Im Jahr 2013 veröffentlichte ein Universitätsprofessor aus Jerusalem(1) seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg(53). In dem Buch beschreibt Otto Dov Kulka(1), wie sich seine Erfahrungen auf sein späteres Leben ausgewirkt haben. Seine Geschichte macht anschaulich, mit welchen psychologischen Problemen Millionen Menschen nach dem Krieg zu kämpfen hatten. Kulkas(2) Erlebnisse waren vollkommen einzigartig und zugleich repräsentativ für eine sehr viel umfassendere Erfahrung. Sie sind eine Metapher dafür, wie die Welt als ganze den Holocaust(4) und den Zweiten Weltkrieg im Allgemeinen erlebt hat.1
Kulka(3) war sechs Jahre alt, als im Jahr 1939 deutsche(33) Truppen in seinem Heimatland – der Tschechoslowakei(8) – einmarschierten. Als Juden(11) waren die Kulkas(4) ohnehin vorrangige Ziele der deutschen Repression; obendrein wurde sein Vater wegen Beteiligung am Widerstand gegen die Nationalsozialisten(13) verhaftet. Sein Sohn und seine Frau wurden – wie die übrige jüdische Bevölkerung der Tschechoslowakei(9) – ebenfalls verhaftet und eingesperrt.
Kulka(5) war zehn Jahre alt, als er im Herbst 1943 ins Konzentrationslager(4) Auschwitz(2)-Birkenau gebracht wurde. Gemeinsam mit seiner Mutter kam er in ein eigenes »Familienlager«, das als potemkinsches Dorf dienen sollte, falls das Rote Kreuz beschloss, ein Inspektionsteam nach Auschwitz(3) zu schicken. In diesem Lager genoss der Junge »Privilegien«, die den Insassen anderer Sektionen des Lagers vorenthalten wurden: Die berüchtigte »Inspektion« am Bahnhof, bei der die Arbeitsfähigen von denen getrennt wurden, die sofort in die Gaskammern getrieben wurden, blieb ihm erspart. Die Haare wurden ihm nicht abgeschoren, und er durfte seine Kleidung und seine Habseligkeiten behalten. Er und seine Mutter führten ein Leben, das den Anschein einer gewissen Normalität hatte. Er besuchte eine behelfsmäßige Schule, in der er und seine Freunde Theaterstücke und Konzerte aufführten, und sang sogar in einem Chor, der in Sichtweite der Krematorien Beethovens(1) »Ode an die Freude« einstudierte.
Alle Bewohner des Familienlagers waren sich der Tatsache bewusst, dass ihre Situation sehr ungewöhnlich war, und sie konnten nicht verstehen, warum sie für diese Sonderbehandlung ausgewählt worden waren. Aber ihr Glück war nicht von Dauer. Im März 1944, genau sechs Monate nach ihrer Ankunft, musste die gesamte Gruppe aufmarschieren und wurde zu den Gaskammern gebracht. Es fand keine Auswahl statt, es gab kein Entrinnen: Sie wurden einfach allesamt getötet. Anschließend nahm eine neue Gruppe ihren Platz ein und genoss dieselben Privilegien und Freiheiten – so lange, bis ihre sechsmonatige Gnadenfrist abgelaufen war. Kulka(6) und seine Mutter überlebten die erste Massentötung durch schieres Glück, denn in der Nacht, in der ihre Gruppe ausgelöscht wurde, befanden sie sich zufällig beide in der Krankenstation. Aber es war ihnen klar, dass sie lediglich einen befristeten Aufschub erhalten hatten.
Kulka(7) entging mehrfach knapp dem Tod und überlebte Auschwitz(4) schließlich. Er verbrachte den Rest seines Lebens mit dem Versuch, diese traumatischen Erfahrungen zu bewältigen. Er wurde Historiker und spezialisierte sich auf das Studium der NS-Zeit einschließlich der Entstehung von Auschwitz und ähnlicher Vernichtungslager(5). Im Jahr 1984 veröffentlichte er eine sorgfältig dokumentierte Geschichte des Familienlagers, in dem er als Kind eingesperrt gewesen war, und untersuchte die Gründe für die Einrichtung dieses Lagers(5) und für seine Auflösung.
Gleichzeitig begann er, anhand seiner Empfindungen und Erfahrungen in der Kindheit eine ganz persönliche metaphorische Landschaft zu gestalten. In seiner Phantasie verwandelte er Auschwitz(6) in eine »Metropole des Todes«, in die Hauptstadt eines weitläufigen Imperiums der Auslöschung, das sich über die ganze Welt erstreckte. Die Gaskammern und Krematorien wurden zu ewigen Symbolen, losgelöst von ihrer realen Existenz, und die Weichsel, in deren Zuflüsse die Asche der Toten geschüttet wurde, verwandelte sich in einen mythologischen Styx, in einen »Fluss der Wahrheit«.
Es war Kulka(8) klar, dass diese innere Welt nichts mit seinen wissenschaftlichen(3) Erkenntnissen zu tun hatte. An der Universität, an der er Geschichte lehrte, hatte er sich als nüchterner, leidenschaftsloser Forscher einen Namen gemacht – dort war kein Platz für Metaphern, Symbole und eine persönliche Mythologie. Daher trennte Kulka seine innere Welt strikt von seiner akademischen Welt. Doch ihm war klar, dass sie einander widerspiegelten: Die eine konnte ohne die andere nicht existieren.2
Obwohl er selbst überlebt hatte und obwohl der NS-Staat und seine Vernichtungszentren zerschlagen worden waren, war Kulka(10) überzeugt, dass es ihm nie gelingen würde, sich der symbolischen Kraft von Auschwitz(8) zu entziehen. Er litt unter wiederkehrenden, zirkulären Albträumen, in denen er immer wieder vor der Gaskammer gerettet wurde – nur um dieselbe Pein bald darauf von Neuem durchmachen zu müssen. Um sich von diesen Träumen zu befreien, reiste Kulka in den siebziger Jahren nach Auschwitz. Er bestand darauf, eine der ehemaligen Gaskammern zu betreten, um die Geschichte der Auslöschung, die ihn verfolgte, symbolisch abzuschließen. Es gelang ihm nicht. Die Träume setzten sich fort, und Kulka konnte sich nicht von dem Gedanken befreien, der Tod – nicht der gewöhnliche Tod, sondern der »Große Tod«, der Auschwitz(9) beherrschte – sei die »einzige Gewissheit, die die Welt regiert«.3
Kulkas(11) Memoiren enthalten eine besonders anschauliche Beschreibung eines Phänomens, das viele Überlebende des Krieges kennen – nicht nur diejenigen, die den Holocaust(5) erlebten, sondern auch jene, die von Bombenangriffen, Folter, Vertreibung, ethnischen Säuberungen oder einem der vielen anderen traumatischen Ereignisse betroffen waren, die sich rund um den Erdball zutrugen. Viele von denen, die solches Unglück am eigenen Leib erlebten, waren später gezwungen, ihre Traumata ein ums andere Mal in Träumen, Erinnerungen, Schriften oder Gesprächen durchzuspielen. Einige verspürten wie Kulka das Bedürfnis, die Ereignisse, von denen sie persönlich betroffen gewesen waren, zu studieren oder sogar – in dem vergeblichen Bemühen um Bewältigung – erneut zu durchleben. Für diese Menschen kam es nicht infrage, reinen Tisch zu machen und bei null anzufangen. Das symbolische »Ende der Welt«, das sie erlebt hatten, ebnete nicht den Weg zu einer persönlichen Wiederauferstehung, sondern hielt sie im Gegenteil in einem Zustand gefangen, in dem das Bewusstsein des Todes und die Möglichkeit der Apokalypse allgegenwärtig waren. Der Psychologe Robert Jay Lifton(1) hat diesen Zustand in seinen Studien über die Überlebenden der Atombombenabwürfe(7) als »Tod im Leben« bezeichnet.4
Für diese Menschen war der Krieg vorüber und sollte trotzdem ewig dauern. Sie lebten in einer Art von Niemandsland: Weder konnten sie in ihr zerstörtes früheres Leben zurückkehren, noch waren sie imstande, in eine Zukunft aufzubrechen, die eine Wiedergeburt versprach. Otto Dov Kulkas(12) Erfahrung in der »Metropole des Todes(10)« ist nicht mit einer »Erinnerung« im herkömmlichen Sinn vergleichbar. In seinem Denken ist das Ende der Welt nicht vorüber, sondern bleibt »fortwährend ein Teil meiner Gegenwart«.5 Während seines ganzen Lebens hat er an der Überzeugung festgehalten, dass ihn Auschwitz oder das, was Auschwitz(11) repräsentiert, unausweichlich aufzehren wird, so wie es alle Menschen aufzehrte, die er im Jahr 1944 kannte.
GEMEINSCHAFTEN VON OPFERN Was für einzelne Menschen gilt, gilt bis zu einem gewissen Grad auch für Gemeinschaften. Nach 1945 war es fast unmöglich, jüdisch(12) zu sein, ohne eine enge Beziehung zum Holocaust(6) zu entwickeln, und Millionen Juden lebten von da an ständig im Schatten dieser furchtbaren Geschehnisse, auch wenn sie sie nicht persönlich erlebt hatten.6 Die britische(28) Journalistin Anne Karpf(1) hat anschaulich beschrieben, wie es ist, mit Eltern aufzuwachsen, die den Holocaust überlebt haben. Obwohl in ihrem Elternhaus eine Atmosphäre der erzwungenen Zuversicht herrschte, entwickelte Karpf rasch eine Vielzahl ausgeprägter Ängste, hinter denen sich eine ungesunde Besessenheit vom Tod verbarg:
Aber was ich weiß ist, daß der Tod in unserem Zuhause lebendig und allgegenwärtig war. Meine Eltern hatten einige wenige Photoalben aus der Vorkriegszeit gerettet, mit Gruppenphotos von fröhlichen Menschen, die einen frösteln ließen. Sie erzählten uns wer wer war und wie wer gestorben war. Da in unserer Familie kaum noch jemand lebte, mußten die Toten herhalten …. Es scheint, daß ich von Geburt an vom Tod besessen war(2).7
Der Holocaust(7) ist unweigerlich zu einem festen Bestandteil der jüdischen(13) Identität geworden. Konfrontiert mit dem Niedergang der Religion(4) und der zionistischen(1) Bewegung, fällt es vielen Juden in aller Welt schwer, eine große verbindende Idee zu finden, und der Holocaust dient ihnen bis zu einem gewissen Grad als gemeinsamer Bezugspunkt. Nicht alle Juden sind glücklich darüber. Aber so, wie sich einzelne Personen wie Otto Dov Kulka(13) gezwungen sahen, die Erinnerung an Auschwitz(12) in ihren emotionalen Alltag zu integrieren, muss auch die jüdische Gemeinschaft als ganze mit dem Holocaust als unausweichlicher Gegebenheit leben.8
Zahlreiche Ereignisse haben bei den Juden(14) neue Angst geweckt: die Schauprozesse gegen jüdische Politiker und Intellektuelle in der Sowjetunion(15) in den fünfziger Jahren, die Gefangennahme und der Prozess von Adolf Eichmann(1) in den sechziger Jahren, der Arabisch-Israelische Krieg(1) von 1967, der Jom-Kippur-Krieg(1) von 1973, die arabische Intifada, die Zunahme antisemitischer Anschläge in aller Welt nach dem 11. September 2001, das iranische(1) Atomwaffenprogramm, die wachsende Popularität der antisemitischen Partei Jobbik in Ungarn(1) und so weiter. Im Licht der Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs(54) kann die jüdische Gemeinschaft der Welt derartige Ereignisse nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Die Juden(15) sind nicht die Einzigen, die so reagieren. Der Krieg verursachte in vielen anderen Gemeinschaften ähnliche Traumata; man muss sich nur die Statistiken ansehen, um einen Eindruck vom Ausmaß ihrer Verluste zu gewinnen. Zwischen 1939 und 1945 wurden etwa ein Sechstel der polnischen(2) und ein Fünftel der ukrainischen(1) Bevölkerung getötet. Man schätzt, dass die Sowjetunion(16) rund 20 Millionen Einwohner verlor, und wahrscheinlich ist die Opferzahl noch höher: Die Zahlen sind so gewaltig und die Gesellschaft hat so schweren Schaden genommen, dass die Historiker mit Fehlermargen von mehreren Millionen arbeiten.9 Dasselbe gilt für China(26), wo die Zahl der im Krieg getöteten Menschen selbst nach vorsichtigen Schätzungen zwischen 15 und 20 Millionen lag, und einige chinesische(27) Historiker gehen sogar von 50 Millionen Opfern aus.10 Im Jahr 1945 wurde der Begriff »Holocaust(8)« häufig nicht zur Beschreibung des Genozids an den europäischen(30) Juden, sondern des Krieges insgesamt verwendet.
Die Juden(16) sind also nicht die einzige Gemeinschaft, die sich aufgrund ihrer Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg(55) auf morbide Art mit dem Tod identifiziert. Beispielsweise ist eines der wichtigsten Symbole des Krieges in Frankreich(13) der Ort Oradour-sur-Glane(1), der im Jahr 1944 als Repressalie für die Aktivitäten der Résistance in dieser Umgebung zerstört wurde. Die Ortschaft wurde in dem Zustand belassen, in dem sie sich an dem Tag befand, an dem ihre Bevölkerung massakriert wurde. Diese Geisterstadt nimmt als versteinertes Symbol der Negation heute einen besonderen Platz im kollektiven Gedächtnis der Franzosen(14) ein(2). In ganz Europa(31) gibt es solche Märtyrerorte, die gleichermaßen morbid und wichtig für das nationale Selbstverständnis sind. Die Tschechen(10) haben die Ortschaft Lidice(1), die als Vergeltungsakt für die Ermordung des stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich(1) vollkommen ausgelöscht wurde. Die Griechen(3) haben das Dorf Distomo(1), die Italiener(5) Marzabotto(1), die Belgier(2) Vinkt(1). Das prägende Symbol des polnischen(3) Märtyrertums war die systematische Zerstörung Warschaus(3), das nach dem gescheiterten Aufstand im Jahr 1944 von den Deutschen(34) gezielt ausradiert wurde. Die Chinesen(28) erinnern sich mit ähnlichen Gefühlen an Nanking(2) zurück, das 1937 von den Japanern(56) zerstört wurde, die außerdem systematische Massaker an der Bevölkerung der Stadt verübten. Sogar die sogenannten Täternationen haben ihre Symbole des Märtyrertums: Die Deutschen erinnern sich an die Zerstörung Dresdens(4), die Japaner(57) an Hiroshima(11) und Nagasaki(1).
Im Jahr 1945 betrachtete sich jedes am Krieg beteiligte Volk als Opfer des Krieges, und die gemeinschaftlichen Reaktionen der Nationen auf ihre Traumata entsprachen denen der individuellen Opfer. Viele Völker erinnerten sich in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren, als eine verbreitete Angst vor dem Ausbruch eines dritten Weltkriegs herrschte, an das Gefühl des Ausgeliefertseins im Zweiten Weltkrieg(56). Einige hatten das Bedürfnis, die Vergangenheit zu wiederholen; das ging so weit, dass sie die im Krieg erlittene Aggression neu inszenierten: Hier kommen uns sofort die Wellen antijapanischen Ressentiments in den Sinn, die Südkorea(1) periodisch erfassen. Einige Autoren haben »psychoanalytische« Studien dazu vorgelegt, wie sich Israel(1) einige der Merkmale jener Täter angeeignet hat, die in den dreißiger und vierziger Jahren die Juden(17) unterdrückten (und natürlich wurde diese These in anderen Büchern zurückgewiesen). In den schlimmsten Fällen erwiesen sich Nationen als unfähig, ihr Kriegstrauma zu bewältigen, und erlitten einen völligen psychischen Zusammenbruch: So fand der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens(1) in den neunziger Jahren in einer von Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg geprägten Atmosphäre statt und wurde von Episoden der ethnischen Säuberung begleitet, die praktisch Neuinszenierungen jener Geschehnisse waren, die den Balkan ein halbes Jahrhundert früher erschüttert hatten. Einige Gemeinschaften in der Region leben noch heute in Verleugnung oder Furcht und misstrauen ihren Nachbarn aufgrund des Kreislaufs der Grausamkeiten, die im Zweiten Weltkrieg begannen. Die Krise, die im Jahr 2014 in der Ukraine(2) ausbrach, weist ähnliche Merkmale auf: Ein in den vierziger Jahren von Krieg und ethnischen Säuberungen zerrissenes Land hat es seither nicht geschafft, eine stabile, einheitliche Identität zu entwickeln.
DER AUFSTIEG DER MÄRTYRER Unter den vielfältigen Gruppen, die im Zweiten Weltkrieg(57) verfolgt wurden und die noch heute darüber streiten, wer für ihr Leid verantwortlich war, ragt eine heraus, der Inbegriff des Opfers des Zweiten Weltkriegs: Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass die Welt den Juden(18) diese Rolle übertragen hat. Da sie das Hauptziel des Hasses der Nationalsozialisten(16) vor und während des Krieges waren, lag es nahe, nach dem Krieg unser Mitgefühl auf sie zu richten. Sie wurden effizienter und in größerer Zahl ermordet als jede andere ethnische Gruppe, und die industriellen Verfahren, die zu ihrer Vernichtung angewandt wurden, wirken wie eine Verkörperung der Unmenschlichkeit sowohl des NS-Regimes als auch des Krieges. Das macht die Juden zum idealen Symbol unserer kollektiven Opferidentität.
Ebenso bedeutsam sind jedoch die soziologischen Beweggründe für unsere Wahl. Da die Juden(19) ein Volk ohne Land waren, gehörten sie de facto allen Nationen an. Folglich können wir uns alle mit ihrem Leiden identifizieren, ohne die gefährlichen nationalen Rivalitäten zu wecken, die uns erneut in den Abgrund führen könnten. Auch können alle westlichen Nationen in dem Wissen, dass sie die Schuld nicht alleine tragen müssen, eine gewisse Mitverantwortung für den Holocaust(10) eingestehen – sei es als aktive Beteiligte oder als passive Zuschauer. Wir räumen alle bereitwillig die Schuld unserer Vorfahren ein, die tatenlos zusahen, wie die Juden ermordet wurden. Ein universelles Opfer ist ebenso gut geeignet wie ein universeller Sündenbock, um Nationen und Völker zusammenzubringen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Vorstellung nicht über Nacht entstanden ist. Die Menschen in den westlichen Ländern sind so daran gewöhnt, gemeinsame Trauer über das einzigartige Leid kundzutun, das den Juden(20) zugefügt wurde, dass sie annehmen, jeder anständige Mensch empfinde genauso und habe immer so empfunden. Tatsächlich dauerte es jedoch Jahrzehnte, bis sich dieses Gefühl herausbildete. Wir glauben, uns daran zu erinnern, die alliierten Soldaten, die Auschwitz(13), Bergen-Belsen(1) und Dachau(2) befreiten, hätten die Juden augenblicklich in »die warme Umarmung der Freiheit« eingeschlossen, wie es Bill Clinton(3) ausdrückte.11 Aber so war es nicht. In Wahrheit schreckten die meisten Soldaten vor dem Grauen dieser Orte zurück, und ihr Mitgefühl trat oft in den Hintergrund gegenüber der Abscheu vor den »Kreaturen« und »affenartigen lebenden Skeletten«, die sie dort vorfanden.12 Die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, die in den folgenden Monaten die Vertriebenen(1) versorgten, entwickelten eine ähnlich widersprüchliche Beziehung zu den Juden. Sie bemühten sich um Mitgefühl für diese besonders schwer traumatisierte Gruppe, reagierten jedoch mit wachsender Frustration auf die Unfähigkeit der Juden, sich »normal« zu verhalten oder Dankbarkeit zu zeigen, und gelangten zu der Überzeugung, diese Menschen seien rachsüchtige Unruhestifter und »zukünftige Kriminelle«. Sogar der Leiter(1) der Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen (UNRRA) in (1)Westdeutschland(1) bezeichnete sie als »verzweifelte Menschen, die vor nichts zurückschrecken werden«.13 Später, als diese Juden heimkehrten, machten ihnen ihre Gemeinden auf schmerzhafte Art klar, dass sie nicht hören wollten, was die KZ-Überlebenden durchgemacht hatten, und oft stießen sie sogar auf offene Feindseligkeit. Alle Welt hatte im Krieg gelitten. Niemand wollte hören, dass jemand anders noch Schlimmeres durchgemacht hatte als man selbst.14
Auch in den folgenden Jahren wuchs das Mitgefühl mit den Juden(21) nicht wesentlich. Neuere historische Studien haben gezeigt, dass die Europäer(32) in den vierziger und fünfziger Jahren nach Möglichkeit vermieden, sich Geschichten über den Holocaust(11) anzuhören, denn diese Geschichten förderten die schlimmsten Konsequenzen ihrer Kollaboration mit dem NS-Regime zutage – und von dieser Kollaboration wollten sie sich unbedingt distanzieren. Der Genozid an den Juden war auch unvereinbar mit dem tröstlichen Mythos, alle Europäer(33) hätten gleichermaßen gelitten.15 Das Mitgefühl der Amerikaner(49) war nicht viel größer: In den fünfziger Jahren hatten sie genug vom Leiden der Juden gehört; die neue kommunistische(6) Bedrohung machte ihnen größere Sorgen als das alte Gespenst des Nationalsozialismus(19).16 Sogar im neu entstandenen jüdischen Staat war ein auffälliger Mangel an Mitgefühl mit den Holocaustüberlebenden zu beobachten: Die Israelis(2) wollten sich selbst lieber als Kämpfer, als Helden sehen, die stark genug waren, ihr Land zu verteidigen. Für die europäischen Juden, die widerstandslos ins Verderben gegangen seien »wie Lämmer zur Schlachtbank«, hatten sie oft nur Verachtung übrig. Die Überlebenden waren, wie die israelische Dichterin Leah Goldberg(1) schrieb, »hässlich, verarmt, moralisch labil und schwer zu lieben«.17 Selbst David Ben-Gurion(1), einer der Gründerväter des jüdischen Staates, bezeichnete einen Teil der Überlebenden als »harte, böse, egoistische Menschen«, deren Martyrium alles, »was es in ihrer Seele noch an Gutem gab«, zerstört habe.18
Die Menschheit identifizierte sich also keineswegs mit den Opfern, sondern legte ihnen gegenüber eine ziemlich feindselige Haltung an den Tag. Erst als die erste Nachkriegsgeneration in den sechziger Jahren erwachsen wurde, begann die Welt, die Menschen, die den Holocaust(12) am eigenen Leib erlitten hatten, zu akzeptieren und sich mit dem Grauen des Genozids auseinanderzusetzen. Es gibt mehrere Gründe für diesen Sinneswandel; einige davon sind untrennbar mit den historischen Ereignissen verknüpft. Das vielleicht wichtigste war die Gefangennahme des Kriegsverbrechers(5) Adolf Eichmann(2), den der Mossad 1960 in Buenos Aires(2) aufspürte. Sein Prozess im Jahr darauf wurde bewusst so gestaltet, dass die Welt darüber aufgeklärt werden konnte, was die Nationalsozialisten(20) dem jüdischen(22) Volk angetan hatten. Die Berichterstattung durch gefeierte Intellektuelle wie Hannah Arendt(1) wurde überall im Westen aufmerksam verfolgt.19 Dazu kamen gesellschaftliche Veränderungen. Die erste Nachkriegsgeneration lehnte sich gegen jede Autorität auf, und viele ihrer Angehörigen schlüpften in die Rolle von Außenseitern. Der Jude war, um es mit den Worten Jean-Paul Sartres(2) zu sagen, »der Fremde, der Eindringling, der Nichtassimilierte innerhalb der Kollektivität«, aber auch die »Quintessenz des Menschen«. In den sechziger Jahren begannen sich alle möglichen Gruppen mit verfolgten Minderheiten zu identifizieren: Es war die Zeit von Liebe und Frieden, Feminismus(1), Bürgerrechten für die Afroamerikaner und so weiter. Als Studenten 1968 mit dem Slogan »Nous sommes tous des Juifs allemands« (Wir sind alle deutsche(35) Juden) auf die Straße gingen, wollten sie damit nicht nur ihre Solidarität mit dem archetypischen Außenseiter, sondern auch ihre Selbstidentifikation als Opfer zum Ausdruck bringen.20
Abgesehen davon, dass sich die Einstellung der Weltöffentlichkeit änderte, tauchte in den sechziger Jahren eine Vielzahl von historischen Abhandlungen, Memoiren, Romanen, Fernsehdramen, Dokumentationen und Hollywoodfilmen über den Holocaust(13) auf. In den folgenden zwei Jahrzehnten verstärkte sich dieser Trend noch, und die ›Holocaustgeschichte‹ verwandelte sich in ein eigenes Genre. Die Memoiren von Autoren wie Primo Levi(1) und Elie Wiesel(1) fanden erstmals ein Massenpublikum, und Raul Hilbergs(1) bahnbrechendes Werk The Destruction of the European Jews (1961, deutsch(36) als: Die Vernichtung der europäischen(34) Juden(23), 1982) ebnete nachfolgenden Studien über die Geschichte des Holocaust den Weg. Den vielleicht entscheidenden Wendepunkt in der Darstellung dieses Völkermords markierte die Ausstrahlung der amerikanischen(50) Fernsehserie Holocaust im Jahr 1978, die in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik(37) Millionen Zuschauer schockierte und fesselte. Besonders bedeutsam war die Rezeption in Deutschland(38): Zum ersten Mal wurde ein Massenpublikum mit einer schonungslosen Darstellung des Holocaust konfrontiert, und nicht wenige Historiker sind der Ansicht, diese Serie habe den Deutschen den Anstoß zur Bewältigung ihrer nationalsozialistischen(21) Vergangenheit gegeben.21 Weitere Meilensteine waren die epische Dokumentation Shoah des französischen(15) Regisseurs Claude Lanzmann(1) (1985) und Steven Spielbergs(1) mit mehreren Oscars ausgezeichneter Spielfilm Schindlers Liste(1) (1993).
Eine Gemeinsamkeit all dieser Darstellungen des Holocaust(14) ist, dass sie das Leiden des Opfers als zentrale Erfahrung des Zweiten Weltkriegs(58) begreifen. Die Geschichten des Genozids lösen sich von der traditionellen Darstellung des Krieges als Titanenkampf zwischen Helden und Schurken und untersuchen die Dichotomie von Täter und Opfer, Mächtigen und Machtlosen, Unschuldigen und Schuldigen. Die Opfer werden in diesen Geschichten stets idealisiert: Sie sind, um es mit den Worten eines amerikanischen(51) Kritikers(1) zu sagen, eine Gruppe »höflicher, gebildeter, zivilisierter Menschen aus der Mittelschicht«, das heißt Menschen »wie wir«. Streitlustige Juden(24), ignorante Juden – die brutalen Menschen, die Lügner und Nichtsnutze, die es in jeder Gemeinschaft gibt – werden, wenn überhaupt, nur selten porträtiert.22 Die Täter hingegen sind immer teuflische Figuren: KZ-Wächter sind durchweg Sadisten, Vertreter des NS-Regimes sind stets korrupt und heimtückisch. In vielen der einflussreichsten Memoiren und Dramen lauert im Hintergrund auch ein gewaltiges, namenloses Böses – der Holocaustüberlebende und Nobelpreisträger Elie Wiesel(2) bezeichnete es als »eine dämonische Konvulsion« in den Kräften, die unsere Welt gestalten.23
Diese Vorstellung vom Holocaust(15) als Kampf zwischen guten, schuldlosen Menschen und einer übermächtigen, unaufhaltsamen Kraft des Bösen hat sich in unserem kollektiven Unbewussten festgesetzt. Journalisten und Gelehrte, die Zweifel an dieser Dichotomie äußern, müssen mit heftiger Kritik rechnen. Beispielsweise löste Hannah Arendts(2) Buch über den Eichmann(3)-Prozess wütende Reaktionen amerikanischer(52) Juden(25) aus, da die Autorin diese beiden absoluten moralischen Kategorien infrage gestellt hatte. Auf der einen Seite erklärte Arendt(3), das Beunruhigende an der Person Eichmanns(4) sei gerade, »daß er wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind«. Außerdem wies sie darauf hin, dass einige Führer der jüdischen Gemeinde aktiv mit dem NS-Regime kooperiert hatten. Daraufhin wurde sie in einer jüdischen Zeitung als »von Selbsthass erfüllte Jüdin« gebrandmarkt, und eine einflussreiche jüdisch-amerikanische Institution startete eine Kampagne gegen ihr »böses Buch(4)«.24 Dem Journalisten John Sack(1) erging es ähnlich, als er versuchte, ein Buch über jüdische Racheakte nach Kriegsende zu veröffentlichen. Zahlreiche amerikanische und europäische(35) Verlage nahmen aus Angst vor schlechter Presse Abstand von einer Veröffentlichung des Buches, und der Autor wurde in den Medien bezichtigt, den Holocaust zu leugnen.25 Als der Historiker Christopher Browning(1) in einem Buch die These aufstellte, die Täter des Holocaust seien keine von Hass oder Fanatismus getriebenen Ungeheuer, sondern »normale Männer« gewesen, reagierte sein empörter Kollege Daniel Goldhagen(1) mit einer 600 Seiten langen Streitschrift, in der er Browning(2) zu widerlegen versuchte. In seinem Buch Hitlers(8) willige Vollstrecker dämonisierte er die Deutschen(39) als ein vom mörderischen Hass auf die Juden angetriebenes Volk. Interessant ist, dass Brownings(3) Arbeit zwar mehr Zustimmung in akademischen Kreisen fand, Goldhagens(2) klare Identifizierung des Ungeheuers, die für viele Menschen beruhigend war, jedoch zu einem Bestseller wurde.26
Heute idealisieren wir »die Juden(26)«, die im Zweiten Weltkrieg(59) zu Opfern wurden, und dämonisieren »die Nazis(24)« fast automatisch. Jüdischen Holocaustüberlebenden bringt die Öffentlichkeit eine Ehrerbietung entgegen, die normalerweise Kriegshelden vorbehalten ist – und tatsächlich werden sie bei Gedenkfeiern und in Leitartikeln oft als »Helden« bezeichnet.27 Nur selten wird hervorgehoben, dass das Leben vieler Juden nach ihren leidvollen Erfahrungen von Verbitterung geprägt war; stattdessen wird ihr Leben als »Triumph des Guten über das Böse«, als »Zeugnis des Muts« oder als »leuchtendes Beispiel für das Überleben der Menschlichkeit« gefeiert.28 Geistliche Würdenträger und Politiker erinnern uns regelmäßig daran, dass die Juden(27) im Krieg »unschuldige Opfer, unschuldige Menschen« oder »sechs Millionen unschuldige … Männer, Frauen, Kinder, Babys« waren.29 Die ständige Betonung ihrer Unschuld dient nicht nur der redlichen und lange überfälligen Widerlegung antisemitischer Stereotype, sondern beschwört auch etwas Größeres – eine spirituelle Reinheit, die direkt mit ihrem Status als Opfer zu tun hat. Sie werden regelmäßig als »gesegnet«, als »jüdische Gegenstücke der Heiligen« und Bewahrer eines Mysteriums bezeichnet, das »unmöglich enträtselt oder vermittelt« werden könne. 1974 bezeichnete der Bischof(1) von New York(3) die Juden als »heilige Unschuldige«, deren »Opfer« uns alle erlösen könne. »Der Überlebende ist zum Priester geworden«, erklärte der Leiter der Bildungsabteilung der israelischen(3) Holocaustgedenkstätte Yad Vashem(2) im Jahr 1993, »weil er wegen seiner Geschichte heilig ist«.30
Viele Historiker, Soziologen und Psychologen haben beobachtet, dass sich der Genozid an den Juden(28) zu etwas entwickelt hat, das Ähnlichkeit mit einer »Mysterienreligion(5)« hat, samt heiligen Schriften, Reliquien und heiligen Orten.31 An der Oberfläche weist diese »Mysterienreligion« Gemeinsamkeiten mit der persönlichen Mythologie von Otto Dov Kulka(14) auf, in der er ein »Reich des Todes« beschreibt, in dem unveränderliche und undurchschaubare Gesetze gelten. Doch in anderer Hinsicht hat diese gemeinschaftliche Mythologie nichts mit Kulkas(15) persönlicher Mystik zu tun. Zunächst einmal achtet Kulka stets darauf, seine persönliche Mythologie strikt von seinem wissenschaftlichen(4) Verständnis der Fakten zu trennen, während jene außerhalb der akademischen Welt nicht immer so gewissenhaft sind.32 Und während Kulkas(16) mythische Welt unveränderlich bleibt, fast wie ein Fossil in seinem persönlichen Trauma eingeschlossen, ändert sich die allgemeine Wahrnehmung abhängig von den politischen und kulturellen Gezeiten. Unser heutiges mystisches Verständnis der Geschichte des Holocaust(16) hat keine Ähnlichkeit mit den Geschichten von heroischem Widerstand, die in den fünfziger Jahren das jüdische Narrativ beherrschten, oder mit der Stimmung der Niedergeschlagenheit, in der dieses Thema in den achtziger Jahren behandelt wurde. Eigentlich ist die Geschichte, die wir heute erzählen, überhaupt keine spezifische Geschichte der Juden mehr. In seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Darstellung des Holocaust im Leben der Vereinigten Staaten(53) hat Peter Novick(1) auf diese kuriose Tatsache hingewiesen:
Am neuen Gedenken der Juden(29) an den Holocaust(17) verblüfft mich unter anderem besonders, wie »unjüdisch« – wie christlich – es ist. Ich denke an das Ritual, ehrfurchtsvoll den vorgezeichneten Holocaustparcours in den großen Museen zu folgen, die nichts so sehr ähneln wie der Via Dolorosa und ihren Stationen der Kreuzigung; die ausgestellten Fetischobjekte ähneln den zahllosen Bruchstücken des Kreuzes Christi oder den Schienbeinknochen der Heiligen … Besonders bezeichnend ist vielleicht die Heiligung und Darstellung des Leidens als Weg zur Weisheit – der Kult des Überlebenden als säkularisierter Heiliger. Diese Themen haben einige unbedeutende Vorläufer in der jüdischen Tradition, gleichen aber in höherem Maße wichtigen Themen des Christentums(2).33
Je »globaler« die Mythologie des Holocaust(18) wurde, desto umfassender übernahm sie die Sprache und Symbolik der maßgeblichen – im Westen überwiegend christlichen(1) – Kultur. In diesem Kontext hat sich Auschwitz(14) in das jüdische(30) Gegenstück Golgathas verwandelt, und die großen Gedenkstätten und Museen in Jerusalem(3), Washington(2) und Berlin(2) sind zu nationalen jüdischen Kathedralen geworden. Das jüdische Opfer wandelte sich in unserer kollektiven Imagination langsam vom »Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird«, zum Lamm Gottes – einer Art kollektivem christlichem Messias. Im christlichen(2) Denken werden Europas(36) Juden der Kriegsjahre oft als »Märtyrer des Holocaust« bezeichnet, deren »Opfer« die Welt endlich zur Vernunft brachte, und ihr »Leidensweg« wird oft anhand von Kreuzigungsbildern dargestellt. So wurde eine spezifisch jüdische Erfahrung in den Augen der Welt subtil in eine christliche(3) verwandelt.34
Den logischen Abschluss dieses Narrativs bilden Erlösung und Wiederauferstehung. Der Holocaust(19), der ursprünglich eine Geschichte des Grauens war, eine Geschichte über die Fähigkeit des Menschen, Böses zu tun, hat sich in eine Geschichte der Hoffnung verwandelt. Heute beglückwünschen wir uns dazu, die richtigen Lehren aus dem Krieg gezogen zu haben. Wir stellen befriedigt fest, dass sich Europa(37) aus seinen Trümmern erhoben und ein stabiler, toleranter, friedfertiger Kontinent geworden ist. Als Weltgemeinschaft sind wir stolz auf unsere internationalen Institutionen und unser internationales Rechtssystem und erklären, der Schrecken des Holocaust werde sich niemals wiederholen. Das ist eine sehr viel hoffnungsvollere Mythologie als die vorausgegangener Jahrzehnte – aber es ist gleichwohl eine Mythologie.35
DER WETTBEWERB DER MÄRTYRER Und was wird aus den tatsächlichen Opfern, aus den Menschen aus Fleisch und Blut, die den Holocaust(20) am eigenen Leib erfuhren? Zweifellos kommt die Sakralisierung des Holocaust vielen Überlebenden entgegen: Sie gibt diesen Menschen das Gefühl, dass die Welt sie respektiert und ihnen zuhört, verleiht sogar ihrem Leben einen Sinn, wenn sie die Botschaft des »Nie wieder!« verbreiten. Aber andere fühlen sich zutiefst unwohl, nicht nur weil sie gedrängt werden, in ihren Erfahrungen etwas Erlösendes zu finden, sondern auch weil sie die heutige Darstellung des Genozids als unterdrückend empfinden. Otto Dov Kulka(17) gesteht in seinen Memoiren, dass er sich keine Filme über Auschwitz(15) angesehen und keine Berichte anderer KZ-Häftlinge gelesen habe – nicht weil das quälende Erinnerungen wecke, sondern weil er den dort beschriebenen Ort nicht wiedererkenne. Er entdeckt in den Erinnerungen an Auschwitz eine »einheitliche Sprache« – man könnte auch sagen eine einheitliche Mythologie –, die weltweit akzeptiert wird, aber diese Sprache und Mythologie, dieses Auschwitz(16) hat nichts mit dem zu tun, was er erlebt hat. Zu seiner großen Enttäuschung weckten die Berichte von Leidensgenossen bei ihm nie Mitgefühl, sondern nur ein »überwältigendes Gefühl der Entfremdung«.36 Andere Überlebende empfanden ähnlich. Ihre persönlichen Geschichten fanden zwar individuelle Anerkennung, wurden jedoch auf dem Altar eines umfassenderen und angenehmeren Mythos geopfert; in den Augen der Welt erscheint der Holocaustüberlebende »als ein Museumsstück, als eine Abnormalität, ein Gespenst«.37
Nicht nur einzelne Menschen fühlen sich durch die Heiligsprechung des jüdischen(31) Martyriums entfremdet. Polen(4) zählt zu den vielen Ländern, die unter einem Phänomen leiden, für das die – vermutlich ein wenig geschmacklose – Bezeichnung des »Holocaustneids« geprägt wurde. Die Polen definieren sich seit zwei Jahrhunderten als Volk von Märtyrern, das wiederholt Opfer größerer, mächtigerer Nachbarn wurde und unablässig für seine Freiheit kämpfen muss. Die Erfahrungen Polens(5) im Zweiten Weltkrieg(60) schienen dieses Selbstbild zu bestätigen: Das Land wurde mehrfach zerschlagen und ging mit einer zerstörten Wirtschaft, verwüsteten Städten und vollkommen neuen Grenzen aus dem Krieg hervor. Anders als (1)Westeuropa(3), das im Jahr 1945 seine Freiheit wiedererlangte, geriet Polen erneut unter eine totalitäre Herrschaft, die erst vierzig Jahre später mit dem Zusammenbruch des Kommunismus(7) enden sollte. Gemessen an den absoluten Zahlen, hatten die Polen genauso viele Opfer zu beklagen wie die Juden – tatsächlich war die Hälfte der ermordeten Juden polnischer Nationalität. Aber aufgrund der Beihilfe vieler Polen(6) zum Völkermord an ihren jüdischen Landsleuten blieben sie großen Teilen der Weltöffentlichkeit nicht als Opfer, sondern als Täter in Erinnerung. Diese Vorstellung macht den Polen heute sehr zu schaffen – nicht weil ihr Antisemitismus ausgeprägter wäre als der anderer Völker oder weil ihre Fähigkeit, die Verantwortung für ihre Missetaten zu übernehmen, geringer wäre, sondern weil sie so daran gewöhnt sind, sich selbst als den »Christus unter den Nationen« zu betrachten, dass sie sich nicht mit der Tatsache abfinden können, dass sich die Juden diesen Titel angeeignet haben.38
Es gibt eine Reihe weiterer Völker, die den Juden(32) ihren Status als archetypische Märtyrer der Welt neiden. Als die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2005 dem Holocaust(21) eine eintägige Gedenkfeier widmete, ließen es sich einige Delegierte nicht nehmen, die Aufmerksamkeit auf das tragische Schicksal ihrer eigenen Nationen im Zweiten Weltkrieg(61) zu lenken. Der südkoreanische(2) UNO-Botschafter machte darauf aufmerksam, dass die Kriegsgräuel nicht auf Europa(38) beschränkt gewesen seien; andere Weltregionen hätten »ebenfalls massive Menschenrechtsverletzungen(2) und Brutalität erduldet«. Vermutlich hatte er das Schicksal der koreanischen(3) ›Trostfrauen‹ im Sinn, die in japanischen(58) Militärbordellen als Sexsklavinnen gehalten worden waren und seit den neunziger Jahren als Symbol für die Opfer gelten, die Korea im Krieg bringen musste. Der chinesische(29) Delegierte wies auf das entsetzliche Gemetzel in seinem Land hin, bei dem nach seinen Angaben 35 Millionen Menschen getötet worden waren. Hitlerdeutschland habe ungezählte Gräueltaten begangen, erklärte er, aber die »militaristischen Schlächter« aus Japan(59) hätten den Nationalsozialisten(25) »in nichts nachgestanden«.
Andere Teilnehmer an der Gedenkfeier wollten die Opferrolle noch umfassender definieren. Der Sondergesandte Guineas nutzte im Namen der afrikanischen(5) Staaten die Gelegenheit, um die Welt an den Schrecken der Sklaverei(7), des Kolonialismus und der Apartheid zu erinnern. Der ruandische(1) Vertreter ließ sich ausführlich über den Völkermord in seinem Land aus, dasselbe tat der Delegierte aus dem benachbarten Tansania(1). Der armenische(1) Vertreter erwähnte nicht nur den türkischen(1) Genozid an den Armeniern(2), sondern auch zahlreiche andere, ähnliche Verbrechen und beklagte sich darüber, dass die Vereinten Nationen beim Vergleich zwischen zwei Völkermorden »mit zweierlei Maß« mäßen. Der venezolanische(1) Delegierte verstieg sich sogar dazu, »Eroberungskriege der USA und ihrer Verbündeten« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verurteilen.
Möglicherweise kündigen diese Vorgänge eine Verschiebung unserer Vorstellung von den Opferrollen im Zweiten Weltkrieg(62) an, aber für den Augenblick bleibt der Holocaust(22) das zentrale Symbol, um das sich alle anderen Opfer sammeln. Zumindest in jener Sondersitzung der UNO-Vollversammlung war die zentrale Rolle des Holocaust nie ernsthaft bedroht, und dieser Genozid blieb der Maßstab, an dem alle anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemessen wurden. Er war immer noch »das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts«, die »absolute moralische Schande«, der »schlimmste Ausdruck der Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen«. Selbst jene, die ähnliche Anerkennung für ihr eigenes Leid verlangten, zweifelten nicht am Wert des universellen Opfers der Juden(33). Der armenische(3) Delegierte drückte das Gefühl vieler anderer »Opfer« aus, als er sagte: »Wir alle sind die Juden.«39
In Wahrheit ist der Hauptgrund dafür, dass wir uns entschieden haben, die jüdischen(34) Opfer des Holocaust(23) zu unseren archetypischen Opfern zu machen, einfach darin zu suchen, dass diese Wahl fast allen entgegenkommt. Die Europäer(39) sehen im Holocaust eine Warnung, und das kollektive Schuldgefühl verbindet die Länder des Kontinents – es ist praktisch das Einzige, worüber sich alle Europäer(40) einig sind.40 Vielen südamerikanischen(4) Ländern bot der Holocaust indirekt eine Möglichkeit, ihre eigene leidvolle Geschichte aufzuarbeiten: So diente beispielsweise die Holocaustgedenkstätte in Montevideo(1) als Vorbild für spätere Monumente, die im Gedenken an die Opfer der faschistischen Diktatur Uruguays(1) errichtet wurden.41 Die Nationen Afrikas(6) und Asiens(10) trieben den Holocaust als letzten Nagel in den Sarg des Mythos von der Überlegenheit der weißen Europäer(41) und nutzten ihn als zusätzliche Rechtfertigung für die Entscheidung, die Kolonialherrschaft abzuschütteln (sofern es einer solchen Rechtfertigung bedurfte).42 Die Amerikaner(55) bedienen sich des Genozids an den Juden nicht nur, um ihren Heroismus bei der Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus(26) zu demonstrieren, sondern auch, um den Unterschied zwischen der verrotteten Alten Welt und der überlegenen Neuen Welt herauszustreichen.43 Und die Juden selbst hat ihr Status als Opfer mit einer moralischen Macht ausgestattet, die in deutlichem Kontrast zu ihrer Machtlosigkeit im Zweiten Weltkrieg(63) steht. In der Vorstellung der Welt hat der Holocaust sie fast zu einem heiligen, mit einer scheinbar ewigen Unschuld gesegneten Volk gemacht.44
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, profitiert die ganze Welt vom Mythos des universellen Opfers – nicht weil sie irgendwelche Lehren daraus gezogen hätte, sondern weil sie glaubt, etwas daraus gelernt zu haben. Dies ist der letzte Mythos des Holocaust(24), mit dem wir uns im nächsten Kapitel befassen werden: die tröstliche Überzeugung, der Schrecken des Zweiten Weltkriegs(64) habe uns eine Art von Erlösung und Wiedergeburt ermöglicht. Dies ist der vermutlich verführerischste Mythos, der aus diesem Krieg hervorgegangen ist.