Am Morgen des 6. August 1945 war der Dozent Ogura Toyofumi(1) auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz in Hiroshima(1), als er etwas sah, das den Lauf der Geschichte ändern sollte. In etwa vier Kilometern Entfernung, genau über dem Stadtzentrum, explodierte ein blauweißer Blitz, der Ogura für einen Augenblick blendete wie das Blitzlicht eines Fotoapparats – aber derart gewaltig, dass der Himmel zu bersten schien. Ogura warf sich erschrocken auf den Boden. Eine monströse rote Feuersäule löste sich in einer gigantischen Rauchwolke auf, »wie Lava aus einem in der Luft ausgebrochenen Vulkan«. Wenige Augenblicke später ragte die Wolke mehrere Kilometer hoch auf.
Es war ein gleichermaßen erhabener wie entsetzlicher Anblick. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll«, erinnert sich Ogura. »Eine gewaltige, unbeschreibliche Rauchsäule stieg heftig brodelnd auf und verdunkelte den Großteil des wolkenlosen Himmels. Dann breitete sie sich aus, und der Staub begann herabzurieseln wie Regen aus einer riesigen, in ständig wechselnden Farben leuchtenden Gewitterwolke. Hier und da zuckten kleine Explosionen.«
Nie zuvor hatte Ogura etwas Vergleichbares gesehen. Einen Augenblick glaubte er, Zeuge eines göttlichen Zeichens zu sein, einer Feuersäule wie jener, die Moses sah, oder einer Manifestation des Weltenbergs Shumisen. Aber während ihm diese religiösen(2) und mythischen Bilder durch den Kopf schossen, wurde ihm klar, dass sie diesem ehrfurchtgebietenden Anblick nicht gerecht wurden. »Die einfachen Vorstellungen und Phantasiebilder aus alter Zeit halfen nicht, um dieses furchtbare Spektakel aus Wolken und Lichtern zu beschreiben.«1
Wenige Augenblicke später wurde Ogura von der atomaren(1) Druckwelle getroffen. Er presste sich auf den Boden. Rundum hörte er »den ungeheuerlichen Lärm von berstenden und weggerissenen Häusern und Bauwerken«. Er glaubte auch, Schreie zu hören, obwohl er im Nachhinein nicht mehr sicher war, ob sie real oder nur Produkte seiner Phantasie gewesen waren.
Als Ogura wenige Augenblicke später aufstand, wurde ihm bewusst, dass die gewohnte Umgebung verschwunden war. Dort, wo eben noch eine blühende Stadt – die siebtgrößte Japans(2) – gestanden hatte, gab es nur noch Schutt, Skelette von Häusern, rußgeschwärzte Ruinen. Vom Schock betäubt, stieg er auf einen Hügel in der Nähe, um die Verwüstung zu überblicken. Dann machte er sich auf den Weg ins Stadtzentrum, um sich genauer anzusehen, was geschehen war.
Was er sah, machte ihn sprachlos. »Hiroshima(2) existierte nicht mehr … Ich konnte es nicht glauben. Ich ging durch ein Meer aus rauchenden Trümmern und Schutt, aus dem hier und da ein in Rauch gehülltes Bauwerk aus Beton aufragte wie ein fahler Grabstein. Sonst war da nichts, so weit das Auge reichte … In der Ferne sah es genauso aus wie in unmittelbarer Nähe … So weit ich auch ging, das brennende und qualmende Ruinenmeer erstreckte sich zu beiden Seiten der Straße … Ich hatte erwartet, furchtbare Zerstörung zu sehen, aber ich war fassungslos beim Anblick eines weitläufigen Gebiets, das vollkommen ausgelöscht worden war.«2
Oguras(2) Beschreibung des Atombombenabwurfs(1) über Hiroshima(3) war eine der ersten, die in Japan(3) veröffentlicht wurden. Er schilderte seine Erlebnisse in mehreren Briefen an seine Frau, die der Detonation zum Opfer gefallen war. In diesen Briefen suchte er nach Antworten auf die Frage, wie es möglich war, dass sich seine Heimatstadt innerhalb weniger Sekunden von einer Welt voller Leben in eine tote Welt verwandelt hatte. Seine Schilderung enthält höllische Szenen, in denen es von grotesk deformierten Leichen und Überlebenden wimmelt, die so furchtbare Verletzungen erlitten haben, dass sie kaum als menschliche Wesen zu erkennen sind. Wir lesen vom »Inferno«, von den »buddhistischen Versionen der Hölle« und vom »glühenden Ende Sodoms und Gomorrhas«. Auf den letzten Seiten wird ein Taifun erwähnt, der Hiroshima einen Monat nach Kriegsende heimsuchte und den Autor an »die biblische Sintflut« erinnert. Damit will uns Ogura sagen, dass er nicht einfach die Zerstörung einer Stadt, sondern so etwas wie ein Armageddon erlebte, wie der englische(9) Titel seines Buches (Letters from the End of the World) belegt.3
Viele Überlebende von Hiroshima(4) beschrieben ähnlich apokalyptische Bilder. Die Dichterin Ota Yoko(1), von der ein weiterer früher Bericht über die Geschehnisse jenes Tages stammt, fand keine vernünftige Erklärung für die Geschwindigkeit, mit der alles Seiende ausgelöscht worden war: »Ich konnte einfach nicht verstehen, warum sich unsere Umgebung innerhalb eines Augenblicks vollkommen verändert hatte … Ich dachte, möglicherweise hätte es nichts mit dem Krieg zu tun, sondern dies sei der Zerfall der Erde, der sich am Ende der Tage ereignen sollte und über den ich als Kind gelesen hatte.«
Wie Ogura suchte sie nach einer übernatürlichen Erklärung und fragte sich, ob der Krieg vielleicht ein »kosmisches Phänomen« sei, Ausdruck eines gewaltigen, phantastischen Plans zur Zerstörung der Welt.4
Auch Tausende andere Überlebende glaubten zumindest eine Weile, Zeugen des Weltuntergangs zu sein. Jeder Forscher, der die Augenzeugenberichte aus Hiroshima(5) genau untersucht, stößt immer wieder auf dieselben Ausdrücke: »Szenen aus der Hölle«, »ein Meer von Flammen«, »eine Welt, so tot, dass nicht einmal mehr ein Schmerzensschrei zu hören war«, »brennende Feuerbälle regneten auf sie herab«, »das furchtbare Gefühl, der letzte lebende Mensch in der Welt zu sein«. Einige Überlebende können das, was sie an jenem Tag sahen, bis heute nicht mit der Welt vor dem Bombenabwurf in Einklang bringen – oder tatsächlich auch nicht mit der Welt, wie sie sich seit damals entwickelt hat: Es ist, als hätten sie etwas in einer anderen Realität erlebt, die nichts mit unserer zu tun hat. »Wenn ich auf jenen Tag zurückblicke«, schrieb ein Überlebender vierzig Jahre später, »habe ich das Gefühl, dass es nicht in der menschlichen Welt geschah, sondern dass ich die Hölle in einer anderen Welt sah.«5
Solche Eindrücke decken sich mit den Erfahrungen zahlloser anderer Zeugen ungezählter anderer Ereignisse, die sich im Zweiten Weltkrieg(13) rund um den Erdball zutrugen. So entsetzlich das Geschehen in Hiroshima(6) war, war es doch nur eines von vielen furchtbaren Ereignissen in einem weltweiten Konflikt, der Jahre dauerte. Der Osservatore Romano, die Zeitung des Vatikan(1), stellte am Tag nach Hiroshima fest, dass die Atombombe(2) etwas beängstigend Vertrautes an sich hatte: Sie war nur die letzte Episode in einem Krieg, dessen »apokalyptische Überraschungen« kein Ende nehmen wollten.6 Sogar einige der Menschen, die den Atombombenabwurf miterlebt hatten, gestanden sich ein, dass er lediglich der »hässliche Nachhall eines bereits beendeten Krieges« war. Ota Yoko(2) räumte in ihren Memoiren ein, dass ihr Erlebnis nur das Symptom von etwas sehr viel Größerem und Furchtbarerem gewesen sei, eine Katastrophe in einer nicht enden wollenden Abfolge »erstickenden, apokalyptischen Grauens«.7
Deutsche(4) Zivilisten machten ähnliche Erfahrungen wie die japanischen(4). Über Deutschland(5) wurde keine Atombombe(3) abgeworfen, aber seine Städte litten noch mehr als die japanischen(5) unter jahrelangen konventionellen Flächenbombardements, die ebenso katastrophale Auswirkungen hatten. Beispielsweise wurde Hamburg(1) im Jahr 1943 tatsächlich ausradiert, als eine Kombination von Sprengstoff und Brandbomben einen Feuersturm auslöste, der die ganze Stadt aufzehrte. In den Tagen nach dem verheerenden Bombenangriff beschrieb der Schriftsteller Hans Erich Nossack(1) seine Rückkehr nach Hamburg als »Gang in die Unterwelt«. Sein Buch über diese Erfahrung trägt den treffenden Titel Der Untergang.8
Am Ende des Krieges wurden überall apokalyptische, insbesondere biblische Bilder heraufbeschworen: Dresden(1) wurde wie Hiroshima(7) von einer »biblischen Feuersäule« verschlungen, München(1) sah aus wie der Schauplatz des »Jüngsten Gerichts«, Düsseldorf(1) war »nicht einmal eine Andeutung« einer Stadt.9 Die Behörden in Krefeld(1) bezeichneten ihre Bombenschutzräume als »Arche Noah« – womit sie implizit sagten, dass die wenigen, die dort Zuflucht fanden, vor einer Katastrophe bewahrt würden, die unweigerlich den Rest der Menschheit auslöschen würde.10 Eine solche Metaphorik fand in fast allen Städten Verwendung, die im Krieg zerstört wurden: Stalingrad(1) war »die Stadt der Toten«,11 Warschau(1) die »Stadt der Vampire«, so furchtbar zerstört, dass man meinen konnte, »die Welt sei eingestürzt«.12 Bei der Befreiung der philippinischen(1) Hauptstadt Manila(1) sahen die Menschen »nur Granaten und Bomben und Schrapnells … wir dachten, dies sei das Ende der Welt!«13
Einer solchen Sprache bedienten sich die Menschen, weil sie nicht wussten, wie sie die Tiefe des erlittenen Traumas anders beschreiben sollten. Viele von denen, die ihre Erinnerungen an den Krieg zu Papier brachten – darunter auch Schriftsteller –, mussten feststellen, dass die Sprache nicht geeignet war, einen derart umfassenden Verlust zu beschreiben. Sie wussten, dass Bilder wie jenes der »Hölle« Klischees waren, fanden jedoch keine besseren Worte.14
Nicht nur einzelne Menschen waren angesichts des Grauens sprachlos: Das Ausmaß der Zerstörungen ging auch über das kollektive Verständnis hinaus. In den Jahren 1944 und 1945 wurde der Krieg in den Zeitungen als derart allumfassende, beispiellose Katastrophe beschrieben, dass man den Eindruck gewinnen konnte, er habe die Welt vollkommen zerstört. Ein besonders gutes Beispiel lieferte das New York(1) Times Magazine(1) im März 1945: Europa(9), so der Korrespondent Cyrus Sulzberger(1), sei der neue »dunkle Kontinent«. Er beschrieb eine nie dagewesene Zerstörung, »die kein Amerikaner(6) je verstehen könnte«. Sulzbergers(2) Sprache hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den Worten, die Ogura Toyofumi(5) verwendete, um Hiroshima(8) nach dem Atombombenabwurf(4) zu beschreiben. In verblüffend kurzer Zeit, erklärte der amerikanische Journalist, habe das zivilisierte Europa(10), das er vor dem Krieg kennengelernt hatte, einfach zu existieren aufgehört. Die Zivilisation sei einem fremdartigen moralischen und physischen Ödland gewichen, in dem der Alltag der Menschen aus »Kampf, Bürgerkrieg, Gefangenschaft, Hunger(1) oder Krankheit« bestehe. In weiten Teilen des Kontinents existierten keine Märkte mehr. Die europäische(11) Jugend sei mit Ideen vergiftet worden, welche »die biblischen Philosophen dem Antichrist zugeschrieben hätten«. Nach dem groß angelegten Völkermord im Krieg sei es »noch vollkommen unmöglich zu sagen, wie viele Europäer(12) von anderen Europäern abgeschlachtet worden sind«. Sulzberger(3) verglich den Kontinent mit einem Fresko des Jüngsten Gerichts von Luca(1) Signorelli. Ganz Europa(13) vom Zentrum bis zur Peripherie habe »all das Grauen erlebt, das vor Jahrhunderten im Buch der Offenbarung beschrieben wurde«.15
So wie Oguras(6) Beschreibung Hiroshimas(9) war Sulzbergers(4) Artikel mit biblischen und apokalyptischen Sprachbildern gefüllt, und er war mit einer Zeichnung der vier apokalyptischen Reiter illustriert, die eine halbe Seite einnahm. Andere Publikationen in aller Welt stellten den Krieg genauso dar, und dasselbe galt für Institutionen und Regierungen. So wie die individuellen Menschen, die dem Schrecken des Kriegs ausgesetzt waren, waren sie außerstande, das Ausmaß der Verheerungen zu verstehen, geschweige denn in Worte zu fassen.
Nach 1945 führten zahlreiche nationale und internationale Institutionen Studien zu den materiellen, wirtschaftlichen und menschlichen Schäden durch, die der Krieg angerichtet hatte, aber die Daten konnten das menschliche Leid nicht anschaulich machen. Die Verheerung wurde in Statistiken gefasst: Berlin(1) war zu 33 Prozent, Tokio(1) zu 65 Prozent, Warschau(2) zu 93 Prozent zerstört. Frankreich(1) hatte mehr als drei Viertel seiner Eisenbahnzüge, Griechenland(1) zwei Drittel seiner Schiffe, die Philippinen(2) mindestens zwei Drittel ihrer Schulen verloren. Es war eine endlose Bestandsaufnahme des Unheils, Stadt für Stadt, Land für Land.16
Um den Daten eine für die Vorstellungskraft greifbare Dimension zu geben, versuchten die Statistiker, die Zahlen auf verdauliche Happen herunterzubrechen: Sie erklärten, dass die Bombenangriffe auf Dresden(2) 42,8 Kubikmeter Schutt pro überlebenden Einwohner angehäuft hatten und dass die 1,6 Billionen Dollar, die für den Krieg ausgegeben worden waren, auf die gesamte Weltbevölkerung umgerechnet 640 Dollar pro Kopf ergaben. Doch was das tatsächlich bedeutete – das wahre Ausmaß der materiellen und wirtschaftlichen Zerstörung –, überstieg die menschliche Vorstellungskraft.17
Dasselbe galt für das Ausmaß des Tötens, das nie in gesicherte Zahlen hat gefasst werden können: Einige Historiker schätzen die Zahl der Toten auf etwa 50 Millionen, während andere eher von 60 bis 70 Millionen Opfern ausgehen; niemand kennt eine annähernd genaue Zahl.18 In gewissem Sinn sind die absoluten Zahlen auch unwichtig – ob es nun 50, 70 oder 500 Millionen waren, es klingt in jedem Fall wie das Ende der Welt. Menschen verstehen solche Zahlen nicht objektiv und können es auch gar nicht. Wie Ogura und die Millionen Menschen, die das Trauma des Zweiten Weltkriegs(14) am eigenen Leib erfuhren, klammern wir uns an absolute Zahlen, um das Unaussprechliche auszudrücken.
Daher klingen viele der Begriffe, die zur Beschreibung des Krieges verwendet wurden, noch heute unheilvoll. Beispielsweise bezeichnete das Wort »Holocaust(1)« ursprünglich die Verbrennung einer Opfergabe bis zur völligen Auslöschung, aber heute verstehen viele den Begriff nicht mehr als Metapher, sondern als buchstäbliche Beschreibung dessen, was den europäischen(14) Juden(5) im Zweiten Weltkrieg(15) widerfuhr (ein Eindruck, der durch Beschreibungen wie jene, die Juden seien »in die Öfen geschickt« worden, nur verstärkt wird).19 Auch der vom deutschen(6) Propagandaminister Joseph Goebbels(1) geprägte Terminus des »totalen Kriegs« ist mit einer ominösen Bedeutung befrachtet, deutet er doch auf einen Prozess unausweichlicher »totaler Vernichtung« und des »totalen Tods« hin.20 Heutige Forscher wählen häufig diese Sprache zur Beschreibung des Krieges, und ein international renommierter Historiker gab seinem Buch über die letzten Kriegsmonate sogar den Titel Armageddon.21 Dokumentarfilmer verhalten sich ähnlich: Eine bahnbrechende französische(2) Fernsehserie über den Zweiten Weltkrieg, die auf der ganzen Welt ausgestrahlt wurde, trägt den Titel Apokalypse.22 Dieser Krieg war »die größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit«, ein »weltgeschichtlicher globaler Kataklysmus«, die »größte von Menschen gemachte Katastrophe der Geschichte«, um drei historische Bestseller zu zitieren.23 Der russische(4) Präsident Wladimir Putin(1) hat ihn als »Feuersturm« bezeichnet, der »nicht nur über Europa(15), sondern auch über Asien(2) und Afrika(3) hinwegfegte«.24 Für den chinesischen(2) Staats- und Parteichef Hu Jintao(1) war er »ein beispielloses Desaster für die Welt und eine unvergleichliche Katastrophe für die menschliche Zivilisation«.25 Derartige Aussagen vermitteln nicht die traditionelle Botschaft, das Ende der Welt sei nahe, sondern erwecken im Gegenteil den Eindruck, wir hätten das Ende der Welt bereits hinter uns.
Selbstverständlich war es objektiv nicht das Ende der Welt. Weite Teile der Erde, darunter die beiden amerikanischen(7)(3) Kontinente, blieben vollkommen von der Zerstörung verschont. Auch der Großteil von Subsahara-Afrika(4) blieb unversehrt, und obwohl die Australier(1) im Jahr 1942 die schockierende Erfahrung des Bombenangriffs auf Darwin(1) machten, wurde der übrige Kontinent fast überhaupt nicht vom Krieg in Mitleidenschaft gezogen. Sogar große Teile Europas(16) und Ostasiens(3), wo der Konflikt am heftigsten tobte, blieben unzerstört. Trotz der umfassenden Verwüstung der deutschen(7) Großstädte waren viele Kleinstädte und Dörfer bei Kriegsende Inseln des Friedens. Und selbst in weitgehend ausradierte Städte wie Dresden(3), dessen Wiederaufbau nach Ansicht der Stadtplaner »mindestens 70 Jahre« dauern würde, war wenige Jahre nach der Kapitulation das Leben zurückgekehrt.26
Auch der furchtbare Verlust an Menschenleben bedeutete kein Ende der Welt. Obwohl sich das NS-Regime mit der »Endlösung« der Judenfrage brüstete, zeigen sogar die pessimistischsten Schätzungen der Todeszahlen, dass dieses Vorhaben scheiterte: Mindestens ein Drittel der europäischen(17) Juden(6) überlebte, sodass diese Menschen über die Verbrechen berichten konnten, die gegen ihre Familien begangen worden waren.27 Wie ein nüchterner Blick auf die Statistiken zeigt, erging es anderen Volksgruppen und Nationalitäten verhältnismäßig besser. Der Krieg kostete einen von elf Deutschen(8), einen von fünfundzwanzig Japanern(6), einen von dreißig Chinesen(3) und einen von achtzig Franzosen(3) das Leben. Die Briten(10) verloren einen von hundertsechzig und die Vereinigten Staaten(8) einen von dreihundert Einwohnern. Im globalen Maßstab führte der Zweite Weltkrieg(16) zweifellos zu einem beträchtlichen Bevölkerungsverlust, aber statistisch war es nur eine Delle im globalen Bevölkerungswachstum: Die 70 Millionen Toten entsprachen etwa 3 Prozent der Vorkriegsbevölkerung. Diese ungeheure Zahl ist gewiss bedrückend, aber ein Armageddon war es nicht.28
Warum wird der Zweite Weltkrieg(17) also weiterhin so dargestellt? Die Vorstellung vom Ende der Welt findet einen symbolischen und emotionalen Widerhall, den keine Statistik erzeugen kann. Und an einigen Orten der Welt ist das in jenen katastrophalen Jahren erlittene Trauma bis heute nicht bewältigt worden. Aber die Tatsache, dass weiterhin gerne auf die Apokalypse Bezug genommen wird, deutet darauf hin, dass hier noch etwas anderes hineinspielt: Der Gedanke, dass das Leben, wie man es kannte, im Krieg so gewaltsam endete, hat tatsächlich etwas Tröstliches an sich.
Dafür gibt es zwei Erklärungen. Erstens existiert der Mythos der Apokalypse, wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, nicht isoliert, sondern er ist Teil eines Netzes von Mythen, in dem auch andere, hoffnungsvollere Vorstellungen gedeihen können. Insbesondere bestärkt er uns in dem Glauben, dass das alte, verrottete Vorkriegssystem vollkommen weggefegt wurde, was der Menschheit die Möglichkeit eröffnete, eine neue, reinere, glücklichere Welt zu errichten. Es gibt nichts Tröstlicheres als die Vorstellung, wir hätten unbelastet von den falschen Vorstellungen früherer Generationen, welche die Ursache für den Krieg waren, unsere eigene Welt erschaffen. Das erlaubt uns zu glauben, dass wir klüger als unsere Vorfahren sind und ihre Fehler nicht wiederholen werden.
Es gibt jedoch auch eine andere Erklärung, die weniger tröstlich, ja sogar beängstigend ist. Sigmund Freud(1) nahm an, der Zerstörungs- und Selbstzerstörungstrieb sei ebenso fest in der menschlichen Natur verwurzelt wie der Überlebenstrieb und das schöpferische Bedürfnis.29 Der Genuss an der Auslöschung im Krieg – je vollkommener, desto befriedigender – ist gut dokumentiert; ein besonders gutes Beispiel sind die rücksichtslosen Anweisungen einiger führender Figuren des NS-Regimes.30 Aber dieser Genuss war nicht denen vorbehalten, die wir als Ungeheuer betrachten: Auch viele Helden des Kriegs empfanden ihn. Robert Oppenheimer(1), der Leiter des Atombombenprojekts in Los Alamos(1), war beim ersten Test derart beeindruckt von der Wirkung dieser Bombe, dass sie ihn an die Worte des Gottes Krishna aus dem hinduistischen(1) Bhagavad Gita erinnerte: »Ich bin der Tod, der Zerstörer der Welt.« Oppenheimer wiederholte diese Worte in späteren Jahren stets in feierlichem Ton, aber die erste Explosion begleitete er nach Aussage anderer Zeugen nur mit der lakonischen Feststellung »Es hat funktioniert.«31 In der Zerstörung liegt ein solches Entzücken und ein derart starkes Machtgefühl, dass sich manchmal nicht einmal ihre Opfer ihrer berauschenden Wirkung entziehen können. In seiner Beschreibung der Bombenangriffe auf Hamburg(2) gab Hans Erich Nossack(2) zu, dass er sich weitere Bomber herbeiwünschte, weil er, obwohl er die Katastrophe mit Entsetzen verfolgte, gleichzeitig fasziniert war und die völlige Zerstörung seiner Stadt sehen wollte.32 Das von den Überlebenden verbreitete, maßlos übertriebene Gerücht, in der Stadt seien 300000 Menschen gestorben (die tatsächliche Opferzahl lag bei etwa 45000), war nicht nur ein Versuch, das gewaltige Ausmaß der Zerstörung auszudrücken, das die Hamburger(3) erlebt hatten, sondern auch ein Versuch, an der Gewalt dieses Ereignisses teilzuhaben.33
Auch in Ogura Toyofumi(7)s Schilderung der Zerstörung Hiroshimas(10) sind Hinweise auf derartige Emotionen zu finden. Ogura beschreibt nicht nur den Schock angesichts der Gewalt der Atombombe(5), sondern auch die perverse Faszination, welche die schreckliche Schönheit der Explosion, ihre gewaltigen Ausmaße und die »kaleidoskopischen«, »leuchtenden« Farben in der gewaltigen pilzförmigen Wolke auf ihn ausübten.34 Er schildert die Explosion als himmlisches, beinahe heiliges Ereignis. Nachdem er den Atomblitz und die darauf folgende Druckwelle überlebt hatte, konnte er nicht anders, als ins Stadtzentrum zu gehen, um das ganze Ausmaß des gewaltigen Ereignisses zu erfahren, so, als wollte er daran teilnehmen. Man ahnt bei ihm eine widerwillige Befriedigung, ja beinahe Stolz, wenn er neun Monate später erklärt, die Zerstörung, die er mit eigenen Augen gesehen habe, sei die größte gewesen, »welche die Menschheit je erlebt hat«.35
Manchmal frage ich mich, ob die von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs(18) ausgehende Faszination nicht zumindest teilweise auch unserem unterbewussten Wunsch entspringt, beim Weltende dabei zu sein. Sind die Mythen von Armageddon vielleicht auch deshalb so verlockend, weil wir fühlen möchten, wie es ist, zu zerstören? Ich habe den Verdacht, dass wir alle wie Ogura(8) von diesem Gefühl fasziniert sind, obwohl uns der Gedanke an die Zerstörung gleichzeitig abstößt. Anders als Ogura(9) werden die meisten von uns im 21. Jahrhundert jedoch nicht mehr von unmittelbaren persönlichen Verlusten in unserer Fähigkeit eingeschränkt, diesem Gefühl nachzugeben. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass wir uns eine größere, schönere, umfassendere Zerstörung wünschen – nicht weil sie irgendetwas deutlicher erklären, sondern weil sie uns eine Ahnung vom Göttlichen vermitteln würde.
Unser Bedürfnis, den Krieg als göttliches Wirken darzustellen, ist heute fast genauso stark wie in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, aber wir empfinden es heute aus anderen Gründen als damals: Was ehemals eine verständliche Reaktion auf überwältigende und unmenschliche Geschehnisse war, hat sich in eine unbewusste Methode zur Befriedigung anderer, verstörender Bedürfnisse verwandelt, die teilweise wenig mit dem Krieg zu tun haben. Wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, ist dieser Drang, sich an Absolutem festzuklammern, ein wiederkehrendes Thema in allen großen Mythen über den Zweiten Weltkrieg(19). Und seine Auswirkungen auf unser Selbstverständnis sowie auf unsere Beziehungen zu anderen Menschen waren oft sehr tiefgreifend. Das »Ende der Welt« war nicht einfach ein in sich geschlossenes »Ereignis«. Es war auch eine Idee, die einen fruchtbaren Nährboden schuf, in dem eine Vielzahl anderer Mythen gedeihen konnte.