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Ungeheuer

Die Psychoanalytiker stellen einen engen Zusammenhang zwischen Helden und Dämonen her. Wenn Nationen ihre Tugenden preisen, tun sie dies selten, ohne ihre Vorzüge den Mängeln anderer Völker gegenüberzustellen. Das ist eine gute Methode, um all das, was uns an uns selbst nicht gefällt, auf andere zu projizieren. Gleichzeitig hilft es uns, uns von den Problemen und inneren Widersprüchen unserer eigenen Gesellschaften abzulenken. Wir brauchen Feinde – reale und eingebildete –, weil sie uns helfen, all unsere negativen Gefühle auf ein anderes Ziel zu lenken. Um es mit Freud(2) zu sagen: Ein Volk kann in brüderlicher Liebe zusammenhalten, solange es jemanden hat, den es hassen kann.1

In Kriegszeiten wird die Verteufelung der Feinde noch wichtiger, da das Bedürfnis nach sozialem Zusammenhalt wächst. Nichts ist besser geeignet als eine äußere Bedrohung, um das zu wecken, was die Briten(25) noch heute als ›Blitz spirit‹ bezeichnen. Um überhaupt einen Krieg gegen ein anderes Land führen zu können, muss eine Nation ihre Feinde als böse darstellen. Zudem muss ein Staat seine Gegner als böse bezeichnen, um seine Bevölkerung dazu zu bewegen, zu tun, was in diesem Fall getan werden muss: Im Krieg geht es im Wesentlichen darum, Menschen zu töten, und es ist sehr viel leichter, Feinde zu töten, die man für Ungeheuer hält.

Im Zweiten Weltkrieg(40) dämonisierten alle Kriegsparteien ihre Feinde. Studien zur Kriegspropaganda zeigen, wie verblüffend ähnlich diese Dämonisierung in allen kriegführenden Ländern war. Wer auch immer der »Feind« war, er wurde als verworfen oder rassisch »minderwertig« beschrieben. Die deutsche(13) und italienische(3) Propaganda stellte die Amerikaner(38) oft als Gangster, »Neger« und Juden(8) dar, die Japaner(13) bezeichneten die Briten(26) als herzlose Imperialisten, die Südasien versklavt(4) hätten, und die sowjetischen(12) Soldaten wurden als moderne Inkarnationen der Hunnen beschrieben.2 Die Alliierten(10) ihrerseits stellten die Deutschen als gottlose, herzlose Killer und Diebe dar, während die Japaner als »gelbe Horden Asiens(6)« bezeichnet wurden.3 Überall wurden die Angehörigen feindlicher Nationen als machthungrige, doppelzüngige, ausbeuterische, manipulative, gewalttätige Psychopathen geschildert, die vorzugsweise über Frauen und Kinder herfielen.4

Zumeist wurde dem Feind nicht einmal zugestanden, menschlich zu sein – und wenn er es doch war, so lediglich in einer entstellten oder minderwertigen Form. Die Japaner(14) charakterisierten die Chinesen(5) vorzugsweise als Affen, Ratten oder Esel und zeichneten sie in Karikaturen mit Klauen, Hörnern oder kurzen, struppigen Schwänzen. Im Gegenzug bezeichnete die chinesische(6) Propaganda die japanischen(15) Invasoren als »Zwerge« oder Teufel.5 Die Darstellung der Juden(9) und Sklaven(5) als Ratten in der nationalsozialistischen(6) Propaganda hat traurige Berühmtheit erlangt; umgekehrt nahmen die Deutschen(14) in der Propaganda ihrer Feinde die Gestalt verschiedener Tiere an: Sie wurden zu Schweinen, tollwütigen Hunden, Tigern, Schlangen, Skorpionen, Kakerlaken, Stechmücken und sogar Bakterien.6 Die vielleicht bösartigste antideutsche Propaganda findet man in sowjetischen(13) Zeitungen, in denen die Soldaten aufgefordert wurden, die Deutschen auszurotten wie Ungeziefer. »Wir können nicht leben, solange dieses graugrüne Geschmeiß am Leben ist«, hieß es im August 1942 in der Zeitung der Roten Armee(1). »Heute kann es nur einen Gedanken geben: Tötet die Deutschen. Tötet sie alle und verscharrt sie in der Erde. Erst dann können wir in Ruhe schlafen.«7

Alle Seiten entmenschlichten ihre Feinde aus diesem Grund: Es war leichter, sie zu töten, wenn man sie als Tiere betrachtete. Deshalb wurden die Japaner(16) in der amerikanischen(39) Propaganda als »Plage« bezeichnet, deren »Brutgebiet rund um Tokio(2) vollkommen ausgelöscht werden muss«. Die Japaner antworteten mit dem Aufruf: »Schlagt die Amerikaner tot!«8

In den extremsten Fällen genügte es nicht mehr, den Feind einfach als minderwertig darzustellen; er verwandelte sich in eine noch dunklere und beängstigendere Bedrohung. Bilder mythischer Bestien wurden heraufbeschworen: Hydren, geflügelte Dämonen, fliegende Skelette, seelenlose Roboter, der Sensenmann, Frankensteins Ungeheuer, die apokalyptischen Reiter.9 Ein von allen Seiten gerne verwendetes Bild war das des Vampirs. Auf dem Titelblatt der amerikanischen(40) Zeitschrift Collier’s war die japanische(17) Luftwaffe ein Vampir, der Bomben nach Pearl Harbor(3) brachte, während das japanische(18) Magazin Manga Präsident Roosevelt(3) als grüngesichtiges Ungeheuer porträtierte, das mit Dracula-Krallen nach seinen Opfern greift.10 Bei diesen Bildern handelte es sich oft nicht einfach um Karikaturen, sondern sie drückten eine sehr konkrete Furcht aus. Beispielsweise druckte De Groene Amsterdammer(1) während der deutschen(15) Besatzung eine beklemmende Karikatur eines Vampirs ab, der statt eines Gesichts eine Gasmaske trägt, mit der er das Blut aus der nackten Leiche eines niederländischen Patrioten saugt.

In den USA wurden ähnliche Bilder von der »gelben Gefahr« verbreitet: In einer berühmten Karikatur aus dem Jahr 1942 wurde der japanische(19) Ministerpräsident Hideki Tojo(1) als affenartiges Monster dargestellt, das sich über den Leichnam eines amerikanischen Piloten beugt; aus dem Maul des Ungeheuers tropft Blut.11 

Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts betrachtet, haben diese Bilder etwas wirklich Beängstigendes an sich. Heute wissen wir alles über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs(41): über den Holocaust(2), über das Netz nationalsozialistischer(7) Zwangsarbeitslager in Europa(27), in denen Menschen wie Sklaven(6) gehalten wurden, über die Verwendung von Menschen für ›wissenschaftliche(2)‹ Experimente oder Bajonettübungen und über die Art und Weise, wie japanische(20) Soldaten in Teilen Südostasiens(2) Kriegsgefangene schlachteten, um sie zu verspeisen. Angesichts dieser Erkenntnisse kann man versucht sein, zu dem Schluss zu gelangen, die Dämonisierung sei zumindest auf alliierter Seite durchaus gerechtfertigt gewesen. Aber wir müssen uns vor Augen halten, dass die große Mehrheit der zuvor beschriebenen Bilder und Hasstiraden entstanden waren, bevor die schlimmsten Gräueltaten begangen wurden, zweifellos aber, bevor diese Verbrechen allgemein bekannt waren. Die Verteufelung des Feindes war also keine Reaktion auf die Kriegsgräuel, sondern ging diesen voraus. Wie ungezählte soziologische und psychologische Studien gezeigt haben, war die Dämonisierung tatsächlich einer der Faktoren, die derart grausames Verhalten überhaupt erst möglich machten. Wir reagieren mit gutem Grund entsetzt, wenn wir sehen, wie die Produzenten nationalsozialistischer Propagandafilme die Juden(10) als Ratten darstellten; aber aufgrund dessen, was wir heute wissen, sollten wir gleichermaßen beunruhigt sein angesichts der Art und Weise, wie die alliierte Propaganda die Japaner als Läuse und die Deutschen(16) als Bakterien darstellte.12

Frontsoldaten berichten häufig, dass sie sich nach geschlagener Schlacht wieder der Menschlichkeit ihrer Feinde bewusst wurden. Robert Rasmus(1), ein Schütze in der 106. Division der US Army, erzählt, dass er und seine Kameraden von Hass auf die Deutschen(17) erfüllt waren, als sie in den Krieg zogen. Aber im Frühjahr 1945 bekamen sie getötete deutsche(18) Soldaten zu Gesicht:

Die Sonne schien und es war still. Wir kamen an den Deutschen(19) vorbei, die wir getötet hatten. Wenn man die einzelnen gefallenen Deutschen sah, wurden sie plötzlich zu Individuen. Sie waren nicht mehr irgendetwas Abstraktes. Diese da gehörten nicht mehr zu den Deutschen mit den brutalen Gesichtern und den Helmen, die man bei uns in den Nachrichten zu sehen bekam. Sie waren so alt wie wir. Genau solche Jüngelchen wie wir.13

Abb. 3: L. J. Jordaans(1) beklemmende Darstellung der deutschen(20) Invasion der Niederlande(3) im Jahr 1940, erschienen in De Groene Amsterdammer(2).

Man kann sich vorstellen, dass etwas Ähnliches im normalen Gang der Dinge auf gesellschaftlicher Ebene geschah. Als Deutsche(21) und Japaner(21) besiegt waren, wirkten sie nicht mehr so bedrohlich – so konnten die Gesellschaften ihrer Kriegsgegner ihre Menschlichkeit wieder sehen. Der traditionellen Geschichtsschreibung zufolge geschah genau das: Deutschland(22) und Japan(22) wurden »rehabilitiert«, die Sieger halfen ihnen wieder auf die Beine und gaben ihnen die Möglichkeit, »gute Schüler« der Supermächte(43)(14) zu werden. Um es mit den Worten von US-Präsident Bill Clinton(2) zu sagen: »Wir holten unsere früheren Feinde zurück ins Leben.«14

Leider besteht eine wichtige Hinterlassenschaft des Zweiten Weltkriegs(42) darin, dass die Menschlichkeit des »Feindes« eben nicht wiederhergestellt wurde. Wenn sich die Einstellung zu den Feinden unmittelbar nach Kriegsende überhaupt änderte, so wurden Deutsche(23) und Japaner(23) in den Augen der Alliierten(11) nur noch verabscheuungswürdiger, als ihre Gräueltaten im Krieg allgemein bekannt wurden. Karikaturen von wandelnden Skeletten und Leichenbergen wurden durch Fotos und Fernsehreportagen ersetzt, die zeigten, was tatsächlich geschehen war. An die Stelle von Gerüchten und Augenzeugenberichten über isolierte Kriegsgräuel traten Beweise für die systematische Misshandlung, Folterung und Auslöschung von Abermillionen Zivilisten – und aus den Presseberichten über die verschiedenen Kriegsverbrechertribunale(1) erfuhr die ganze Weltöffentlichkeit davon. Bis 1945 konnten einige der extremeren Darstellungen des Feindes leicht als Metaphern begriffen werden; aber nach den Kriegsverbrecherprozessen konnte kaum noch die Rede von Metaphern sein.

Die Bemühungen um eine Rehabilitierung Deutschlands und Japans(24) kollidierten daher mit zahlreichen wetteifernden Stimmen, welche die Kriegsgegner der Alliierten(12) dämonisierten wie nie zuvor. Wenn wir uns heute bereitwilliger an die Aufforderungen zur Mäßigung erinnern, so nur, weil es uns gelegen kommt; tatsächlich war der im Krieg gewachsene Hass jedoch noch Monate nach Kriegsende auf Regierungsebene spürbar. Die amerikanischen(45) Soldaten, die Süddeutschland(24) besetzten, trugen Pamphlete bei sich, in denen die Zivilisten als »gefangene Ratten« bezeichnet wurden, die »von den Erträgen der deutschen(25) Unmenschlichkeit profitiert haben«.15 Nach Angabe einiger skandinavischer(1) Historiker hielt sich der öffentlich zur Schau getragene Hass auf die Deutschen in diesen Ländern etwa zwanzig Jahre.16 Viele Politiker jener Zeit machten keinen Hehl aus ihren Gefühlen. »Ich will nie wieder ein Deutsches Reich sehen«, sagte der französische(12) Präsident Charles de Gaulle(1) Ende 1945.17 Der spätere tschechoslowakische(5) Justizminister Prokop Drtina(1) wiederholte bei jeder Gelegenheit, was er von den Deutschen hielt: »Es gibt keine guten Deutschen, nur schlechte und noch schlimmere.« Sogar Kirchenvertreter hielten das deutsche(26) Volk in seiner Gesamtheit für derart »böse«, dass in diesem Fall »das Gebot ›Liebe deinen Nächsten‹ nicht gilt«.18

Ähnlich dachten viele Völker im Pazifikraum über die Japaner(25). In der philippinischen(4) Nachkriegsliteratur wurden die Japaner fast immer als »Wilde«, als »krummbeinige«, »schlitzäugige« Vergewaltiger und Eroberer beschrieben, für die es nur eine Rolle gab, und zwar die des Bösewichts. Dies war bis in die sechziger Jahre das vorherrschende Bild von Japan(26), und noch heute sind derartige Charakterisierungen üblich.19 Yukawa Morio(1), der erste japanische(27) Botschafter auf den Philippinen nach dem Zweiten Weltkrieg(43), erinnert sich, dass er bei seiner Ankunft im Jahr 1957 »sehr überrascht von der extremen Abneigung gegenüber Japan(28) war«, obwohl er sich auf eine unfreundliche Atmosphäre eingestellt hatte.20 Noch heftiger war die Dämonisierung der Japaner in Malaysia(2) und Singapur(2).21 Korea(2) war derart vom Hass auf die Japaner vergiftet, dass Unruhen ausbrachen, als die beiden Länder im Jahr 1965 einen Vertrag zur Normalisierung der Beziehungen schlossen. Mehrere Oppositionspolitiker legten aus Protest gegen den Vertrag ihre Mandate in der Nationalversammlung nieder.22

In den Vereinigten Staaten(46) schwelt das im Zweiten Weltkrieg(44) entstandene Ressentiment gegenüber den Japanern(29) noch heute unter der Oberfläche. Der rasche Aufstieg Japans(30) zu einer globalen Wirtschaftsmacht in den sechziger und siebziger Jahren weckte in der amerikanischen Gesellschaft Beunruhigung und löste eine Verunglimpfungskampagne aus (›Jap bashing‹). Mitte der achtziger Jahre begannen amerikanische Senatoren, den Import japanischer Autos als »wirtschaftliches Pearl Harbor(4)« zu bezeichnen, und Präsidentschaftsbewerber wie Howard Baker(1) nahmen den 40. Jahrestag des Kriegsendes zum Anlass, um auf zwei »Fakten« hinzuweisen: »Erstens sind wir immer noch im Krieg mit Japan(31). Zweitens verlieren wir ihn.« Im Jahr 1985 veröffentlichte der Pulitzerpreisträger Theodore H. White(1) im New York Times Magazine(2) einen Artikel mit dem unmissverständlichen Titel »Die japanische(32) Gefahr« und warnte, die Japaner setzten »kriegerische« Handelspraktiken ein, um die im Zweiten Weltkrieg errichtete Großostasiatische(7) Wohlstandssphäre wiederzubeleben. Eine ähnliche Einstellung war in den achtziger Jahren in ganz Asien(8) und in Australien(3) verbreitet.23

In China(7) kam das antijapanische Ressentiment wieder zum Vorschein, nachdem die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg(45) in der Öffentlichkeit wachgerufen worden war. Tragische Bilder von Kindern, die während des Massakers von Nanking(1) brutal ermordet worden waren, wurden durch die fortgesetzte Verwendung in Dokumentarfilmen »in das kollektive Unterbewusstsein Chinas eingebrannt«, und die Geschichte des Massakers wird alle paar Jahre zu neuen Kinofilmen verarbeitet.24 Im Jahr 2013 produzierten chinesische(8) Fernsehsender mehr als 200 Sendungen, in denen der Krieg von 1937 bis 1945 dramatisch aufbereitet wurde. Im Februar 2014 führte die chinesische(9) Regierung zwei neue nationale Feiertage ein: Der erste erinnert an das Massaker von Nanking, der zweite an die japanische(33) Kapitulation.25

Auch die antideutschen Gefühle in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg(46) sind weiterhin lebendig, vor allem in Europa(28). Im Jahr 2013 kam es bei der Präsidentschaftswahl in der Tschechischen Republik(6) zu nationalistischen Beleidigungen: Politiker und Medien beschuldigten einen der Kandidaten, Karel Schwarzenberg(1), er sei zu »deutsch(27)« für das tschechische(7) Präsidentenamt.26 In Griechenland(2) machten es sich Gegner der Sparauflagen, die dem hoch verschuldeten Land nach der Finanzkrise von 2008 von der EU auferlegt worden waren, zur Gewohnheit, bei Protestkundgebungen Hakenkreuze zu verbrennen. Im Februar ging die rechtsgerichtete griechische Tageszeitung Dimokratia(1) so weit, die deutsche(28) Bundeskanzlerin Angela Merkel(1) auf ihrem Titelblatt in SA-Uniform zu zeigen, begleitet von einer verblüffend geschmacklosen Schlagzeile, die Griechenland mit dem Konzentrationslager(2) Dachau(1) gleichsetzte.27 Im August desselben Jahres versuchte der italienische(4) Ministerpräsident Silvio Berlusconi(1), in einer politischen Kampagne antideutsche Gefühle zu wecken und nahm wiederholt Bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Eine seiner Zeitungen, Il Giornale(1), zeigte auf der Titelseite ein Foto von Angela Merkel(2), die den Arm zum Hitlergruß gehoben hatte, samt der dazu passenden Schlagzeile »Quarto Reich«.28

Diese Darstellungen von Deutschen(29) und Japanern(34) haben oft mehr mit den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen als mit dem Zweiten Weltkrieg(47) zu tun – beispielsweise verschärfte das chinesische(10) Regime seine antijapanische Rhetorik im Verlauf des Streits über die Hoheitsrechte über eine Inselgruppe im Chinesischen Meer, und viele europäische(29) Nationen sind besorgt über den wachsenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss Deutschlands innerhalb der Europäischen Union(2). Dennoch greifen all diese Länder instinktiv auf den Zweiten Weltkrieg zurück, wenn sie ein Muster für moderne Dämonen brauchen.

In unserer kollektiven Imagination sind die Nationalsozialisten(8) das Standardmuster des Bösen. Seit dem Weltkrieg wurde eine Reihe von Feindbildern mit Hitler(2) verglichen, darunter der ägyptische(1) Präsident Nasser(1) in den fünfziger Jahren, der Palästinenserführer(1) Jassir Arafat(1) in den siebziger Jahren, der Chef der argentinischen Militärjunta, General Galtieri(1), in den achtziger Jahren sowie der irakische(1) Diktator Saddam(1) Hussein und der Serbe Slobodan Milošević(1) in den neunziger Jahren.29 Politische Gruppen stellen ihre Gegner oft ohne jeden historischen Bezug in eine Linie mit dem Faschismus: Indische(1) Parlamentsabgeordnete bezichtigen einander, »wie Hitler(3)« zu sein, und prominente Australier(4) vergleichen Verfechter der Homosexuellenrechte mit der Gestapo.30 Im Vorfeld der amerikanischen(47) Präsidentschaftswahl im Jahr 2016 veröffentlichte die Philadelphia Daily News(1) auf der Titelseite ein Bild von Donald Trump(1), der den Arm wie zum Hitlergruß gehoben hat; die dazugehörige Schlagzeile war ein Wortspiel, das ihn in die Nähe des »Führers« rückte: »The New Furor«.31

Heute wird der Terminus »Nazi(9)« überall als Synonym für Verruchtheit verwendet. Die Figur Adolf Hitlers(4) ist zum »Inbegriff des Bösen« geworden, wie es ein Kulturkritiker ausdrückt. Schriftsteller, Filmemacher und Politiker bedienen sich dieser Figur, um die Personen und Ideen zu kennzeichnen, die sie am meisten fürchten. So wurden sowohl Richard Nixon(1) als auch Osama bin Laden(1) jeweils als »moderner Hitler(5)« bezeichnet.32 Nazis tauchen in Tausenden Filmen auf, von The Sound of Music bis zur Indiana Jones-Serie. Sogar die »Sturmtruppen« in den Star Wars-Filmen wecken Assoziationen mit der Wehrmacht – die Form ihrer Helme genügt, um sie sofort als »den Feind« kenntlich zu machen. Die Liste der vielfältigen kulturellen Verweise auf diesen »Inbegriff des Bösen« ließe sich unendlich fortsetzen. In den Jahrzehnten, die seit dem Zweiten Weltkrieg(48) vergangen sind, hat sich »der Nazi(10)« in ein Monster verwandelt, das – so wie jeder andere mythologische Dämon, der in Kriegszeiten in der Propaganda auftauchte – unsterblich ist.

DAS GESICHT DES »BÖSEN« War Hitler(6) wirklich böse? Waren die Männer, die in der Waffen-SS dienten oder für die Gestapo arbeiteten, böse? Und was ist mit den Forschern, die medizinische und andere Experimente am Menschen durchführten? Die Mythen, die ihre Verbrechen umranken, sind so tief im Bewusstsein der Menschheit verwurzelt, dass der bloße Gedanke, diese Personen seien möglicherweise keine Ungeheuer, sondern »normale Menschen« gewesen, wie ein Sakrileg wirken kann.33 Ganze historiographische Schulen beruhen auf der Vorstellung, die Nationalsozialisten(11) seien nicht einfach böse, sondern von einer einzigartigen Verworfenheit gewesen: Wer etwas anderes behauptet, löst überall auf der Welt einen Aufschrei der Empörung in akademischen Kreisen, Parlamenten und Medien aus.34

Kein ernst zu nehmender Historiker würde leugnen, dass viele der Handlungen des NS-Regimes und der japanischen(35) Militärpolizei Kempeitai(1) böse waren. Aber möglicherweise ist es ein Fehler, alle Menschen, die diese Taten begingen, mit demselben Adjektiv zu versehen. Unter psychologischen Gesichtspunkten gibt es so etwas wie einen bösen Menschen nicht; es gibt nur kranke Menschen oder solche, die in einem perversen System gefangen sind. Auch die Philosophie unterscheidet zwischen einem bösen Menschen und einem Menschen, der Böses tut. Die große Tragödie in der Epoche des Zweiten Weltkriegs(49) war, dass nicht nur zahlreiche Personen mit psychopathischen Zügen in Machtpositionen gelangten, sondern dass sich in jener Zeit auch gesellschaftliche Krankheiten derart verschlimmerten, dass sogar normale Menschen dazu gebracht wurden, nicht nur furchtbare Taten zu begehen, sondern auch dabei Begeisterung zu empfinden.

Nur sehr selten erklärt sich jemand bereit, offen über die Gräueltaten zu sprechen, die er im Zweiten Weltkrieg(50) beging, und noch seltener kommt es vor, dass ein Täter aufrichtiges Interesse an den Auswirkungen seiner Handlungen auf andere Menschen zeigt. Ein solcher Täter war Yuasa(1) Ken, ein japanischer(36) Arzt, der im Krieg mehrere chinesische(11) Gefangene bei lebendigem Leib sezierte. Seine Geschichte zeigt uns, was in Japan(37) und in der Welt insgesamt nach dem Krieg schiefgelaufen ist.

Yuasa(2) kam im Jahr 1916 in Tokio(3) als Sohn eines Arztes zur Welt. Nach eigener Darstellung war er das perfekte Ergebnis seiner Erziehung: gehorsam, arbeitsam, stets bemüht, sich gegenüber seinen Vorgesetzten zu beweisen. Er lebte in einer Kultur, in der die rassische Überlegenheit der Japaner(38) als gegeben betrachtet wurde, und zweifelte nie am Recht Japans, seine Nachbarländer zu unterwerfen; er vergaß nie die Worte seines Grundschullehrers: »Das japanische(39) Volk ist eine überlegene Rasse. Es muss China(12) erobern und ganz Asien(9) beherrschen.« Er kam nicht auf den Gedanken, diese Vorstellung zu hinterfragen – tatsächlich wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, an Autoritätspersonen zu zweifeln oder sie in irgendeiner Form zu kritisieren.35

Yuasa(3) trat in die Fußstapfen seines Vaters und schloss im Jahr 1941 sein Medizinstudium ab. Er wollte unbedingt seinen Beitrag zum japanischen(40) Kriegseinsatz in China(13) leisten und bewarb sich unverzüglich um einen Posten als Chirurg beim Militär. Nach einer zweimonatigen Ausbildung wurde er im Rang eines Oberleutnants als Militärarzt nach Nordostchina entsandt.

Im März 1942, weniger als sechs Wochen nach seiner Überstellung ins Militärkrankenhaus Luan in der Nähe von Taiyuan (Provinz Shanxi), wurde Yuasa(4) zu einer chirurgischen Übung zitiert. Er hatte bereits gehört, dass Militärärzte Vivisektionen durchführten, und er wusste, dass von allen jüngeren Ärzten die Teilnahme erwartet wurde. Trotz eines nagenden Gefühls der Angst, die mit einer gewissen Neugier auf das einherging, was er dort sehen würde, machte er sich widerstrebend auf den Weg zum Obduktionssaal.

Als er dort eintraf, drängten sich Krankenhauspersonal und Offiziere der Division im Raum. Neben jungen Medizinern wie ihm waren auch alle hochrangigen Militärärzte anwesend. In einer Ecke standen zwei chinesische(14) Bauern, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Einer von ihnen wartete schweigend und hatte sich anscheinend in sein Schicksal ergeben, während der andere offenkundig Todesangst hatte und laut schrie. Yuasa(5) sah die Opfer angsterfüllt an, versuchte jedoch, vor seinen Vorgesetzten Haltung zu bewahren. Er fragte, ob die beiden Männer ein Verbrechen begangen hätten, für das sie die Todesstrafe verdienten, erhielt jedoch nur die barsche Antwort, das sei unerheblich, denn sie hätten den Krieg wahrscheinlich ohnehin nicht überlebt.

Als die Versammlung vollzählig war, erklärte der Krankenhausdirektor, die Arbeit werde nun beginnen. Die Wachen schubsten die beiden Bauern vorwärts. Der Mann, der tapfer zu sein versuchte, ging ruhig zum Operationstisch und legte sich hin, während sich der andere sträubte und nicht aufhörte zu schreien. Er stieß mit Yuasa(6) zusammen. Dieser zögerte einen Augenblick, stieß den verängstigten Mann dann jedoch weg und fuhr ihn an: »Vorwärts!« Yuasa(7) wollte vor seinen Vorgesetzten keine Schwäche zeigen. Er hatte das Gefühl, eine Prüfung oder eine Art von Initiationsritus bestanden zu haben.

Nachdem die beiden Chinesen(15) auf den OP-Tischen festgeschnallt und betäubt worden waren, begannen die Chirurgen ihre Übungen. Zunächst führten sie eine Blinddarmoperation durch, anschließend amputierten sie einem der Opfer einen Arm. Dann machten sie sich daran, Teile des Darms zu entfernen und wieder einzusetzen. Abschließend nahmen sie einen Luftröhrenschnitt vor. Der Zweck der Übung war, die Chirurgen mit jener Art von Eingriffen vertraut zu machen, die sie an im Kampf verwundeten Soldaten würden vornehmen müssen. So konnte Yuasa(8) die Vivisektionen sich selbst gegenüber rechtfertigen: Sie bereiteten ihn darauf vor, seinen Landsleuten das Leben zu retten. Und wie man ihn gelehrt hatte, war das Leben japanischer(41) Soldaten sehr viel mehr wert als das chinesischer Bauern.

Nach drei Stunden atmeten die beiden Opfer immer noch, wenn auch mittlerweile ganz kraftlos. Nachdem die Übungssitzung beendet war, mussten nur noch die beiden Versuchsobjekte entsorgt werden. Der Krankenhausdirektor versuchte, sie zu töten, indem er ihnen Luft ins Herz spritzte, aber die Methode funktionierte nicht. An diesem Punkt erhielt Yuasa(9) die Anweisung, die Tötung zu erledigen: »Ich legte dem einen Mann meine Hände um den Hals und übte Druck auf die Halsschlagader aus, aber er hörte nicht auf zu atmen … Daraufhin legten Oberleutnant O. und ich dem Mann seinen Gürtel um den Hals und zogen an beiden Enden fest an. Aber er hörte immer noch nicht auf zu atmen.« Schließlich schlug einer der Ärzte vor, den beiden Chinesen(16) Chlorethan in die Venen zu spritzen, was Yuasa(10) tat – und endlich verschieden die beiden Opfer.36 Nach Feierabend ging Yuasa(11) mit seinen Kollegen etwas trinken. Er litt unter einer sonderbaren Unruhe, aber nach einigen Gläsern fühlte er sich besser und dachte nicht länger über die Erlebnisse jenes Tages nach.

In den folgenden drei Jahren nahm Yuasa(12) an sechs weiteren Vivisektionen teil, bei denen vierzehn Chinesen(17) getötet wurden. Einige Eingriffe, darunter Hodenoperationen, die Extraktion eines Gehirns und allgemeiner Anatomieunterricht, waren kaum von Nutzen für die Ausbildung von Militärärzten. Einmal wurden vier Männer extra angeschossen, damit die Ärzte üben konnten, die Kugeln – ohne Betäubung – zu entfernen. Bei einer anderen Gelegenheit waren zu wenige Teilnehmer für eine lohnende Übung gekommen, weshalb der Krankenhausdirektor die Gelegenheit nutzte, um sich im Umgang mit dem Schwert zu üben und einem Mann den Kopf abzuschlagen. Ab April 1943 übernahm Yuasa(13) selbst die Verantwortung für die Organisation der Vivisektionen. Er stellte keine Fragen, obwohl er wusste, dass die Kempeitai(2) die Opfer mehr oder weniger zufällig auswählte.

»Es war nie so, dass wir Gefangene für Vivisektionen verwendeten, weil überschüssige Gefangene verfügbar waren. Es hieß immer: ›Wir brauchen Leute, beschafft uns welche.‹ Wir brauchten sie für die Chirurgenausbildung, um das Leben japanischer(42) Soldaten retten zu können. Chinesische(18) Zivilisten wurden einzig und allein für diesen Zweck verhaftet.«37

Yuasa(14) gestand offen, dass er zu jener Zeit keinerlei Schuld infolge dieser Morde empfand. »Für uns waren diese Menschen einfach nur Abfall. Müll.«38

Als der Krieg im August 1945 endete, musste sich Yuasa(15) entscheiden: Sollte er nach Japan(43) heimkehren oder in China(19) bleiben? Wie Tausende andere Japaner entschloss er sich zu bleiben. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass die Chinesen versuchen könnten, sich für das zu rächen, was die Besatzer ihnen angetan hatten – in seinen Augen hatte er nichts Falsches getan. Also blieb er in China, heiratete und bekam Kinder. In den folgenden Jahren praktizierte er als Arzt, behandelte japanische(44) und chinesische(20) Patienten und unterrichtete angehende chinesische(21) Mediziner.

Erst zwei Jahre nach der Machtergreifung der Kommunisten(5) wurde er verhaftet. Im Januar 1951 wurde er in ein Gefangenenlager(3) gesteckt, aber er war nicht allzu besorgt, denn ihm war noch immer nicht bewusst, dass es ein schweres Verbrechen gewesen war, chirurgische Eingriffe an lebenden Menschen zu üben, geschweige denn in irgendeiner Form böse: »Im Kopf fand ich alle möglichen Rechtfertigungen für mein Verhalten: ›Ich befolgte nur die Befehle. Ich hätte nichts daran ändern können. Wir waren im Krieg. Solche Dinge wurden nicht zum ersten Mal getan. Alle Welt tat solche Dinge.‹ Begründungen wie diese. Und außerdem war der Krieg vorbei.«39

Er begann erst, sich Sorgen zu machen, als ihn die chinesischen(22) Ermittler anwiesen, ein umfassendes und ehrliches Geständnis abzulegen. Aber auch in dieser Situation ließ er sich durch die Zusage beruhigen, alle Häftlinge, die ihre Taten aufrichtig bereuten, würden begnadigt. Die Ermittler sagten ihm, wenn er seine Verbrechen gestehe, werde man ihn nach Japan(45) zurückschicken. Also legte er ein halbherziges Geständnis ab; einige besonders beschämende Einzelheiten wie die Extraktion des Gehirns eines lebenden Menschen verschwieg er – in der Hoffnung, seine Aussage werde die Ermittler zufriedenstellen. Aber das tat sie nicht: Sein Geständnis wurde als unaufrichtig abgelehnt, und er blieb in Haft.

Ende des Jahres 1952, nachdem er fast zwei Jahre im Gefängnis verbracht und mehrere Anläufe zu einem umfassenden Geständnis genommen hatte, wurde Yuasa(16) in die Provinz Shanxi zurückgebracht und ins Gefängnis von Taiyuan eingeliefert. Dort erhielt er einen Brief von der Mutter eines seiner Opfer – jenes Mannes, dessen Gehirn er entfernt hatte. Die Mutter beschrieb die quälende Angst, die sie bei der Verhaftung ihres Sohnes durch die Kempeitai(3) befallen hatte. Sie schilderte, wie sie vergeblich versucht hatte, dem Polizeiauto auf dem Fahrrad zu folgen, wie sie überall gesucht hatte, bis ihr jemand eröffnet hatte, dass ihr Sohn ins Krankenhaus gebracht worden war, wo er bei lebendigem Leib seziert werden sollte. »Ich war so traurig«, schrieb sie, »so traurig, dass ich glaubte, meine Augen würden vom unentwegten Weinen platzen. Ich konnte mich nicht mehr um mein Reisfeld kümmern. Ich konnte nicht mehr essen. Yuasa(17), ich habe gehört, dass Sie jetzt in Haft sind. Ich habe die Regierung gebeten, Sie streng zu bestrafen.«40

Dieser Brief führte Yuasa(18) deutlicher als alles andere vor Augen, wie schlimm seine Taten im Krieg waren. Bis dahin waren seine Opfer für ihn einfach Körper gewesen, Versuchsexemplare für chirurgische Studien – tatsächlich war es ihm schwergefallen, sich an die Gesichter dieser Menschen zu erinnern. Jetzt erst wurde ihm klar, dass diese Untersuchungskörper in Wahrheit lebende menschliche Wesen gewesen waren, die Familien hatten und einer Gemeinschaft angehörten, und zum ersten Mal gelang es ihm, sich an das hilflose Entsetzen in ihren Gesichtern zu erinnern, als er sie zu operieren begann.

Yuasa(19) verbrachte weitere dreieinhalb Jahre in seiner düsteren Gefängniszelle, wo er über diese Erinnerungen nachdachte und zu verstehen versuchte, wie um alles in der Welt er imstande gewesen war, so furchtbare Dinge zu tun. Im Sommer 1956 wurde er schließlich entlassen und nach Japan(46) zurückgeschickt.

Verleugnung zieht sich fast durch die gesamte Geschichte Yuasas(20). Anfangs leugnete er sich selbst gegenüber, dass falsch war, was er tat. Während des Krieges hielt er mit anscheinend reinem Gewissen an der Verleugnung fest: Wie er zugab, hatte er keine schlaflosen Nächte, keine Albträume und keine Gewissensgebisse. Nach dem Krieg verleugnete er seine Schuld weiter und sah keinen Grund, sich vor chinesischen(23) Vergeltungsmaßnahmen zu fürchten. Aus dem Vergessen riss ihn erst eine langwierige Selbstprüfung, die anfangs erzwungen war, später jedoch aus freien Stücken erfolgte, nachdem der Brief der Mutter seines Opfers ihm die Augen für die entsetzlichen Taten geöffnet hatte, die er begangen hatte. Wäre Yuasa(21) direkt nach dem Krieg in seine Heimat zurückgekehrt, so hätte er vermutlich nie begonnen, seine Vergangenheit und die seines Landes aufzuarbeiten.

Genau das war offensichtlich bei seinen früheren Kollegen der Fall. Als Yuasa(22) im Jahr 1956 nach Japan(47) zurückkam, wurde ihm zu Ehren ein Empfang gegeben. Unter den Gästen waren einige der Militärärzte und Krankenschwestern, mit denen er in China(24) gearbeitet hatte. Zu seiner großen Überraschung stellte Yuasa(23) fest, dass die meisten von ihnen anscheinend seit dem Krieg nicht einen Gedanken an ihre Taten verschwendet hatten. Ein früherer Kollege fragte Yuasa(24) sogar, warum die Chinesen ihn als Kriegsverbrecher(2) eingestuft hätten, obwohl er sich doch wie alle anderen Chirurgen im Krieg vollkommen korrekt verhalten hätte. Yuasa(25) entgegnete: »Erinnern Sie sich an das, was wir getan haben?« Sein Kollege verstand nicht, was er meinte.

In den folgenden Jahren arbeitete Yuasa(26) mit Hunderten Personen, die als Ärzte und Krankenhauspersonal Teil der japanischen(48) Besatzungsmacht in China(25) gewesen waren. Keiner von ihnen verlor ein Wort über ein Gefühl der Schuld. Anfang der sechziger Jahre entschloss sich Yuasa(27), ein Buch zu schreiben, um seine Erlebnisse in China zu schildern. Er hielt es für wichtig, offen über seine Schuld zu sprechen und einen Teil der japanischen(49) Geschichte anzusprechen, der nie öffentlich aufgearbeitet worden war. Kaum war das Buch erschienen, da wurde Yuasa(28) mit Briefen überhäuft, deren hasserfüllte Verfasser ihn als »Schande« und »Inbegriff der Dummheit« bezeichneten, weil er die Aufmerksamkeit auf einen Teil des Krieges gelenkt hatte, den der Großteil der japanischen(50) Gesellschaft lieber vergessen hätte. Er erhielt auch Schreiben von anderen Chirurgen, die ebenfalls Vivisektionen durchgeführt hatten und sich durch sein Buch »bedroht« fühlten. Sie wollten sich ihrer Vergangenheit nicht stellen. Die Verleugnung war allgegenwärtig. 

Nach Ansicht des Psychiaters Noda Masaaki(1), der ausführliche Interviews mit Yuasa(29) führte, ist diese Einstellung symptomatisch für das Verhalten der japanischen(51) Ärzteschaft, ja sogar der japanischen(52) Gesellschaft insgesamt.

Ich frage mich, was wir verloren haben, indem wir unsere Vergangenheit auf diese Art verleugnet haben. Wenn wir unsere Lebenserfahrungen leugnen, beschreiten wir den Weg der psychologischen Selbstzerstörung. Wenn Verletzungen der Seele verdrängt werden, brechen diese Wunden irgendwann in Form von emotionalen Funktionsstörungen und psychischen Krankheiten auf. Befinden sich die Japaner(53) heute in einem anderen spirituellen Zustand als während jenes Aggressionskriegs? Zu welcher Zukunft verurteilen wir uns durch die Verleugnung unserer Vergangenheit?(2)41

Abb. 4: Yuasa(30) Ken(31) kurz vor seinem Tod im Jahr 2010.

Nur sehr wenige Menschen, geschweige denn ganze Gesellschaften lassen sich auf jene Art von schmerzhafter Auseinandersetzung mit ihren Verbrechen ein, zu der Yuasa(32) bereit war. Deutschland(30) wird für die Bewältigung seiner Vergangenheit sehr gelobt – insbesondere von japanischen(54) Gelehrten, die sich nicht vorstellen können, dass ein ähnlicher Läuterungsprozess in ihrem Land möglich wäre. Aber wie Yuasa(33) beschritt die deutsche(31) Gesellschaft diesen Weg nur, weil sie dazu gezwungen wurde: anfangs von den Alliierten(13), die darauf beharrten, die Deutschen mit Medienberichten und erzwungenen Besuchen in den Konzentrationslagern über die Übeltaten ihres Landes aufzuklären, später von der nach dem Krieg geborenen Generation, die in den sechziger Jahren erwachsen wurde und Aufklärung darüber verlangte, wie sich ihre Eltern und Großeltern im Dritten Reich verhalten hatten. In Japan(55) fand keine vergleichbare Vergangenheitsbewältigung statt.

Doch selbst in Deutschland(32) ist es nach wie vor schwierig, den Menschen verständlich zu machen, dass es keine Ungeheuer, sondern normale Menschen waren, die den Holocaust(3) ausführten, Kriegsgefangene erschossen und vergewaltigend und mordend durch (1)Osteuropa(3) zogen. In der jüngeren Vergangenheit hat Hitler(7) als dämonische, mephistophelische Figur die kollektive Erinnerung der Deutschen an den Krieg beherrscht, und die Vorstellung vom Krieg selbst gleicht sich zunehmend der in Großbritannien(27) oder den Vereinigten Staaten(48) an: Die Deutschen betrachten diesen Konflikt heute als episches Ringen zwischen Gut und Böse. Diese Vorstellung ist sehr viel leichter zu ertragen, scheint sie doch den »gewöhnlichen« Deutschen seiner Verantwortung zu entheben: Wenn nur »Ungeheuer« Kriegsverbrechen(3) begehen, kann der Rest von uns ruhig schlafen.42

Geschichten wie die Yuasas(34) rufen uns in Erinnerung, dass nicht nur die Opfer von Kriegsverbrechen(4), sondern auch die Täter menschlich sind. Ihre Menschlichkeit anzuerkennen, bedeutet nicht, sie von Schuld freizusprechen, wie manche meinen – im Gegenteil, denn nur Mitmenschen können dafür verurteilt werden, keine Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen.43 Die Einstufung solcher Menschen als »Ungeheuer« bewirkt das Gegenteil: Sie werden aus der Verantwortung entlassen. Trotzdem neigen wir zu dieser Lösung, da sie es uns ermöglicht, uns von den Tätern zu distanzieren. Daher ignorieren wir die zahlreichen historischen, soziologischen und psychologischen Belege dafür, dass ganz normale Menschen – Menschen, die sich nicht allzu sehr von uns unterscheiden – unter bestimmten Bedingungen imstande sind, die entsetzlichsten Verbrechen zu begehen. Das bedeutet, dass wir ebenfalls die Augen vor der Wahrheit verschließen.44

Der Zweite Weltkrieg(51) sorgte nicht nur dafür, dass die bestehenden Vorurteile zwischen den Völkern erheblich verschärft wurden und ein beispielloses Ausmaß annahmen, sondern er schuf auch die Bedingungen dafür, dass sich diese Vorurteile in Hass verwandelten und dass der Hass mörderisch wurde. In einigen Fällen schuf er Dämonen, wo es bis dahin keine gegeben hatte. Und das geschah an so weit voneinander entfernten Orten wie Norwegen(2) und Neuguinea(1).

Eines der Merkmale, die diesen Konflikt von anderen unterscheiden, ist die Dimension seiner Grausamkeit. Auf sämtlichen Kriegsschauplätzen kam es zu Gräueltaten, die von allen Kriegsparteien begangen wurden und oft derart nachdrücklich von Staaten und ihren Institutionen gefördert wurden, dass es manchmal schwierig oder sogar gefährlich war, dem Feind mit einem Mindestmaß an menschlichem Anstand zu begegnen. Alle Seiten beschworen Dämonen herauf, und waren die Feinde erst einmal dämonisiert, so verwandelten sie sich rasch tatsächlich in Teufel.

Wir leben noch heute mit diesen Dämonen, sei es in ihrer ursprünglichen Form oder in Form neuer Feinde, die – kaum überraschend – eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit denen der Vergangenheit haben. Die Feindbilder, die wir uns gegenseitig anheften, werden nicht verschwinden, solange wir den Krieg als Auseinandersetzung zwischen den Kräften des absolut Guten und des absolut Bösen darstellen. Solche Vorstellungen erleichtern es den Siegern, ihr eigenes Fehlverhalten zu leugnen, und erschweren es den Besiegten, sich ihren Sünden zu stellen: Diese sind weiterhin das größte Hindernis im Bemühen um ein kollektives Verständnis der Grausamkeit, die menschliche Wesen aller Nationalitäten und Gesellschaftsschichten im Krieg an den Tag legen.

Es gibt gute Gründe dafür, dass sich diese Mythen von Gut und Böse so hartnäckig halten, Gründe, die wenig mit den Siegern und Besiegten zu tun haben. Die meisten Menschen, die den Zweiten Weltkrieg(52) erlebten, betrachteten sich selbst nicht als Helden oder Ungeheuer, sondern als Opfer. Tatsächlich wird unser Verständnis dieses Krieges in mehrerlei Hinsicht durch diese überwältigende Erfahrung der Opferrolle geprägt. Das Leiden des Opfers liefert den Grund dafür, den Schurken zu verdammen, und verleiht dem Helden moralische Autorität. Und unser Bedürfnis, uns an unsere Rolle als Opfer zu erinnern, zwingt uns, immer wieder auf den Krieg zurückzukommen. Helden und Schurken haben wenigstens die Wahl, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Opfer haben diesen Luxus nicht, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden.