Am 9. August 1945, drei Tage nach der Zerstörung Hiroshimas(12), wurde eine zweite Atombombe(8) über Japan(60) abgeworfen. Nagai(1) Takashi saß in seinem Büro in der Universitätsklinik von Nagasaki(2), als die Bombe explodierte. Anders als Ogura Toyofumi(10) sah er die furchtbare Schönheit der Explosion nicht: Er wurde von einem Blitz geblendet, auf den ein heftiger Windstoß folgte, der ihn durch die Luft schleuderte und unter einem Haufen Schutt und Glassplittern begrub.
Wie fast alle Schilderungen von Atombombenüberlebenden(9) weist auch die von Nagai(2) apokalyptische Züge auf. Er beschreibt große Objekte, die »in einem makabren Tanz« durch die Luft trudeln, und verkohlte Leichen, die über eine »Welt der Toten« verstreut liegen. Einige seiner Kollegen suchten eine Erklärung für das unvorstellbare Geschehen: Die Sonne müsse explodiert sein, vermuteten sie.
Wenige Tage später verstärkte Kaiser Hirohito(1) mit der Bekanntgabe der japanischen(61) Kapitulation bei seinen Landsleuten den Eindruck, sie seien Zeugen der Apokalypse gewesen: »Japan(62) mit seinem Fuji-Berg, der symbolisch die Wolken durchstößt und im Schein der aus dem Ostmeer steigenden Sonne steht, war untergegangen. Die Nation war hingeworfen und lag in der Tiefe eines Abgrundes. Es blieb ihr ein Leben in Scham und Schande – einzig die sind glücklich zu preisen, die an der Atombombe(10) gestorben.«1
Bemerkenswert ist, dass Nagai(3) anscheinend in der Lage war, diese Katastrophe und Japans(63) Schicksal ohne große Bitterkeit zu akzeptieren. Als gläubiger Christ besaß er zweifellos das Rüstzeug, um einen schweren Verlust zu bewältigen, aber Geschwindigkeit und Tiefe seiner psychischen Erholung erscheinen außergewöhnlich. Als ihm einer seiner früheren Studenten einige Monate später von seinem Wunsch erzählte, Rache für den Atombombenabwurf(11) zu nehmen, wies Nagai(4) ihn sanft zurecht: »Ich habe mein Haus, meine Frau und meinen Besitz verloren. Ich habe alles verloren. Ich wurde geschlagen und hatte all meine Kraft eingesetzt. Wie kann ich die Niederlage beklagen? Wo wäre da noch ein Platz für Bedauern? Mir ist, als erblickte ich den Mond wieder nach dem Regen. Wir haben gut gekämpft bis zum letzten.«2
Nagai(5) erlebte nun eine Phase der geistigen Wiedergeburt. Als Radiologe an der Universität war er mit den wissenschaftlichen(5) Grundlagen der Atomphysik vertraut und gelangte rasch zu dem Schluss, dass er die Explosion einer der ersten Atombomben(12) erlebt hatte. Die Vorstellung faszinierte ihn. Obwohl seine Welt rund um ihn einstürzte, wurde ihm klar, dass »an diesem Himmel … der Vorhang vor dem Atomzeitalter(2) aufgezogen« war. Trotz der zermürbenden Trauer verspürten er und seine Kollegen den Wunsch, »nach Wahrheit zu forschen. Inmitten der Ruinen unserer verwüsteten Stadt erfüllte uns ein neuer Inhalt.«3 In den folgenden Monaten untersuchte er gemeinsam mit anderen japanischen(64) Wissenschaftlern erstmals die Strahlenkrankheit, wobei er selbst zu den Studienobjekten zählte. Nagai(6), der ohnehin schon durch eine Leukämieerkrankung geschwächt war, starb sechs Jahre später an den Folgen der radioaktiven Verseuchung.
Nagais(7) Reise von der Verzweiflung über Trauer und Akzeptanz zur geistigen Wiedergeburt würde ein Psychologe wohl als eine relativ gesunde Reaktion auf extrem traumatische Erlebnisse beschreiben. Dank seines christlichen(4) Glaubens und seiner Leidenschaft für die Wissenschaft(6) gelang es Nagai(8), seinen Verlust in etwas Sinnvolles zu verwandeln; obwohl er in seinen wenigen verbleibenden Lebensjahren mit den Konsequenzen dieses Verlusts leben musste, gelang ihm ein Neubeginn.
Viele Japaner(65) konnten sich mit Nagais(9) Geschichte identifizieren. Seine Memoiren, Die Glocken von Nagasaki(3), wurden ein Bestseller und zu einem sehr erfolgreichen Kinofilm verarbeitet, dessen Titelmusik fast so etwas wie eine Hymne jener Zeit wurde. Das japanische(66) Bildungsministerium empfahl das Buch als Schullektüre. In den folgenden Monaten wurde Nagai(10) für die Japaner fast so etwas wie ein Heiliger: Die japanischen(67) Zeitungen bezeichneten ihn tatsächlich oft als »den Heiligen von Nagasaki(4)«, und man verglich ihn regelmäßig mit Gandhi(1). Seine Heimatstadt(5) verlieh ihm die Ehrenbürgerschaft, und der japanische(68) Staat erklärte ihn offiziell zum Nationalhelden. Sein Buch fand auch internationale Anerkennung: Helen Keller(1), Kaiser Hirohito(2) und ein Abgesandter des Papstes besuchten ihn am Krankenbett. Nach seinem Tod im Mai 1951 verklärte ihn ein Teil seiner Landsleute als eine Art Christus, dessen Leidensweg sinnbildlich für Japans Opfer im und nach dem Krieg stand(11).4
Der Reiz von Nagais(13) Geschichte bestand zum Teil darin, dass es ihm gelungen war, eine Katastrophe in einen Triumph zu verwandeln. Die Bombe hatte ihn nicht zerstört, sondern verändert: Er war durch sein Martyrium wiedergeboren worden. Genau diese Botschaft predigte er in seinen Büchern und anderen Schriften. Im November 1945 hielt Nagai(14) bei einer Totenmesse in den Ruinen der Urakami-Kathedrale in Nagasaki(6) eine Ansprache, in der er die Atombombe(13) nicht als Botin der Zerstörung, sondern als Geschenk Gottes beschrieb:
»Ich glaube nicht, dass die Besatzung des amerikanischen(56) Bombers unseren Vorort auswählte. Die göttliche Vorsehung wollte es, dass das Flugzeug die Bombe genau über unseren Häusern in Urakami abwarf. Gibt es nicht einen engen Zusammenhang zwischen der Auslöschung Nagasakis(7) und dem Kriegsende? War nicht Nagasaki das auserwählte Opfer, das fehlerfreie Lamm, das auf einem Opferaltar verbrannt wurde, um die Sünden aller Nationen im Zweiten Weltkrieg(65) zu sühnen? … Lasst uns dankbar dafür sein, dass Nagasaki für das Brandopfer auserwählt wurde. Lasst uns dankbar dafür sein, dass der Welt im Gegenzug für dieses Opfer der Friede geschenkt wurde …(15)«5
In dieser außergewöhnlichen Rede brachte Nagai(16) eine Vorstellung zum Ausdruck, die auch von vielen Vertretern der japanischen(70) Kultur und Politik verfochten wurde. Im selben Monat erklärte der Präsident der Universität Tokio(4) den Studenten, die an die Hochschule zurückkehrten, dass sie diese Niederlage als Beginn einer neuen Ära von »Vernunft und Wahrheit« feiern sollten.6 Einer der einflussreichsten japanischen(71) Philosophen der Nachkriegszeit, Tanabe Hajime(1), bezeichnete die Verzweiflung seines Landes ebenfalls als natürlichen Schritt auf dem Weg zu »Wiederauferstehung und Genesung«: Dieses wiedergeborene Land werde der Welt den Weg zu einem sichereren, friedlicheren Planeten weisen.7 Noch vor Beginn der amerikanischen(57) Besatzung, im August 1945, erklärte der Leiter der staatlichen Informationsbehörde, die Erfahrung der Atombombe(14) werde aus den »Verlierern des Kriegs« die »Gewinner des Friedens« machen.8 Japan(72) hatte endlich einen besonderen Platz in der Welt eingenommen – nicht durch Eroberungen, sondern durch eine Niederlage: Als erster und einziger Märtyrer des Atomzeitalters konnte es der Menschheit als Warnung vor den Gefahren des Kriegs dienen.
Es lag nicht zuletzt an solchen Vorstellungen, dass sich Japan(73) ebenso rasch wandelte wie Nagai(17) Takashi. In den ersten Nachkriegsjahren wurde aus einer ausgeprägt militaristischen eine der friedfertigsten Gesellschaften der Welt. In den folgenden Jahrzehnten machte das Land auch tiefgreifende wirtschaftliche, politische und kulturelle Veränderungen durch und erfand sich wiederholt neu. All das hatte seinen Ursprung in der japanischen(74) Erfahrung im Zweiten Weltkrieg(66), insbesondere im Trauma der Atombombenabwürfe(15), die als prägende Augenblicke in der Entstehung des modernen Japan(75) zu betrachten sind.
Doch so beeindruckend diese Transformation auch sein mag, hat sie auch etwas Verstörendes an sich, und zwar sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Nagai(18) galt als Heiliger, aber er war keine unumstrittene Figur. Nicht wenige waren entsetzt über seine Interpretation, die Atombombe(16) sei ein Geschenk Gottes, und viele Besucher der Totenmesse reagierten Berichten zufolge empört, als er ihre toten Angehörigen nicht als Opfer einer Gräueltat, sondern als »heilige Opfer« bezeichnete. Auch an seiner Darstellung Nagasakis(8) als Symbol der geopferten Unschuld waren Zweifel angebracht: So gerne sie es auch glauben mochten, weder die Einwohner Nagasakis noch das japanische(76) Volk waren ein »fehlerfreies Lamm«. Nicht »die Sünden aller Nationen«, sondern Japans Sünden hatten das Land in den Krieg geführt. Nagai(19) stellte nie einen klaren Zusammenhang zwischen seiner persönlichen bedingungslosen Unterstützung der Kriegsregierung und den im Namen Japans begangenen Verbrechen her. An diesem Widerspruch leidet das Land seither: Die Japaner spielten nicht nur eine kollektive Märtyrerrolle, sondern trugen auch Kollektivschuld, aber zu ihrer Schuld bekennen sie sich bis heute nicht so klar wie zu ihrer Opferrolle.
Langfristig ist die wundersame Wiedergeburt des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg(67) nie vollständig gewesen. Die Japaner(77) haben zwar ihre Wirtschaft neu erfunden, aber weder den amerikanischen(58) Besatzern noch der Nachkriegsregierung ist es gelungen, die Kartelle zu zerschlagen, die Japans Kriegsindustrie kontrolliert hatten. Keiner der japanischen(78) Industriellen musste sich je vor Gericht verantworten, obwohl diese mächtigen Familien den Weg in den Krieg geebnet und mit dem Konflikt gewaltige Profite erzielt hatten – vor allem durch den Einsatz von Zwangsarbeitern. Man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass das japanische(79) Wirtschaftswunder teilweise auf einem verrotteten Fundament ruht. Noch im 21. Jahrhundert müssen sich einige der bedeutendsten japanischen(80) Konzerne, darunter Mitsubishi(1), Mitsui(1) und Nippon Steel(1), gegen Klagen wegen ihres Verhaltens im Zweiten Weltkrieg wehren.9
Auch ihr politisches System bauten die Japaner(81) nach dem Zweiten Weltkrieg(68) vollkommen um: Unter amerikanischer(59) Vormundschaft lösten sie das Kaiserreich auf, entwickelten eine neue Verfassung und gewährten den Frauen das Wahlrecht. Trotzdem blieb der Kaiser, in dessen Namen der Krieg geführt worden war, ihr höchstes Autoritätssymbol. Einige der führenden politischen Persönlichkeiten, die für den Krieg verantwortlich waren, behielten in den ersten Nachkriegsjahren ihre Posten oder kehrten an die Macht zurück, kurz nachdem die Amerikaner die Regierungsbefugnisse wieder auf die Japaner übertragen hatten. Ein Politiker(1) verdankte seine Wahl ins Parlament im Jahr 1952 sogar der Tatsache, dass er ein berüchtigter Kriegsverbrecher(6) war, der es geschafft hatte, sich der Justiz zu entziehen.10
Auch die japanische(82) Kultur hat sich seit 1945 grundlegend verändert, aber in anderer Hinsicht ist es dem Land nie wirklich gelungen, seine Vergangenheit zu bewältigen. Nach Ansicht eines japanischen(83) Psychiaters diente das manische Streben nach materiellem Wohlstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Teil dazu, die Narben des Krieges zu verdecken. Die ganze Nation, erklärt Noda Masaaki(3), habe gelernt, »anspruchsvoll klingende Entschuldigungen zu finden«, um eine aufrichtige Auseinandersetzung mit dem Krieg und der japanischen(84) Schuld zu vermeiden. Sogar die Friedensbewegung mit ihrem Narrativ der japanischen(85) Opferrolle beruht demnach auf einer Form von Verleugnung. Japan(86), so Masaaki(1), weigere sich, »sich seine emotionalen Wunden einzugestehen«: Sooft sich die Nation auch neu erfunden habe, sie habe nie eine wirkliche geistige Wiedergeburt erlebt, weil sie sich nie ihrer Verantwortung für den Krieg gestellt habe.11
WIEDERGEBORENE NATIONEN Natürlich ist nichts von dem einzigartig. Der Mythos der Wiederauferstehung ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs(69) rund um den Erdball ein ständiges Thema. Eine genauere Betrachtung der Metaphern, die von den Zeugen der Verwüstungen im Jahr 1945 verwendet wurden, zeigt uns, dass viele von ihnen sehr viel mehr Hoffnung enthalten, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Das Jüngste Gericht, Gomorrha, die Sintflut, die Verbrennung des Universums durch Vishnu – all das sind Bilder nicht nur der völligen Zerstörung, sondern auch der Wiedergeburt. Der Krieg mochte das Ende der Welt heraufbeschworen haben, aber er hatte auch das Versprechen einer neuen, besseren und gerechteren Welt gebracht. Unabhängig davon, ob diese Wiedergeburt tatsächlich stattgefunden hat oder nicht – allein die Vorstellung davon genügte, um die durch Jahre der Entbehrungen, der Gewalt und der Unterdrückung demoralisierte Menschheit zu trösten und mit neuer Hoffnung zu erfüllen.
Fast alle hatten ein Interesse daran, den Mythos einer neuen Welt zu verbreiten, die sich aus der Asche der alten erhob. Offenkundig fand diese Vorstellung bei den Siegern Anklang. In seinen Reden an die Nation betonte Präsident Truman(2) ein ums andere Mal, dass das amerikanische(60) Volk in eine »neue Ära« eintrete, dass es »an der Schwelle zu einer neuen Welt« stehe und dass mit dem Ende der »Welt im Krieg« eine »Welt des Friedens« geboren werde. Am 16. August 1945, dem Tag nach der japanischen(87) Kapitulation, verkündete er: »Dies ist das Ende der grandiosen Pläne der Diktatoren, welche die Völker der Welt versklaven(8), ihre Zivilisation zerstören und eine neue Ära der Dunkelheit und Erniedrigung einleiten wollten.«12 Man könnte die bisher in diesem Buch behandelten Mythen nicht besser zusammenfassen: der Sieg des Guten über das Böse, das Märtyrertum der Welt und schließlich die Wiederauferstehung dank der alliierten Helden.
In der Sowjetunion(17) dauerte es länger, bis das Kriegsende als Beginn von etwas vollkommen Neuem anerkannt wurde. In der sowjetischen(18) Ideologie markierte seit jeher das Jahr 1917 die große Zäsur, und obwohl der Zweite Weltkrieg(70) weiterhin beträchtlichen Einfluss auf alle Aspekte des Lebens der sowjetischen(19) Gesellschaft hatte, dauerte es einige Jahrzehnte, bevor er die Symbolkraft der Oktoberrevolution als Gründungsmythos der Sowjetunion in den Hintergrund drängte. Allerdings begann die sowjetische(20) Kultur Ende der sechziger Jahre, Hunderte Filme, Bücher und Kunstwerke zu produzieren, in denen der Krieg thematisiert wurde. Im ganzen Land wurden Gedenkstätten und Museen eingerichtet, und die Feier des Siegs über Hitlerdeutschland wurde zu einem wichtigen nationalen Ereignis. Das zentrale Narrativ des Krieges war eines von gewaltigen Verlusten, die schließlich zum Triumph führten: Das Volk der Sowjetunion(21) war abgeschlachtet worden, aber durch sein Opfer war die Nation nicht nur gerettet, sondern in einem glorreichen Triumph wiedergeboren worden.13
Schließlich eignete sich das sowjetische(22) Regime dieselben Mythen über den Zweiten Weltkrieg(71) an, welche die kommunistischen(8) Parteien in Osteuropa(4) von Anfang an erzählten: Dieser Krieg hatte »die Geburt einer neuen Tschechoslowakei(11)« ermöglicht, er hatte Jugoslawien(2) »eine großartige Vision eines neuen Lebens« gebracht, und er hatte »die Ketten des [ost-]deutschen(40) Volkes gesprengt«.14 1985 fasste der albanische Verteidigungsminister Prokop Murra(1) in seiner Rede am Gedenktag des Siegs über den Faschismus die übliche Interpretation der osteuropäischen(5) Kommunisten zusammen: Der Zweite Weltkrieg sei »eines der größten Ereignisse in der Weltgeschichte« gewesen. Er »versetzte dem kapitalistischen System einen Schlag, von dem es sich nicht erholen kann, er löste die nationalen Befreiungskämpfe aus, leitete den Niedergang des Kolonialismus ein und verschob das Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus und der Revolution«.15 Obwohl er Tod und Zerstörung gebracht hatte, gab der Zweite Weltkrieg den Kommunisten, die er an die Macht gebracht hatte, nie Anlass zur Trauer; vielmehr feierten sie ihn als Ereignis, das eine schöne neue Welt begründet hatte.16
Eine ähnliche Deutung übernahmen viele afrikanische(7) und asiatische(11) Regime, denn in den Augen der Nationalisten eröffnete der Krieg die Chance zur Neugestaltung ihrer von der Kolonialherrschaft befreiten Staaten. Ende des Jahres 1946 beschrieb der zukünftige indische(2) Premierminister Jawaharlal Nehru(1) in einer Debatte über die Unabhängigkeit den Zweiten Weltkrieg(72) und die darauf folgenden Wirren als unverzichtbar für die Wiedergeburt Indiens:
Wir haben gerade den Weltkrieg hinter uns und hören unbestimmte und einigermaßen wirre Ankündigungen neuer Kriege. In einem solchen Moment entsteht dieses neue Indien(3) – wiedergeboren, vital, furchtlos. Vielleicht ist dies der geeignete Moment für diese Neugeburt aus dem Aufruhr in der Welt(2).17
Der zukünftige indonesische(1) Präsident Sukarno(1) hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass der Zweite Weltkrieg(73) seine Nation hervorbringen würde. »Vergesst nicht, dass wir in einer Zeit des Krieges leben«, erklärte er vor einem Regierungsausschuss, der die Unabhängigkeit im Juni 1945 vorbereitete:
In dieser Zeit des Krieges werden wir den Staat Indonesien(2) errichten – inmitten des Kriegsdonners. Ich danke sogar Gott dafür, dass wir einen indonesischen Staat nicht unter einem wolkenlosen Himmel errichten werden, sondern im Unwetter des Krieges und begleitet vom Dröhnen der Kriegstrommeln. Indonesien Merdeka [das »freie Indonesien«] wird ein gehärtetes Indonesien sein, ein im Feuer des Krieges gehärtetes Indonesien.18
Eine ähnliche Stimmung herrschte in weiten Teilen Südostasiens(3), Nordafrikas(3) und des Nahen Ostens(2), wo der Krieg eine unaufhaltsame Welle von Unabhängigkeitsbewegungen auslöste. Der Krieg hatte »alles verändert und verändert weiterhin alles«.19 Aufgrund des Krieges setzte sich der moralische Imperativ der Selbstbestimmung »überall auf dem Planeten« durch.20
Die größten Anreize, 1945 zum Jahr ihrer Wiedergeburt zu erklären, hatten vermutlich die Opfer und die Täter des Krieges. Beide Gruppen hatten gute Gründe, die Vergangenheit abzuhaken und von vorne anzufangen. Nach dem Krieg betrieben Länder wie Frankreich(16), Belgien(3) und die Niederlande(4) beträchtlichen politischen Aufwand, um zu zeigen, dass sie nicht nur wiedergeboren waren, sondern dass der Krieg sie auch stärker gemacht und ihre Gesellschaft geeint hatte. Das gemeinschaftliche Streben nach einer Rückkehr zu Stabilität und Stärke war derart ausgeprägt, dass wir diese Jahre heute als Zeit der Freude, der Einheit und des Wiederaufbaus in diesen Ländern in Erinnerung haben, während in Wahrheit noch Jahre nach dem Krieg Unruhe und Gewalt herrschten.21
In Deutschland(41) wurde das Jahr 1945 zur »Stunde null« erklärt.22 Dieses Konzept drückte nicht nur das Empfinden aus, das Land sei in ein vorchristliches dunkles Zeitalter zurückgebombt worden, sondern beinhaltete auch die Hoffnung auf einen Neubeginn: Ähnlich wie die Japaner(88) hofften die Deutschen inständig, ihre jüngere Vergangenheit liege für immer unter den Trümmern begraben. Es ist leicht, sie dafür zu kritisieren; aber in einer Welt, in der die meisten Nationen einen Neuanfang verkündeten, wäre es sehr ungewöhnlich gewesen, wenn sich Deutschland(42) und Japan(89) anders verhalten hätten. Sie mochten andere Beweggründe gehabt haben als die übrigen Länder, aber die Stunde null war eine universelle Vorstellung.
EINE GLOBALE WIEDERGEBURT Noch interessanter als die Tatsache, dass viele Länder nach dem Krieg einen Mythos der nationalen Wiedergeburt erfanden, dürfte die Frage sein, wie es dazu kam, dass dieser Mythos international, ja sogar global übernommen wurde. Nicht Japan(90), Frankreich(17) oder Indien(4) allein wurden wiedergeboren, sondern die ganze Welt: Das Jahr 1945 war eine Stunde null der Menschheit und ist es in unserer kollektiven Vorstellung geblieben. Eine Welt der Gewalt, der Unterdrückung und des Bösen war zerstört worden, und an ihrer Stelle entstand eine neue Welt, die auf den Werten der Atlantikcharta und der Vereinten Nationen beruhte.
Doch diese globale Vision kollidierte von Anfang an mit den Mythen der einzelnen Länder. Alle aus dem Krieg hervorgegangenen nationalen Mythen stützten sich in unterschiedlichem Maß auf das Gefühl, zu den Opfern zu zählen. Frankreich(18), Großbritannien(29), die Vereinigten Staaten(61) und alle anderen Alliierten(14) waren von einem Ungeheuer angegriffen worden, hatten dieses jedoch besiegt; die Kommunisten(9) hatten die Fesseln des Kapitalismus(1) gesprengt; die Kolonien hatten sich von den Sklavenhaltern(9) befreit, die sie jahrhundertelang unterdrückt hatten und so weiter. Aber der internationale Mythos der Wiedergeburt unterschied sich deutlich von diesen Geschichten. Er beruhte auf der Vorstellung von einer Zukunft, in der derartige Konflikte unmöglich sein würden: In der neuen Welt würden wir alle von der Friedensliebe beseelt sein. In dieser Welt würden wir brüderlich und in Wohlstand zusammenleben, die Gesetze befolgen und extreme politische und wirtschaftliche Kräfte durch geeignete Regeln beherrschen. Der Nationalismus und die von ihm geweckten irrationalen Leidenschaften würden Schritt für Schritt beseitigt werden.
Ihren vielleicht klarsten Ausdruck fand diese neue Utopie in den Gründungsmythen der Europäischen Union(3), die in dem Bemühen, die Mauern zwischen den Nationen niederzureißen, weiter ging als jede andere internationale Einrichtung. Die politischen Führer der EU preisen regelmäßig die »Geburt der Europäischen Union aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs(74)«; tatsächlich findet man kaum wichtige europäische(42) Dokumente oder Erklärungen führender Vertreter der EU, in denen nicht darauf Bezug genommen wird, dass das neue Europa(43) aus dem Krieg hervorgegangen ist.23 Die EU sollte von Anfang an nicht nur ein »neues Europa(44)«, sondern ein neuartiges Europa(45) sein, in dem Katastrophen wie jene des Zweiten Weltkriegs unmöglich sein würden.24 Konrad Adenauer(1), der erste deutsche(43) Bundeskanzler nach dem Krieg und einer der Gründerväter der Europäischen Union, bezeichnete die Nachkriegszeit als »Beginn einer neuen historischen Epoche«:
Das Zeitalter der Nationalstaaten neigt sich seinem Ende zu. Jedermann muss spüren, dass eine Veränderung stattgefunden hat, dass eine Ära beendet ist und dass ein neues Zeitalter beginnt, in dem die Menschen über die Grenzen ihrer eigenen Länder hinausblicken und brüderlich mit anderen Nationen zusammenarbeiten werden, um die wahren Ziele der Menschheit zu erreichen.25
Was als deutsch(44)-französische(19) Wirtschaftspartnerschaft begann, wurde rasch auf den Großteil Westeuropas(4) und ab 1989 auch auf Osteuropa(6) ausgeweitet. Viele frühere Ostblockländer betrachten die Jahre unter kommunistischer(10) Herrschaft de facto als Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs(75): Mit dem Eintritt in die Europäische Union(7) ließen sie symbolisch die Unterdrückung durch die kommunistischen Regime hinter sich und traten in eine neue Welt von Freiheit und Demokratie(1) ein. Noch heute ist dieser Gründungsmythos die zentrale Begründung für die Ausweitung der EU und die Bemühungen um eine immer engere Verschmelzung ihrer Mitgliedstaaten.26
Dieselben Ideen kommen auf globaler Ebene in den Gründungsmythen der Vereinten Nationen zum Ausdruck. Die UN-Charta beginnt mit der ausdrücklichen Feststellung, dass die Organisation im Jahr 1945 ins Leben gerufen wurde, um zu verhindern, dass ein weiterer Weltkrieg »unsagbares Leid über die Menschheit« bringt. Wie im Fall der Europäischen Union(9) wird in fast allen wichtigen Reden und grundlegenden Dokumenten der Vereinten Nationen(4) auf die Tatsache hingewiesen, dass die Organisation »aus der Asche des Zweiten Weltkriegs(76) geboren« wurde und dass ihr Zweck von Anfang an darin bestand, eine neue Ära des »Friedens und Respekts vor den Menschenrechten(3)« zu begründen und »die Welt vor einem weiteren Kataklysmus zu bewahren«.27 Der Sitzungssaal des UN-Sicherheitsrats wird bis heute von einem riesigen Wandgemälde beherrscht, das einen Phönix zeigt, der sich aus den Kriegstrümmern erhebt.
DIE KOSTEN VON MYTHEN Keiner der bisher beschriebenen Mythen und Legenden kam aus dem Nichts. Sie enthalten allesamt viel Wahrheit: Die gewaltige Zerstörung in weiten Teilen Europas(46) und Asiens(12) ließ tatsächlich an das Ende der Welt denken; im Krieg wurden offenkundig zahlreiche Menschen zu Helden, Ungeheuern und Märtyrern; und die weltweite Wiedergeburt der Hoffnung nach 1945 war zweifellos ein Wunder. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Hinter diesen Tatsachen verstecken sich zahlreiche Zweifel und Sorgen, unter denen Menschen überall litten, während der Krieg tobte, und sie dienen den Ländern heute als Ausrede dafür, sich nicht eingehend mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Wir können nur Halt in diesen scheinbar klaren und unanfechtbaren Mythen finden, indem wir den Blick vor der chaotischen und moralisch mehrdeutigen Realität der tatsächlichen Geschehnisse in diesen furchtbaren Jahren verschließen.
Auch existieren diese Mythen nicht getrennt voneinander. Dass sie sich so lange haben halten können, obwohl sie für sich genommen leicht zu entkräften sind, liegt nicht zuletzt daran, dass sie einander gegenseitig bestätigen und verstärken. Die Bilder von der totalen Zerstörung liefern den perfekten Hintergrund für unsere volkstümlichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg(77) als titanischen Kampf um die Seele der Menschheit. Unsere Helden werden noch heldenhafter durch das Bild des absoluten Bösen, das sie bekämpfen mussten, und unsere Monster werden noch monströser durch unseren Glauben an die vollkommene Unschuld der Märtyrer, denen sie furchtbares Leid zufügten. Zusammengehalten wird diese mythologische Vorstellungswelt – das große Gemälde von totaler Zerstörung, selbstlosem Heroismus und unendlichem Leid – durch den Mythos der neuen Welt, die aus der Asche der alten erwuchs. Er ist die größte Auszeichnung, die wir unseren Helden und Märtyrern verleihen: Er adelt ihre Opfer und erlaubt uns zu glauben, dass all das Leiden nicht umsonst war. In seiner Gesamtheit stellt dieses Geflecht von Mythen ein Glaubenssystem dar, das weltweit übernommen wurde – gewiss mit zahlreichen örtlichen Variationen, aber dennoch von globaler Natur.
Wir müssen uns klarmachen, dass sich ein Glaubenssystem wie dieses nicht ohne Grund durchsetzt. Im Krieg war der Glaube an absolute moralische Werte lebensnotwendig, denn die Krise, mit der sich Menschen in aller Welt konfrontiert sahen, machte entschlossenes Handeln erforderlich. Die Mythen, die sich die Menschheit angesichts dieser Krise aneignete, gaben nicht nur dem Einzelnen den Mut und die Kraft, die er brauchte, um die Herausforderungen bewältigen zu können, sondern sie weckten auch jenes Gefühl der Einheit, das notwendig war, um den Krieg gemeinsam durchzustehen. Zugleich erfüllten diese moralischen Unbedingtheiten jedoch auch emotionale Bedürfnisse. Kaum etwas ist so beglückend wie die Gewissheit, das Recht auf der eigenen Seite zu haben und einen guten Krieg gegen etwas Böses zu führen, das zerstört werden muss. Im Zweiten Weltkrieg(78) waren diese Mythen also durchaus sinnvoll, aber sie bargen auch eine Gefahr, denn sie ließen keinen Raum für subtile Nuancen. Sie ließen keinen Raum für Zweifel.
Heute gibt es keine praktischen Gründe mehr dafür, an diesen Mythen festzuhalten. Wir brauchen sie nicht mehr für unser Überleben. Wir müssen nicht länger das Unerklärliche erklären. Die Welt hat sich weiterentwickelt, aber wir sind stehengeblieben: Wir verharren in derselben Denkweise, die wir uns 1945 aneigneten. Und wir machen keine Anstalten, etwas daran zu ändern. Wir akzeptieren unsere Mythen so, wie sie sind – aus dem einzigen Grund, dass sie uns vertraut sind und immer noch dieselben emotionalen Bedürfnisse erfüllen wie vor vielen Jahren: Wir brauchen die alten Gewissheiten von Gut und Böse, wir brauchen Helden und Schurken, Monster und Märtyrer. Diese Gewissheiten stehen in krassem Gegensatz zur alltäglichen Ungewissheit unseres heutigen Lebens. Wir blicken mit schamloser Nostalgie auf die Kriegsjahre zurück – unabhängig davon, ob dieses Gefühl angebracht ist oder nicht –, und wir empfinden diese Nostalgie als tröstlich, obwohl die Gefahr besteht, dass genau die Brände wieder entfacht werden, die wir 1945 so mühsam zu löschen versuchten.
All diese Mythen, auch jene, die auf den ersten Blick relativ harmlos scheinen, tragen zur anhaltenden Instabilität unseres internationalen Systems bei. Es ist leicht, den Glauben der Völker an eigene Helden und Märtyrer sowie an fremde Ungeheuer zu kritisieren, weil er die Menschheit spaltet, aber die Vorstellung, im Jahr 1945 habe sich eine neue Welt wie ein Phönix aus der Asche erhoben, ist ebenfalls verdächtig. Es fällt uns schwer, uns das einzugestehen, denn diese unangenehme Wahrheit widerspricht Vorstellungen, die uns sehr am Herzen liegen. Wir wollen an den Mythos der Wiedergeburt als positive Kraft glauben, die unsere Wunden heilt und uns Vergebung ermöglicht. Wir wollen glauben, dass wir einen Schlussstrich unter all die Gewalt ziehen und uns ohne Groll oder Bedauern von unserer Vergangenheit lösen können. Aber wenn wir diese Wertvorstellungen der Gesellschaft aufzwingen, ohne die Geschehnisse der Vergangenheit sorgfältig zu untersuchen, ist dieser Glaube nicht nur unaufrichtig, sondern auch ungesund. So nobel der Wunsch sein mag, die Vergangenheit ruhen zu lassen: Das Beharren auf der Vorstellung, wir hätten geläutert durch unsere Wiedergeburt nach dem Krieg von vorne angefangen, macht es uns unmöglich, unsere Verluste zu beklagen oder unsere Schuld einzugestehen.
Die Menschen, die im Jahr 1945 aus dem Schatten des Krieges auftauchten, beschäftigten sich noch nicht mit diesem Problem. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Mythen, aber der Mythos der Wiedergeburt war noch nicht vollkommen ausgereift. Als keine Bomben mehr vom Himmel fielen und Menschen in aller Welt auf die Straßen gingen, um das Ende des Krieges zu feiern, war das Bild des Phönix, der sich aus der Asche erhebt, noch kein Mythos, sondern eine sehr reale Hoffnung, die in den Herzen von Millionen keimte. Als die Menschen an den Wiederaufbau zu denken begannen, war es nur natürlich, dass neue visionäre Figuren auftauchten, die Vorstellungen von einem neuen Leben, neuen Beziehungen und neuen Ausdrucksformen entwickelten. Ein Großteil des restlichen Buches ist den Träumen dieser Menschen von der Freiheit gewidmet. In den folgenden Kapiteln werde ich beschreiben, wie sie diese Träume in einer vom Krieg geprägten Welt teilweise verwirklichten und teilweise in ihren Bemühungen scheiterten.
Aber diese Träume beinhalteten auch Albträume. Die neue Welt wirkte von Anfang an beängstigend zerbrechlich, denn was einmal zerstört worden war, konnte leicht erneut zerstört werden. Die Furcht vor der Wiederholung der Vernichtung quälte die Menschen in aller Welt. Besonders klar drückte der neue indische(5) Premierminister Jawaharlal Nehru(3) diese Angst im Jahr 1949 aus:
Wenn wir auf die letzten drei Jahrzehnte zurückblicken, die zwei Kriege und die Zeit dazwischen umspannen, so hören wir die gleichen Schreie, die aufgrund der veränderten Situation natürlich geringfügig anders klangen, aber die gleichen Schreie waren; wir sehen die gleichen Ansätze, die gleichen Befürchtungen, das gleiche Misstrauen, die gleiche Aufrüstung auf allen Seiten und den nahenden Krieg. Wir hören auf allen Seiten die gleichen Reden darüber, dass dies der letzte Krieg sein wird, dass es ein Kampf für die Demokratie(2) ist und so weiter. Dann endet der Krieg, aber die gleichen Konflikte setzen sich fort, und erneut wird ein Krieg vorbereitet. Dann kommt ein weiterer Krieg … Kein Mensch und kein Land will Krieg. Da der Krieg immer schrecklicher wird, wollen ihn alle immer weniger. Aber ein vergangenes Übel oder Karma oder Schicksal lenkt die Menschen weiter in eine bestimmte Richtung; sie steuern auf den Abgrund zu und spielen dieselben Argumente durch und absolvieren wie Automaten dieselben Gesten(4).28
Die Botschaft, die das Kriegsende aussandte, war also nicht nur eine der Freiheit, sondern auch eine der Furcht. Mit dem Anbruch des Atomzeitalters konnte es sich die Welt nicht länger leisten, den endlosen Zyklus von Zerstörung und Wiederaufbau fortzusetzen, der die Geschichte der zuvor verschwundenen Welten gekennzeichnet hatte. Nach Hiroshima(13) und Nagasaki(9) wusste die Welt, dass der nächste globale Krieg nicht zu einer symbolischen, sondern zu einer tatsächlichen Apokalypse führen konnte.