in Nordwales(1) geschickt, bevor sie im Herbst 1943 nach London(4) zurückkehren konnte, um bei ihrem Vater zu leben. Sie blieb nie länger als ein oder zwei Jahre an einem Ort und entwickelte eine Furcht vor den Engländern, die sie anscheinend nicht richtig verstanden oder sich nicht für sie interessierten.

Als der Krieg endete, war Georgina(10) siebzehn Jahre alt. Ihr größter Wunsch war es, endlich wieder mit ihrer Mutter zusammen zu sein. Sie kehrte nach Prag(2) zurück, wo es ihr gelang, ihre Tante ausfindig zu machen. Aber ihre Mutter war spurlos verschwunden. Ihre Tante erzählte ihr, dass viele Juden(2) aus ihrem Bekanntenkreis ins Konzentrationslager(1) Theresienstadt(1) gebracht worden waren. Georginas Mutter war in einem Zug nach Auschwitz(1) gelandet, wo sie mit einiger Sicherheit gestorben war.

Die Erinnerungen an jene Zeit quälen Georgina(11) bis zum heutigen Tag: das unstete Leben an wechselnden Orten, der Verlust der Mutter, die Angst und Ungewissheit im Krieg und in den Jahren danach und das unterschwellige, nie vollkommen eingestandene Gefühl der Bedrohung durch neue Gewalt. Obwohl Georgina nun seit 1948 in London(5) lebt, kann sie die zehn chaotischen Jahre zwischen ihrem zehnten und zwanzigsten Lebensjahr nicht vergessen. Es ist ihr klar, dass die Flucht unendlich viel besser war als die Alternative. Aber der Gedanke daran, was vermutlich mit ihr geschehen wäre, wäre sie in Mitteleuropa geblieben, tröstet sie nicht. Sie kann die Gedanken an das Leid ihrer Angehörigen und Freunde in den Konzentrationslagern nicht ertragen, aber sie kann es auch nicht vermeiden, an sie zu denken. Noch heute kann sie sich nicht überwinden, sich Filme über die Deportation von Juden(3) anzusehen – aus Furcht, ihre Mutter unter den Opfern wiederzuerkennen.

Und sie leidet unter den Gedanken an das, was hätte sein können: »Bei meinen Reisen nach Wien(3) oder wenn ich immer wieder meine Tante in Deutschlan(1)d(3) besuchte, sah ich Familien – gesunde, schöne Familien mit kleinen Kindern. Ich bin nie Ski gefahren, aber manchmal fuhr ich in die Berge und sah den Kindern zu, die alle Deutsch sprachen und gesund und kräftig waren. Und ich dachte, ich hätte ein besseres Leben haben können. Ich hätte in einer sicheren Umgebung in meiner Familie aufwachsen können. Ich hätte wissen können, wohin ich gehörte. Aber ich habe eigentlich nie irgendwohin gehört.«

Georginas(12) Geschichte interessiert mich aus drei Gründen. Erstens bin ich als Historiker, der sich mit dem Zweiten Weltkrieg(2) und seinen Nachwirkungen beschäftigt, ein leidenschaftlicher Sammler von Geschichten. Georginas Geschichte ist einer von 25 Lebensberichten, die ich in dieses Buch aufgenommen habe – jedes Kapitel geht von einem dieser persönlichen Erfahrungsberichte aus. Einige dieser Geschichten habe ich selbst in Interviews oder E-Mail-Korrespondenzen gesammelt, andere stammen aus Archivdokumenten oder Memoiren. Es sind Geschichten berühmter Personen darunter und solche von Menschen, die außer ihren Familien und Freunden niemand kennt. Es handelt sich um eine kleine Auswahl von Hunderten, die ich studiert habe und die stellvertretend für die Tausende – Millionen – individuellen Schicksale stehen, die unsere gemeinsame Geschichte bilden.

Der zweite und wichtigere Grund ist, dass Georgina(13) zu meiner Familie gehört. Sie ist mit meiner Frau verwandt. Was sie zu erzählen hat, erklärt die Geschichte dieses Zweigs meines Familienstammbaums – ihre Befürchtungen und Ängste, ihre Obsessionen, ihre Sehnsüchte, die teilweise unbemerkt, wie durch eine Art von Osmose, an meine Frau, an mich und an unsere Kinder weitergegeben wurden. Kein Mensch ist der alleinige Eigentümer seiner Erfahrung: Sie ist Teil eines Erinnerungsnetzes, das Familien und Gemeinschaften gemeinsam knüpfen. Das gilt auch für Georginas Geschichte.

Der letzte und – zumindest im Kontext dieses Buches – wichtigste Grund ist, dass ihre Geschichte emblematisch ist. So wie Georgina(14) wurden Hunderttausende europäische(2) Juden(4) – jene, die den Krieg überlebten – aus ihren Häusern vertrieben und über den Erdball verstreut. Man findet diese Menschen und ihre Nachkommen heute in allen großen Städten von Buenos Aires(1) bis Wladiwostok(1). Wie Georgina wurden Millionen andere Deutschsprachige – insgesamt vermutlich zwölf Millionen Menschen – in der chaotischen Nachkriegszeit entwurzelt und aus ihren Häusern vertrieben. Solche Geschichten ereigneten sich nicht nur in Europa(3), sondern auch in China(1), Korea(1) und Südostasien(1), wo Dutzende Millionen vertrieben wurden, sowie in Nordafrika(1) und dem Nahen Osten(1), wo die Zusammenstöße großer Armeen im Zweiten Weltkrieg(3) zu gewaltigen Verwerfungen führten. Ein schwächeres, aber unüberhörbares Echo finden diese Ereignisse auch in den Geschichten von Flüchtlingen, die Opfer späterer Konflikte wurden, welche ihren Ursprung ebenfalls im Zweiten Weltkrieg hatten, zum Beispiel jener in Korea, Algerien(1), Vietnam(1) und Bosnien(1). Diese Flüchtlinge haben ihre Erinnerungen wie Georgina an ihre Familien und ihre Gemeinschaften weitergegeben, und ihre Geschichten sind in das Gedächtnis von Nationen und Diasporas in aller Welt eingebrannt.

Je eingehender ich mich mit den Ereignissen beschäftige, die Georgina(15) und andere Menschen in jener Epoche erlebten, desto tiefgreifender und weitreichender scheinen mir ihre Auswirkungen. Der Zweite Weltkrieg(4) war nicht einfach eine weitere Krise, sondern er hatte direkte Auswirkungen auf eine größere Zahl von Menschen als jeder andere Konflikt in der Geschichte. Über 100 Millionen Männer und Frauen wurden mobilisiert – an keinem anderen Krieg einschließlich des Ersten Weltkriegs nahmen auch nur annähernd so viele Menschen teil. Rund um den Erdball wurden Hunderte Millionen Menschen in den Konflikt hineingezogen, nicht nur als Flüchtlinge wie Georgina, sondern auch als Fabrikarbeiter, als Lieferanten von Proviant oder Treibstoff, als Anbieter von Unterhaltung und Entspannung, als Gefangene, Arbeitssklaven(1) – und natürlich als Angriffsziele. Zum ersten Mal in der neueren Geschichte überstieg die Zahl der zivilen Opfer jene der getöteten Soldaten deutlich, und zwar nicht um Millionen, sondern um zig Millionen. Im Zweiten Weltkrieg wurden viermal mehr Menschen getötet als im Ersten Weltkrieg. Und auf jeden dieser Toten kamen Dutzende, die indirekt von den mit dem Krieg einhergehenden wirtschaftlichen und psychologischen Umwälzungen betroffen waren.2

Als die Welt sich von den Zerstörungen zu erholen begann, wurden ganze Gesellschaften umgekrempelt. Die Landschaften, die aus den Trümmern entstanden, sahen vollkommen anders aus als jene, die im Krieg zerstört worden waren. Städte erhielten andere Namen, Volkswirtschaften andere Währungen, Menschen andere Nationalitäten. Gemeinschaften, die jahrhundertelang homogen gewesen waren, wurden plötzlich von Fremden unterschiedlichster Nationalität, Ethnie und Hautfarbe überflutet, von Menschen wie Georgina(16), die sich in den neuen Gemeinschaften nicht heimisch fühlten. Ganze Völker wurden befreit oder erneut versklavt(2). Großreiche lösten sich auf und wurden durch neue ersetzt, die ebenso prächtig, ebenso grausam waren wie ihre Vorgänger.

Die allgemeine Sehnsucht nach einem Mittel gegen den Krieg brachte eine Vielzahl neuer Vorstellungen und zahlreiche Innovationen hervor. Wissenschaftler(1) träumten davon, neue, vielfach im Krieg entwickelte Technologien zu nutzen, um die Welt zu einem besseren, sichereren Ort zu machen. Architekten träumten von neuen Städten, die sich aus den Trümmern der alten erheben sollten, von Städten mit besseren Wohnungen, helleren öffentlichen Plätzen und zufriedeneren Einwohnern. Politiker, Ökonomen und Philosophen träumten von egalitären Gesellschaften, die zentral geplant und effizient betrieben werden sollten, damit alle ihre Mitglieder glücklich sein würden. Überall tauchten neue politische Parteien und neue moralische Bewegungen auf. Einige dieser Veränderungen beruhten auf Vorstellungen, die aus früheren Umwälzungen wie dem Ersten Weltkrieg oder der Oktoberrevolution hervorgegangen waren, andere waren vollkommen neu – aber selbst die Ideen, die schon länger in der Welt waren, wurden ab 1945 mit einer Geschwindigkeit und einem Gefühl der Dringlichkeit verwirklicht, die zu jeder anderen Zeit undenkbar gewesen wären. Die überwältigende Gewalt des Krieges, seine unvergleichliche, entsetzliche Brutalität und seine ungeheure Ausdehnung hatten ein neuartiges, universelles Bedürfnis nach Veränderungen geweckt.

Ein Wort war in aller Munde: Freiheit. Franklin D. Roosevelt(1), der die Vereinigten Staaten(1) im Krieg geführt hatte, hatte von vier Freiheitsrechten gesprochen: Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit(1), Freiheit von Not und Freiheit von Furcht. In der in Absprache mit dem britischen(8) Premierminister Winston Churchill(1) formulierten Atlantikcharta war das Recht der Völker festgehalten, die Form ihrer Regierung frei zu wählen. Die Kommunisten(2) sprachen über die Freiheit von Ausbeutung, während die Ökonomen vom freien Handel und freien Märkten sprachen. Und einige der einflussreichsten Philosophen und Psychologen sprachen von noch grundlegenderen Freiheiten, die sie als unverzichtbaren Bestandteil des Menschseins betrachteten.

Der Aufruf wurde rund um den Erdball gehört, auch in jenen Ländern, die vom Krieg nicht berührt worden waren. Schon im Jahr 1942 forderte der nigerianische(1) Staatsmann Kingsley Ozumba Mbadiwe(1), Freiheit und Gerechtigkeit müssten auch auf die Kolonien ausgeweitet werden, sobald der Krieg gewonnen sei: »Afrika(1) wird keinen anderen Preis als die Freiheit akzeptieren.«3 Zu den engagiertesten Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen zählten die zentral(1)- und südamerikanischen(1) Länder, die auf die Entstehung eines internationalen Systems hofften, in dem »Ungerechtigkeit und Armut aus der Welt verbannt« würden, und von einer neuen Ära träumten, in der große und kleine Nationen »gleichberechtigt zusammenarbeiten« würden.4 Der Wind des Wandels blies überall auf der Welt.

Nach Aussage des amerikanischen(2) Politikers Wendell Willkie(1) war die Atmosphäre im Zweiten Weltkrieg(5) deutlich revolutionärer als im Ersten. Als er im Jahr 1942 von einer Weltreise nach Washington(1) zurückkehrte, äußerte er sich begeistert darüber, wie Menschen in aller Welt darum kämpften, den Imperialismus abzuschütteln, ihre Menschen- und Bürgerrechte durchzusetzen und eine neue Gesellschaft zu errichten, die »auf Unabhängigkeit und Freiheit beruhen« sollte. Willkie empfand diese Bewegungen als inspirierend, denn rund um den Erdball schienen die Menschen von einer neuen Zuversicht erfüllt, »dass sie mit Freiheit alles erreichen können«. Aber er gestand auch, dass diese Atmosphäre etwas Beängstigendes an sich habe: Die Menschheit schien nicht in der Lage, sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen. Sollte es ihr nicht gelingen, bis zum Kriegsende ein solches Ziel zu definieren, so sah Willkie einen Zusammenbruch des Geists der Zusammenarbeit voraus, der die Alliierten(1) während des Kampfs beherrschte; die Folge würde eine Rückkehr derselben Unzufriedenheit sein, die zum Krieg geführt hatte.5

So brachte der Zweite Weltkrieg(6) die Saat nicht nur einer neuen Freiheit, sondern auch einer neuen Furcht aus. Kaum war der Krieg vorüber, da begannen die Völker, ihre Verbündeten erneut misstrauisch zu beäugen. Die Spannungen zwischen den europäischen(4) Mächten und ihren Kolonien, zwischen Rechten und Linken, vor allem aber zwischen den USA und der Sowjetunion(1) traten wieder zutage. Nachdem sie gerade erst eine beispiellose globale Katastrophe überstanden hatten, begannen sich die Völker der Welt Sorgen zu machen, dass ein neuer, noch größerer Krieg bevorstehe. Die von Georgina(17) Sand beschriebene »Grundstimmung des Unbehagens« war nach 1945 ein weltweites Phänomen.

Möglicherweise ist Georginas(18) Geschichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch diesbezüglich emblematisch. Als der Krieg für beendet erklärt worden war, kehrte sie nach Prag(3) zurück, in der Hoffnung, das Gefühl der Zugehörigkeit wiederzufinden, das sie als Kind verloren hatte. Als sie es nicht fand, bemühte sie sich, ein neues Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Sie traf ihren Kindheitsfreund Walter(2) wieder und verliebte sich in ihn. Sie heiratete, fand neue Freunde und wurde sesshaft. Von jugendlicher Zuversicht erfüllt, blickte sie in eine strahlende Zukunft, obwohl immer noch der düstere Schatten des Kriegs über ihrem Leben lag. Selbst nachdem sie entdeckt hatte, dass ihre Mutter tot war, war sie überzeugt, dass es ihr gelingen würde, das Elend der Kriegsjahre hinter sich zu lassen, denn sie wollte in die Zukunft blicken und sich neu erfinden. Sie wollte frei sein.

Leider hatten die tschechoslowakischen(3) Behörden andere Vorstellungen. Als im Jahr 1948 die Kommunisten(3) an die Macht kamen, wurden Georgina(19) und Walter aufgefordert(3), dem neuen Regime und damit auch der sowjetischen(2) Supermacht Treue zu geloben. Da sie dazu nicht bereit waren, mussten sie einmal mehr fliehen. Ihre Flucht war symbolisch für eine weitere Konsequenz des Zweiten Weltkriegs(7): Der Kalte Krieg(1) hatte begonnen und spaltete die Welt zwischen West und Ost und zwischen Rechts und Links. Mitten durch Europa(5) verlief nun ein eiserner Vorhang(1), wie es Churchill(2) ausdrückte, und in den Entwicklungsländern kam es zu Revolutionen, Staatsstreichen und Bürgerkriegen. Noch mehr Flüchtlinge, noch mehr Geschichten.

In diesem Buch unternehme ich einen Versuch, die bedeutsamen destruktiven und konstruktiven Veränderungen zu beschreiben, die der Zweite Weltkrieg(8) in der Welt auslöste. Dazu muss ich mich zwangsläufig mit den wichtigsten geopolitischen Entwicklungen befassen: mit dem Aufstieg der beiden Supermächte(4)(3), dem Beginn des Kalten Kriegs(2), dem langsamen Zerfall der europäischen(6) Kolonialreiche und so weiter. Und ich untersuche die wesentlichen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges: die Umgestaltung unserer physischen Umwelt, die gewaltigen Veränderungen der Lebensstandards, der globalen Demographie und des Welthandels, den Aufstieg und Fall der Systeme zur Kontrolle des freien Markts, den Beginn des Atomzeitalters. Vor allem aber versuche ich, einen Blick hinter die vordergründigen Geschehnisse und Entwicklungen zu werfen, um die mythologischen, philosophischen und psychologischen Auswirkungen des Krieges zutage zu fördern. Wie wirkte sich die Erinnerung an das Blutvergießen auf unsere Beziehungen zueinander und zur Welt aus? Wie veränderte sie unsere Vorstellung davon, wozu der Mensch imstande ist? Wie beeinflusste sie unsere Furcht vor Gewalt und Macht, unsere Sehnsucht nach Freiheit und Zugehörigkeit, unsere Träume von Gleichheit, Fairness und Gerechtigkeit?

Um die menschliche Dimension dieser Fragen greifbar zu machen, mache ich jedes Kapitel an der Geschichte einer Person fest, die wie Georgina(20) Sand den Krieg und die folgenden Jahre erlebte und nachhaltig von diesen Erfahrungen geprägt wurde. Ich verwende diese individuellen Geschichten als Ausgangspunkt, um dem Leser einen Blick auf das größere Bild zu ermöglichen, in das diese persönlichen Erfahrungen eingeordnet werden können – auf die Geschichte der Gemeinschaft dieser Person, ihres Landes, ihrer Region und der ganzen Welt. Hier handelt es sich nicht einfach um ein stilistisches Werkzeug: Diese Verknüpfungen sind unverzichtbar für die Botschaft, die ich vermitteln möchte. Ich behaupte nicht, dass die Geschichte einer einzelnen Person sämtliche Erfahrungen der übrigen Welt enthalten könnte, aber alles, was wir tun und in Erinnerung behalten – und insbesondere das, was wir einander über uns und unsere Vergangenheit erzählen –, enthält Elemente einer universellen Erfahrung. Die Geschichtsschreibung erfordert immer eine Abwägung zwischen dem Persönlichen und dem Universellen, und nirgendwo ist die Beziehung zwischen diesen beiden Sphären bedeutsamer als in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs(9).

Im Jahr 1945 herrschte weitgehende Einigkeit darüber, dass die Handlungen und Überzeugungen jedes einzelnen Menschen und folglich auch seine Erinnerungen und früheren Erfahrungen nicht nur ihn selbst, sondern auch die Menschheit insgesamt betrafen. In dieser Zeit begannen Psychoanalytiker wie S. H. Foulkes(1) und Erich Fromm(1), die Beziehung zwischen dem Individuum und den Gruppen zu untersuchen, denen es angehörte. »Die reale Grundlage des gesellschaftlichen Prozesses ist das Individuum«, erklärte Fromm im Jahr 1942. »Jede Gruppe besteht ja aus Individuen und aus nichts anderem als Individuen. Daher kann es sich bei den psychologischen Mechanismen, die wir bei einer Gruppe am Werk sehen, nur um Mechanismen handeln, die auch beim Einzelnen am Werk sind.«6 Die Soziologen und Philosophen jener Zeit beschäftigten sich ebenfalls mit der Beziehung zwischen Individuum und Gruppe: »Mich wählend, wähle ich den Menschen«, erklärte Jean-Paul Sartre(1) Ende 1945, und viele Existentialisten waren bemüht, allgemeine Schlüsse aus den Ereignissen zu ziehen, die sie im Krieg beobachtet hatten. Diese Grundsätze sind heute genauso anwendbar wie damals. Wir haben uns die Geschichten von Menschen wie Georgina(21) kollektiv angeeignet, so, als wären es unsere eigenen.7

Mir ist natürlich bewusst, dass die Geschichten, die Menschen erzählen, nicht immer der absoluten Wahrheit entsprechen. Die Berichte von Kriegsüberlebenden sind notorisch unzuverlässig: Sie vergessen Fakten, haben sie falsch in Erinnerung oder schmücken sie aus. Die Ansichten der Menschen über sich selbst oder ihre Taten können sich im Lauf der Zeit erheblich ändern, und wenn das geschieht, können sie zurückdatiert und als ursprüngliche Einschätzungen in die Erinnerung eingefügt werden. Nationen und Gesellschaften handeln kollektiv ähnlich. Die Mythen und Lügen, die wir uns in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg(10) erzählt haben, tragen genauso viel zu unserem Weltbild bei wie die Tatsachen. Der Historiker hat die Aufgabe, diese Geschichten den Quellen aus jener Zeit gegenüberzustellen und zu versuchen, sich ein Bild zu machen, das der objektiven Wahrheit möglichst nahekommt. Ich habe versucht, kein Urteil über die Personen zu fällen, deren Schilderungen ich weitergebe, selbst wenn ich persönlich nicht mit ihnen einverstanden bin. Da es hier um die Geschichte der Welt geht, beschränke ich mich in meiner Kritik stattdessen auf jene Fälle, in denen uns unsere kollektiven Emotionen in die Irre geführt und eine kollektive Erinnerung heraufbeschworen haben, die den historischen Tatsachen vollkommen widerspricht. Die individuellen Geschichten sind also einfach das: Geschichten. In ihrer Interaktion mit dem kollektiven Narrativ enden die Geschichten, und die Geschichte beginnt.

Ich habe versucht, Fallstudien aus aller Welt und aus verschiedenen politischen Perspektiven aufzunehmen, die teilweise weit von meinem eigenen politischen und geographischen Standpunkt entfernt sind. Es sind Geschichten aus Afrika(2) und Lateinamerika(2) sowie aus Europa(7), Nordamerika(1) und Asien(1), denn auf all diese Regionen hatte der Krieg erhebliche Auswirkungen. Doch der Anteil der Geschichten aus den direkt am Krieg beteiligten Weltregionen ist höher, denn diese erfuhren infolge des Krieges zweifellos größere Veränderungen. Die Vereinigten Staaten(5) sind überrepräsentiert. Dies liegt nicht – oder zumindest nicht nur – an meiner westlichen Voreingenommenheit, sondern trägt auch den Machtverhältnissen Rechnung, die der Krieg hervorbrachte: Ob es uns gefällt oder nicht, es hat einen Grund, dass das 20. Jahrhundert als das »amerikanische Jahrhundert« bezeichnet wird. Japan(1) spielt am Anfang des Buches ebenfalls eine wichtige Rolle, weil ich glaube, dass seine symbolische Bedeutung in den westlichen Darstellungen des Krieges unterrepräsentiert ist.

Der Leser wird in diesem Buch auch mehr Geschichten von Personen mit linken politischen Ansichten finden. Auch das ist beabsichtigt. Im Jahr 1945 erreichte die Linke vielleicht ihren größten Einfluss in der Weltgeschichte – jene mit progressiven und sogar offen kommunistischen(4) Vorstellungen beherrschten die politische Debatte wie nie zuvor. Aber es ist meine feste Überzeugung, dass niemand in seinen politischen Überzeugungen vollkommen konsistent ist, und ich habe Geschichten von Menschen aus beiden politischen Lagern berücksichtigt, deren Überzeugungen sich infolge ihrer Erfahrungen grundlegend wandelten.

Schließlich möchte ich von vornherein klarstellen, dass dieses Buch auch ein wenig herausfordernd sein soll. Auf den folgenden Seiten wird der Leser viel Vertrautes finden, aber hoffentlich wird er auch auf viele Dinge stoßen, die ihm weniger vertraut oder sogar fremd sind. In der heutigen Echokammerwelt, in der immer mehr Menschen nur noch mit Meinungen konfrontiert werden, die ihren eigenen entsprechen, ist es wichtiger als je zuvor, dass unsere Ansichten gelegentlich infrage gestellt werden und dass wir uns dieser Herausforderung stellen. Die Welt sieht sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie mit den Augen eines Soldaten oder eines Zivilisten, eines Mannes oder einer Frau, eines Wissenschaftlers oder eines Künstlers, eines Unternehmers oder eines Gewerkschafters, eines Helden, Opfers oder Kriminellen betrachtet wird. All diese Aspekte findet der Leser auf den folgenden Seiten. Ich möchte ihm jedoch raten, dieses Buch stattdessen mit den Augen eines Außenstehenden, genauer gesagt eines Flüchtlings, zu betrachten und seine vorgefassten Ansichten vorübergehend beiseitezulassen. Nur so kann er den Kontext des Folgenden verstehen. Mir selbst ist das schwergefallen. Historiker sind so voreingenommen wie alle anderen Menschen, und auf den folgenden Seiten habe ich versucht, aufrichtig mit einigen meiner vorgefassten Überzeugungen und meinem Weltbild umzugehen. Das eine oder andere Mal – zum Beispiel im Kapitel über den europäischen(8) Nationalismus nach dem Krieg – habe ich mich zu der schwierigen Entscheidung durchgerungen, meine eigenen Befürchtungen und Sehnsüchte zu beleuchten. Ich fordere die Leser auf, das gelegentlich ebenfalls zu tun.

Ein Historiker ist ebenfalls eine Art von Flüchtling: Wenn die Vergangenheit ein anderes Land ist, so eines, in das er unmöglich zurückkehren kann, so sehr er sich auch bemühen mag, es zu neuem Leben zu erwecken. Ich habe dieses Buch in dem Wissen in Angriff genommen, dass es bestenfalls eine verschwommene Darstellung der neuen Welt werden konnte, die aus den Trümmern von 1945 entstand. In jedem Fall hätte diese Welt unmöglich in ein einziges Buch passen können. Ich kann nur hoffen, dass die Bruchstücke, die ich gefunden und zusammengesetzt habe, meine Leser dazu inspirieren werden, weiter zu forschen und einige der fehlenden Fragmente selbst einzufügen.

Allerdings handelt dieses Buch in mancher Hinsicht eigentlich gar nicht von der Vergangenheit. Vielmehr untersuche ich, warum unsere Städte ihr heutiges Aussehen haben, warum unsere Gesellschaften so vielfältig sind und warum sich unsere Technologien auf eine bestimmte Art entwickelt haben. Ich versuche herauszufinden, warum niemand mehr an Utopien glaubt, warum wir die Menschenrechte(1) hochhalten, während wir sie aushöhlen, und warum niemand mehr an die Möglichkeit glaubt, unser Wirtschaftssystem reformieren zu können. Ich gehe der Frage nach, warum unsere Bemühungen um den Weltfrieden von Gewaltausbrüchen unterbrochen werden und warum nach Jahrzehnten politischer Verhandlungen und diplomatischer Bemühungen immer noch zahllose Streitigkeiten und gesellschaftliche Konflikte ungelöst sind. All diese Fragen füllen täglich unsere Zeitungen, und alle haben sie ihren Ursprung im Zweiten Weltkrieg(11).

Vor allem aber handelt dieses Buch von dem ewigen Konflikt zwischen unserem Streben nach Eintracht mit unseren Nachbarn und Verbündeten und unserem Wunsch, uns von ihnen abzugrenzen – dieser Widerspruch prägt seit dem Zweiten Weltkrieg(12) die internationale Politik und wirkt sich weiterhin auf unsere persönlichen und kollektiven Beziehungen aus. Unsere Natur, aber auch unsere Geschichte bringt uns in eine widersprüchliche Position, die weder vollkommen innerhalb noch zur Gänze außerhalb unserer Gemeinschaften liegt. Wie Georgina(22) Sand kann keiner von uns wirklich behaupten, dazuzugehören.