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Wenn irgendeine Gruppe im Jahr 1945 das Gefühl hatte, mit den Träumen und Albträumen der Welt beladen zu sein, dann waren es die Naturwissenschaftler, die während der Kriegsjahre an der Atombombe(17) gearbeitet hatten.
Einer dieser Wissenschaftler(8) war Eugene Rabinowitch(1)(2), ein in Russland(23)(3) geborener Chemiker. Rabinowitch(3) hatte bereits einige der turbulentesten Ereignisse des 20. Jahrhunderts erlebt. Als junger Mann hatte er infolge der Russischen Revolution aus Sankt Petersburg fliehen müssen. Später war er vor der antisemitischen Verfolgung durch die Nazis(27) auch aus Deutschland(45) geflohen. Als Europa(47) im Jahr 1938 am Rande eines Kriegs stand, schloss er sich dem allgemeinen Exodus europäischer Wissenschaftler nach Amerika(62) an. Aber seine Tätigkeit als ein leitender Chemiker des Manhattan-Projekts in Chicago(1), auf dem Höhepunkt des Krieges, sollte sein Leben am tiefgreifendsten verändern. Rabinowitch(4) war nur einer von Hunderten von Wissenschaftlern, die eingestellt wurden, um Kernwaffen(18) zu erforschen und zu bauen – aber die Erfahrung und die Folgen der Entdeckungen, die er und seine Kollegen machten, sollten ihn für den Rest seines Lebens verfolgen.1
Rabinowitch(5) wurde im Jahr 1943 von James Franck(1), einem Nobelpreisträger, mit dem er vor dem Krieg in Deutschland(46) zusammengearbeitet hatte, gebeten, sich dem Atombombenprojekt(19) anzuschließen. Wenig später äußerte er zunächst seine Zweifel an einer nuklearen(3) Zukunft. Mit Franck(2) oder anderen leitenden Wissenschaftlern(9) wie Leó Szilárd(1) unternahm er ausgedehnte Spaziergänge, auf denen er mit gedämpfter Stimme über seine Befürchtungen sprach. Obgleich er einsah, dass es dringend notwendig sei, die Bombe zu bauen, war er der entschiedenen Auffassung, dass das amerikanische(63) Establishment die langfristigen Folgen dessen, was sie taten, nicht in angemessener Weise reflektierte. Die Geheimnisse der Atomkraft(4) könnten nicht lange ein amerikanisches Monopol bleiben. Sobald andere Länder diese »Geheimnisse« ebenfalls entdeckten, wäre ein neues Wettrüsten unvermeidlich. Sollte dieses jemals außer Kontrolle geraten, wären die Folgen unabsehbar.
Im Frühjahr 1945 wurden Rabinowitchs(6) Sorgen immer dringlicher: Es war ein offenes Geheimnis unter den Wissenschaftlern(10), dass eine Atombombe(20) schon bald testbereit sein würde. In jenem Juni wurde in aller Eile ein Ausschuss eingesetzt, der die gesellschaftlichen und politischen Folgen des Besitzes von Atomwaffen untersuchen sollte, insbesondere wenn diese im Krieg gegen Japan(91) eingesetzt würden. Rabinowitch(7) sollte zu einem der Hauptautoren des Ausschussberichts werden.
»Es war unerträglich heiß damals in Chicago(2)«, erinnerte er sich Jahre später. »Durch die Straßen der Stadt gehend, überfiel mich die Vision stürzender Wolkenkratzer unter flammendem Himmel. Es musste etwas getan werden, um die Menschheit zu warnen. Ich fand, sei es vor Hitze, sei es vor innerer Erregung, keinen Schlaf und begann mitten in der Nacht an unserem Rapport zu schreiben. James Franck(3) hatte mir einen Entwurf von anderthalb Seiten für den Bericht gegeben, aber meine Ausarbeitung wurde viel ausführlicher.«2
Der ›Franck(4) Report‹, wie er später genannt wurde, trug zwei sehr gut begründete Argumente vor.3 Erstens: Die technische Erschließung der Atomkraft(5) bedeute für die Menschheit nicht nur eine große Chance, sondern auch eine größere Bedrohung, als es sie je zuvor gegeben hatte. Wenn die Staaten der Welt ein zukünftiges Wettrüsten vermeiden wollten, müssten die USA ihr vorübergehendes Monopol auf die Atombombe(21) aufgeben und daran mitwirken, eine internationale Organisation zu errichten, welche die Macht haben sollte, die Atomenergie(6) zum Wohle der gesamten Menschheit zu nutzen.
Zweitens plädierte der Bericht dafür, die Bombe nicht bei einem »unangekündigten Angriff« auf Japan(92) einzusetzen, weil dies die Aussicht, dass jemals ein internationales Abkommen über die Nutzung der Atomkraft(7) zustande käme, erheblich schmälern würde. Weitaus besser wäre es, wenn die Zerstörungskraft der Bombe der Welt offen vor Augen geführt würde – vielleicht in einer menschenleeren Wüste oder auf einer kargen Insel. Auf diese Weise könnte Japan(93) durch Einschüchterung zur Kapitulation bewogen werden, ohne dass zahllose Menschenleben geopfert werden müssten. Wenn die japanischen(94) Streitkräfte den Krieg ungeachtet einer solchen Demonstration fortsetzen würden, könnte man die Bombe immer noch gegen sie einsetzen.
Der Bericht der Wissenschaftler(11) wurde mit einer gewissen Dringlichkeit nach Washington(3) gesandt, aber die US-Regierung ignorierte ihn schlichtweg. »Wir erwarteten eine Reaktion, und wir warteten und warteten«, erinnerte sich Rabinowitch(9) später. »Wir hatten das Gefühl, wir hätten den Bericht auch gleich in den Lake Michigan werfen können.«4 Keine zwei Monate später wurden Atombomben(22) auf Hiroshima(14) und Nagasaki(10) abgeworfen, wodurch der Krieg nach einer jähen, katastrophalen Zuspitzung endete. Während der Rest der Welt feierte, verfielen viele Mitglieder des wissenschaftlichen Establishments in tiefe Schwermut.
In den folgenden Monaten beschloss Rabinowitch(10), dafür zu sorgen, dass ihre Befürchtungen öffentlich bekannt würden. Er und ein zweiter Wissenschaftler(12), Hyman Goldsmith(1), gründeten eine neue Zeitschrift, das Bulletin of the Atomic Scientists(1), deren Ziel es war, »der Öffentlichkeit die grauenhafte Wirklichkeit von Kernwaffen(23) und deren weitreichende Folgen für die Zukunft der Menschheit unmissverständlich vor Augen zu führen«.5 In den kommenden Jahren sollte Rabinowitchs(11) Zeitschrift als inoffizielles Sprachrohr der »Bewegung der Wissenschaftler« zu einer Stimme des Gewissens für das Atomzeitalter(9) werden. Sie veröffentlichte Artikel führender Physiker der Welt – etwa von Albert Einstein(1), J. Robert Oppenheimer(2), Niels Bohr(1) und Edward Teller(1) –, aber auch etliche Philosophen und Soziologen (Bertrand Russell(1) und Raymond Aron(1)), Politiker (Henry J. Morgenthau(1) und Andrei Gromyko(1)), Wirtschaftswissenschaftler (Abba P. Lerner(1)) und selbst Theologen (Reinhold Niebuhr(1)) schrieben regelmäßig für sie. Jeder Aspekt der Atombombe(24) und ihrer Folgen wurde diskutiert und analysiert, in der Hoffnung, die »Menschen durch Angst zur Vernunft zu bringen«.6
Rabinowitch(12) selbst räumte ein, dass die Hoffnungen, die seine Zeitschrift verkörpere, jederzeit zunichtegemacht werden könnten. Gespräche zwischen den Supermächten(66)(24) über eine Internationalisierung der Atomenergie(10) wurden schließlich 1948 ergebnislos abgebrochen. Im Jahr darauf zündete die Sowjetunion(25) eine eigene Atombombe(25), und, wie es Rabinowitch(13) befürchtet hatte, es setzte umgehend ein Wettrüsten ein, an dem sich schließlich Großbritannien(30), Frankreich(20), China(30), Indien(6), Pakistan(1), Israel(4) und – im 21. Jahrhundert – Nordkorea(1) beteiligen sollten. In den siebzig Jahren nach dem ersten Atombombentest im Jahr 1945 wurden rund 125000 Nuklearsprengköpfe gebaut und überall auf der Welt stationiert. Obwohl internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Internationale Atomenergie(11)-Organisation ihr Bestes taten, bewahrheiteten sich schließlich Eugene Rabinowitchs(14) Befürchtungen bezüglich der Weiterverbreitung von Atomwaffen.7
Und trotzdem hielt er an seiner Überzeugung fest, dass die Wissenschaft(13) die beste Hoffnung der Menschheit sei – nicht nur was die Entschlüsselung der Geheimnisse des Weltalls anlange, sondern auch weil Wissenschaftler überall die Querelen der Politiker entschlossen ignorierten und miteinander zusammenarbeiteten. »Die wissenschaftlichen Umwälzungen in unserem Zeitalter haben ein so gewaltiges Ausmaß und bergen so große Möglichkeiten in sich, dass sie die Grundlagen der menschlichen Existenz selbst verändern«, schrieb er später. »Unser Zeitalter mag einem kurzsichtigen Betrachter … als ein Zeitalter der Entfremdung erscheinen, in dem die Menschheit so gespalten ist wie nie zuvor … zukünftige Generationen dagegen werden darin eine Ära beginnender weltweiter Kooperation der Menschheit erkennen.«8
Die Offenbarung der Macht des Atoms im Jahr 1945 erzeugte ein globales Schockgefühl, das man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Als Präsident Truman(3) den Abwurf der Bombe auf Hiroshima(15) bekannt gab, traf diese Nachricht die internationalen Medien völlig unvorbereitet, und sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Die Zerstörungskraft der Bombe, die schiere Größenordnung und die Kosten des geheimen Projekts der USA zum Bau einer Atombombe(26), die Möglichkeit, den Krieg zu beenden – all diese Themen wetteiferten um die Schlagzeilen. Aber die größte Aufmerksamkeit erregte Trumans Kommentar, Wissenschaftlern(14) sei es gelungen, »sich die elementare Kraft des Universums zunutze zu machen«. Dieser eine Satz, der von Zeitungen auf der ganzen Welt abgedruckt wurde, schien sehr gut einzufangen, was alle empfanden.
Einer der Ersten, die dieses Gefühlsgemisch aus Erschütterung und Staunen, das durch die Ereignisse in diesem Sommer hervorgerufen wurde, beschrieb, war der amerikanische(68) Romancier E. B. White(1). »Zum ersten Mal in unserem Leben spüren wir die verstörenden Schwingungen einer vollständigen Neuordnung der menschlichen Existenz«, schrieb er nur zwei Wochen nach der Bombardierung Hiroshimas(16) im New Yorker(2). »Normalerweise sind die Schwingungen so schwach, dass sie unbemerkt bleiben. Aber diesmal sind sie so stark, dass selbst das Ende eines Kriegs davon überschattet wird.« Andere Autoren stimmten dem zu. »In einem Moment, ohne Vorwarnung, war die Gegenwart zur unvorstellbaren Zukunft geworden«, behauptete Time zwei Tage später. Ein anderer Journalist schrieb, mit der ersten Explosion der Atombombe(27) wurde »Ihre Welt und meine, die Welt, die wir kannten, ausgelöscht. In diesem Berg aus Feuer wurde eine neue Welt geboren.«9
Auch wenn sich alle darin einig waren, dass sich etwas Grundlegendes geändert hatte, bestand kein Einvernehmen darüber, ob dies gut oder schlecht sei. In den USA kam es sehr schnell zu einer starken Polarisierung zwischen denjenigen, welche die Atomkraft(12) als eine neue Morgenröte der Menschheit begrüßten, und denjenigen, die befürchteten, sie führe in den Weltuntergang.
Ein herausragender Vertreter der ersten Gruppe war William Laurence(1) von der New York Times(1), der einzige Journalist, der Zugang zum Manhattan-Projekt erhalten hatte, als dieses noch geheim war. Im September 1945 schrieb er eine Reihe von Artikeln, in denen er den Anbruch des Atomzeitalters mit einem spirituellen Erwachen verglich. Durch die Nutzbarmachung dieser Kraft, so Laurence, habe die Menschheit »den wahren ›Stein der Weisen‹ gefunden … einen Schlüssel zu der Quelle eben jener Kraft, die das Universum in Gang hält«.10 Er beschrieb auch den ersten Atombombenversuch(28) in der Wüste von New Mexico, den er mit eigenen Augen gesehen hatte: »Man hatte das Gefühl, das Privileg zu genießen, der Geburt der Welt beizuwohnen – jenen Moment der Schöpfungsgeschichte mitzuerleben, als Gott sagte: ›Es werde Licht!‹«11
Abb. 10: Der Mensch macht sich die »elementare Kraft des Universums« zunutze: Bikini-Atoll(1), 1946.
Zahlreiche andere amerikanische(70) Journalisten verkündeten in ähnlicher Weise die Geburt eines neuen Zeitalters. Die Atomkraft(13), so meinten sie, böte die Chance, »Krieg abzuschaffen«, eine Zukunft »unerschöpflicher« Energie und »grenzenlosen Wohlstands« einzuleiten und sogar »ein irdisches Paradies« zu erschaffen.12 Im Jahr 1946 ging Gerald Wendt(1) vom Magazin Time(1) sogar so weit zu behaupten, die Atomkraft wäre eines Tages in »Kapselform« erhältlich, und der Mensch würde keinen Mangel mehr leiden: »Dann wird die Wissenschaft(15) die Menschheit nicht nur von Krankheiten, Hunger(2) und frühem Tod, sondern auch von Armut und Arbeit befreit haben.«13
Gleichzeitig jedoch konnten andere prominente Denker nicht umhin, sich eine ganz und gar düstere Zukunft auszumalen. Max Lerner(1), der für PM schrieb, war einer von vielen, die glaubten, die Atomkraft(14) könne eine »Welt [Wirklichkeit werden lassen], von der die Faschisten seit Langem träumen – eine Welt, in der eine kleine, gnadenlose Elite die Macht über Leben und Tod über die breite Masse der Menschheit ausüben könnte«.14
Für Jean-Paul Sartre(3) war die Atombombe(29) »die Verneinung des Menschen«; Einstein(2) nannte die neue Lage »die furchtbarste Gefahr, in der sich die Menschheit jemals befunden hat«, während General Carl Spaatz(1), der Befehlshaber der US-Luftstreitkräfte, der die Bombenangriffe auf Japan(95) geleitet hatte, eine Zukunft voraussah, in der ein Atomkrieg »im tragischsten Paradoxon überhaupt enden könnte: Durch den Versuch, das Böse zu vernichten, könnte eine für das Gute kämpfende Gesellschaft sich selbst zerstören«.15
Viele andere Teile der Welt äußerten ihre Hoffnungen und Befürchtungen in Bezug auf dieses neue wissenschaftliche(16) Wunder in ähnlich manichäischen Begriffen. Typisch war die Berichterstattung der britischen(31) Picture Post(1), die Ende August 1945 ein Sonderheft herausbrachte, das sich mit der Atombombe(30) und ihren Folgen befasste. »Die Nutzbarmachung der Atomenergie(15) ist vermutlich das bedeutendste Ereignis zu unseren Lebzeiten, das weite neue Horizonte von Hoffnung und Schrecken eröffnet«, hieß es im einleitenden Artikel. Die Titelseite zeigte ein eindringliches Foto eines Kindes in der Dämmerung an einem Strand, mit der Bildunterschrift »Morgengrauen oder Abenddämmerung?«16Auch die Illustrated Weekly of India(1) brachte Artikel darüber, dass sich die Menschheit »womöglich im letzten, furchtbarsten aller Kriege selbst vernichten wird, oder aber sie lebt forthin in einer Utopie, vergleichbar den Träumen von Edward Bellamy(1)«. Nur wenige Wochen nach den Bombenabwürfen auf Hiroshima(17) und Nagasaki(11) malte sie sich bereits »unbegrenzte Mengen an Energie [aus] … zu so niedrigen Kosten, dass sie praktisch kostenlos wäre« – aber gleichzeitig veröffentlichte sie Artikel darüber, dass diese Energie die gesamte »wirtschaftliche und industrielle Zukunft der Welt« gefährden könnte.17
In den folgenden Jahren zeigte sich diese polarisierte Sichtweise der Atomkraft(16) in beinahe allen Ländern. In der Sowjetunion(26) gab es praktisch eine Nachrichtensperre über die Bombe, bis die Sowjets(27) selbst eine entwickelt hatten: Zu diesem Zeitpunkt wurde sie als ein Triumph des Sozialismus bejubelt, der eine neue Ära grenzenloser Kraftquellen für alle ankündigte. In Deutschland(47) waren die gegensätzlichen Sichtweisen des Atomzeitalters jeweils in einer der beiden Hälften des Landes tonangebend: Das zerstörerische Potential der Atomkraft wurde im Westen betont, während sozialistische Ideale einer utopischen atomaren Zukunft häufiger im Osten in den Vordergrund gerückt wurden. In Japan(96), das schließlich ungeachtet seiner schrecklichen Kriegserfahrung die Nukleartechnik übernahm, wurden »böse« militärische »guten« zivilen Nutzanwendungen gegenübergestellt. Unterdessen empfanden sich kleinere Länder oftmals als hilflose Zuschauer in einer Welt atomarer Supermächte(72)(28). In den Niederlanden(5) zum Beispiel wurde das Atomzeitalter(17) oftmals als eine Naturkraft dargestellt, welche die Menschheit an einen Scheideweg geführt habe: Ganz egal, welchen Weg sie nehme, ob den Weg ins Verderben oder den Weg ins Paradies, die Niederländer(6) würden einfach mitgerissen und hätten keine große Wahl.18
Abb. 11: Sowjetische(29) Propaganda, wie diese Karikatur aus den frühen sechziger Jahren, propagierte den Traum von »Frieden, Fortschritt und Kommunismus(11)« durch Kernkraft(18). Amerika(73) dagegen wird als frustrierter Kriegstreiber dargestellt, der sich machtlos an seine Waffen aus dem Kalten Krieg(4) klammert.
Dieses polarisierte Bild der Wissenschaft(17) und der Wissenschaftler verdankte sich zum Teil der Art und Weise, wie beide von jeher in der volkstümlichen Vorstellungswelt gesehen wurden, die ihre Fausts und Frankensteins dämonisierte, während sie ihre Galileos und Newtons feierte.19 Aber es war auch ein Ergebnis der vorherrschenden Mythen, die am Ende des Kriegs erstmals Gestalt annahmen – eines Armageddon, auf das eine Wiedergeburt folge, von Helden und Monstern, von Sünde und Erlösung. Die erstaunlichen Fortschritte der Kernphysik in nur wenigen Jahren und die dramatische und gewaltsame Weise, in der diese der Welt enthüllt wurde, passten sehr gut zu all diesen Vorstellungen.
Aber wie stand es mit den anderen Naturwissenschaften(18)? Wie sah man Chemie, Biologie, Mathematik, Technologie und so weiter nach dem Krieg? Die Antwort lautet, dass sie sich der gleichen Mythen bedienten wie die Kernphysik, aber mit einer anderen und hoffnungsvolleren Akzentuierung. Selbstverständlich brachten auch diese Naturwissenschaften(19) während des Kriegs nicht wenige Monster hervor – Menschen wie den NS-Eugeniker Josef Mengele(1) und die vielen japanischen(97) Ärzte und Forscher, die in China(31) Menschenversuche durchführten. Die von ihnen geschaffenen Vernichtungsmaschinen waren zwar nicht so dramatisch wie die Atombombe(31), konnten aber nicht weniger verheerend sein: So schätzt man beispielsweise, dass die Japaner durch ihre Innovationen im Bereich der bakteriologischen Kriegsführung in China über eine halbe Million Menschen töteten.20 Aber insgesamt handelten die Geschichten aus der Wissenschaft(20), die sich nach 1945 festsetzten, nicht von Monstern, sondern von Helden und nicht von Zerstörung, sondern von Wiedergeburt und Erlösung. Die schiere Menge wissenschaftlicher Entdeckungen während des Krieges und ihre scheinbar spektakulären Anwendungen in den Jahren danach unterstrichen die Botschaft, dass 1945 die Geburtsstunde einer ganz neuen Welt war.
Der Zweite Weltkrieg(79) hatte das Gesicht der Wissenschaft(21) verändert. Das neue Gefühl der Dringlichkeit, das er erzeugt hatte, die plötzlichen staatlichen Eingriffe und der massive Zufluss öffentlicher Gelder hatten die Geschwindigkeit verändert, mit der alle möglichen Arten wissenschaftlicher Entdeckungen gemacht wurden. Die Fortschritte in der Luftfahrttechnik zum Beispiel waren fast so unglaublich wie die in der Atomwissenschaft. Im Jahr 1939 flogen Piloten aller Staaten üblicherweise noch Doppeldecker; im Jahr 1945 flogen sie Düsenflugzeuge. Hubschrauber, die vor dem Krieg bloße Kuriositäten gewesen waren, wurden bei Kriegsende massengefertigt. Ebenso war die Raketentechnik zu Beginn des Kriegs noch verhältnismäßig primitiv; im Jahr 1945 aber war die Menschheit bereits in der Lage, Raketen bis an den Rand des Weltraums zu schicken. Der Krieg selbst schuf diese Wunderwerke. Oftmals war die grundlegende Technologie bereits vor dem Krieg entwickelt worden – das erste Düsenflugzeug zum Beispiel wurde am 27. August 1939 in Deutschland(48) geflogen, nur ein paar Tage vor Ausbruch des Kriegs in Europa(48) –, aber der Krieg schuf die Anreize, um solche Erfindungen bis zu dem Punkt weiterzuentwickeln und auszufeilen, wo sie unser Verständnis der Welt von Grund auf verändern konnten.21
In der Medizin und im Bereich Krankheitsprävention gab es ähnliche Quantensprünge. Die Behandlung von Wunden und körperlichen Verletzungen wurde revolutioniert – vor allem deshalb, weil Feldärzte so viele praktische Erfahrungen damit gesammelt hatten. Andere Fortschritte wiederum waren ausschließlich auf die Entschlossenheit im Zuge der Kriegsanstrengungen zurückzuführen. Die Entwicklung von Penicillin während des Kriegs ist ein perfektes Beispiel. Das von Alexander Fleming(1) im Jahr 1929 entdeckte und von Howard Florey(1) und Ernst Chain(1) Ende der dreißiger Jahre in seiner pharmazeutischen Wirkung näher untersuchte Penicillin war zu Beginn des Kriegs noch immer wenig mehr als eine medizinische Kuriosität. Im Jahr 1941 fand keinerlei kommerzielle Produktion von Penicillin in den USA statt; bei Kriegsende produzierten amerikanische Unternehmen aufgrund massiver Anstrengungen zur Erforschung, Reinigung und Entwicklung des Wirkstoffs über 646 Milliarden Einheiten Penicillin pro Monat. Dies war das Ergebnis einer beispiellosen Zusammenarbeit zwischen britischen(32) und amerikanischen Wissenschaftlern(22), zwischen Regierungen und kommerziellen Interessen und sogar zwischen konkurrierenden Unternehmen. Nur zehn Tage nach der Bombardierung von Pearl Harbor(5) zum Beispiel erklärten sich amerikanische Pharmaunternehmen bei einem Treffen bereit, ihre Forschungsergebnisse mit der US-Regierung zu teilen. Daraufhin hat die US-Regierung diese Forschungen massiv subventioniert und sogar den Bau von Produktionsstätten für Penicillin finanziert. Die anschließende Entwicklung anderer bahnbrechender Antibiotika wie Streptomycin war eine Folge dieser Bemühungen.22
Die Geschichte des Insektizids DDT folgt dem gleichen Muster. Wie Penicillin wurde es bereits vor dem Krieg entdeckt – aber erst als Zehntausende alliierte Soldaten auf dem pazifischen Kriegsschauplatz an Malaria erkrankten, hielt es die US-Regierung für notwendig, Gelder für den breitangelegten Einsatz von DDT bereitzustellen. Im Jahr 1945 wurde das Insektizid überall dort, wo alliierte Soldaten auf diesem Kriegsschauplatz stationiert wurden, von tieffliegenden Flugzeugen aus versprüht. Nach der Befreiung von Manila(3) und Singapur(3) wurden routinemäßig ganze Städte damit eingenebelt, um die Zivilbevölkerung vor übertragbaren Krankheiten zu schützen: Dankbare Journalisten der Straits Times(1) begrüßten es als einen »Segen für die Menschheit«. Es wurde auch nach der Befreiung von Gefängnissen und Konzentrationslagern eingesetzt, um die Läuse abzutöten, die Typhus übertrugen. Obwohl in den späten sechziger und den siebziger Jahren seine verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt bekannt wurden, war es vor allem DDT zu verdanken, dass die Seuchen ausblieben, vor denen sich alle im Gefolge des Kriegs fürchteten.23
Auch die Rechnertechnik machte dank des Kriegs große Fortschritte. Im Jahr 1941 baute Konrad Zuse(1) den ersten programmierbaren Digitalrechner, die Z3, die von der Deutschen(49) Forschungsanstalt für Luftfahrt benutzt wurde, um komplexe Berechnungen im Zusammenhang mit der Konstruktion von Flugzeugen auszuführen. Unterdessen wurden in Großbritannien(33) noch leistungsfähigere Rechner gebaut, um verschlüsselte deutsche(50) Funksprüche zu entschlüsseln. Der wichtigste davon war Thomas Flowers(1)’ Colossus – eine riesige Maschine, deren Entwicklung vom Forschungszentrum der britischen Post finanziert wurde und die in der Lage war, Tausende von Zeichen verschlüsselter Nachrichten pro Sekunde zu verarbeiten. Der Mathematiker Alan Turing(1), der von einigen als Vater der modernen Datenverarbeitung angesehen wird, wirkte maßgeblich an der Konzipierung dieser und anderer Dechiffrierungsmaschinen mit. Zur gleichen Zeit arbeiteten die amerikanischen(78) Wissenschaftler(23) John Mauchly(1) und John Presper Eckert(1) an der Universität von Pennsylvania(1) an einem noch leistungsfähigeren Rechner. Auch der Electronic Numerical Integrator and Computer (ENIAC) wurde eigens für den Krieg gebaut: Sein ursprünglicher Zweck bestand darin, komplizierte ballistische Berechnungen für Artilleriegeschosse auszuführen.24 Diese Maschinen wären wahrscheinlich zu gegebener Zeit ohnehin entwickelt worden, aber die Dringlichkeit der Kriegsanstrengungen und die Bereitschaft von Regierungen, die nötigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, haben ihre Entwicklung erheblich beschleunigt.
Die gewaltige Menge und das hohe Tempo wissenschaftlicher(24) Experimente während des Kriegs erbrachten eine Fülle von Ergebnissen, von denen einige zu dezidiert nichtmilitärischen Nutzanwendungen führten. So besuchte zum Beispiel ein amerikanischer(79) Ingenieur namens Percy Spencer(1) im Jahr 1945 ein Labor, in dem Vielschlitzmagnetrone getestet wurden; dabei bemerkte er, dass der Erdnussriegel in seiner Tasche zu schmelzen begonnen hatte. Vielschlitzmagnetrone waren das zentrale Bauteil in alliierten Luft-Boden-Radargeräten, die mit Mikrowellen arbeiteten. Spencer, dessen Neugier geweckt war, schickte einen Jungen los, um ein Päckchen Maiskörner zu kaufen: Als er es in die Nähe des Magnetrons legte, begannen die Körner aufzuplatzen. Am nächsten Tag endete ein weiteres Experiment damit, dass ein Ei explodierte und ein Labortechniker die volle Ladung ins Gesicht bekam. So ging aus einem Forschungsprojekt in Kriegszeiten eine der bedeutendsten Innovationen in der Haushaltstechnik hervor: Heute werden Vielschlitzmagnetrone nicht mehr in Radargeräten verwendet, aber jedes Jahr werden Millionen Stück davon produziert und in Mikrowellenherde eingebaut.25
Eine weitere Innovation im Haushaltsbereich verdankt sich der Erforschung von Kunststoffen während des Kriegs. Der amerikanische(80) Chemiker Harry Coover(1) suchte nach einer neuen Art von durchsichtigem Kunststoff für Waffenpräzisionsvisiere, als er auf eine Gruppe von Substanzen stieß, die sogenannten Cyanacrylate. Sie eigneten sich nicht für Visiere, für die sie aufgrund ihrer hohen Klebrigkeit völlig unbrauchbar waren. Aber nach dem Krieg fanden sie als Ausgangsstoffe für Superkleber sinnvolle Verwendung.26
Nicht nur studierte Naturwissenschaftler und Ingenieure machten während des Kriegs solche Entdeckungen: Manchmal ging die Anregung zu Innovationen von Personen aus, von denen man dies am allerwenigsten erwartet hätte. Von Hedy Lamarr(1) zum Beispiel, der bekannten Hollywood-Diva – »der schönsten Frau der Welt«, wie sie von den MGM-Studios genannt wurde. Aber im Jahr 1942 bewies sie, dass sie weit mehr war als nur eine schöne Frau, als sie und ein befreundeter Komponist eine neue Idee für die Torpedosteuerung der US Navy präsentierten. Die Funkfernsteuerung der Torpedos war störanfällig – wenn jedoch diese Funksignale automatisch fortwährend ihre Frequenzen wechseln würden, dann wären sie störungssicher. Die amerikanischen(82) Behörden griffen ihre Idee allerdings nicht auf; man sagte ihr, sie könne den Kriegsanstrengungen besser dadurch dienen, dass sie die Truppen unterhalte – später diente ihre Erfindung jedoch in der Tat als Basis des »Frequenzspreizungsverfahrens«, das in den allermeisten heutigen GPS- und Bluetooth-Techniken, drahtlosen Systemen und Mobiltelefonen zur Anwendung kommt.27
Die Liste neuer Ideen und neuer Technologien, die aus dem Krieg hervorgingen, ist scheinbar endlos. Die Erforschung von Radiowellen ermöglichte nicht nur den Bau der Kette von Radarstationen, die Großbritannien(34) im Jahr 1940 vor einem deutschen(51) Angriff schützten, sie führte auch zu enormen Fortschritten bei der Flugzeugnavigation, bei Fernlenkwaffen und der Tarnkappentechnik. Die Kernforschung schuf neue Isotope, die in der Medizin zur Radiotherapie eingesetzt werden konnten. Eine der wichtigsten Entwicklungen bestand vielleicht darin, dass der Krieg der Physik zu hohem Ansehen verhalf und Physikern die Tür zu anderen naturwissenschaftlichen Fachgebieten wie der Biologie öffnete. Ein solches Paar waren Maurice Wilkins(1), ein Physiker aus Neuseeland(1), der während des Krieges an Radarforschungsprojekten mitgearbeitet hatte, und Francis Crick(1), der sich mit der Entwicklung von Magnetminen beschäftigt hatte. Nach dem Krieg sattelten sie auf biologische Forschung um, was acht Jahre später Früchte trug, als sie zu der kleinen Gruppe von Forschern gehörten, welche die Struktur der DNA aufklärten.
Dass so viele dieser naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Innovationen in Großbritannien(35) und den Vereinigten Staaten(83) gemacht wurden, ist ebenfalls teilweise auf den Krieg zurückzuführen. Insbesondere die USA waren vermutlich die einzige Nation in der entwickelten Welt, die sowohl vergleichsweise unberührt vom Krieg blieb als auch die Ressourcen besaß, um diese Art von Großforschungsprojekten, die notwendig waren, um schnelle Ergebnisse zu erzielen, zu finanzieren. Da die USA praktisch zur Gänze außer Reichweite einer Invasionsstreitmacht beziehungsweise deutscher(52) oder japanischer(98) Bomber lagen, waren sie ein viel besserer Ort für geheimhaltungsbedürftige Forschung als Europa(49) oder Asien(13), und so strömten Wissenschaftler(25) und Techniker aus aller Herren Länder herbei, um für wissenschaftliche Institutionen in Amerika zu arbeiten. Viele dieser Personen blieben nach Kriegsende in den USA. Während andere Länder ihre Finanzmittel für den Wiederaufbau der beschädigten Infrastruktur ausgaben, konnten es sich die USA leisten, weiterhin massiv in wissenschaftliche Forschung und technologische Entwicklung zu investieren. Die Tatsache, dass Amerika bis heute noch immer mehr Innovationen finanziert und produziert als praktisch jedes andere Land, ist teilweise darauf zurückzuführen, dass es sich in den Kriegs- und Nachkriegsjahren einen Vorsprung gegenüber dem Rest der Welt verschaffte.
Aber nicht nur in Großbritannien(36) und Amerika beflügelten naturwissenschaftliche Entwicklungen während des Kriegs Hoffnungen auf eine neue Welt, in der alle Menschen im Überfluss leben würden. In der Sowjetunion(30) führte die Forschung während des Krieges zu neuen Antibiotika und Innovationen in der Raketen- und Kerntechnik, die manchmal den Westen in den Schatten stellten. Hohe sowjetische(31) Amtsträger, unter ihnen Ministerpräsident Nikolai Bulganin(1), waren so begeistert, dass sie schon von einer »neuen wissenschaftlich(26)-technischen und industriellen Revolution [sprachen], die in ihrer Bedeutung die industriellen Revolutionen im Zusammenhang mit dem Aufkommen von Dampfkraft und Elektrizität weit übertrafen«.28 Ab der Mitte der fünfziger Jahre begann die sowjetische(32) Massenpresse, phantastische Visionen des Fortschritts in Industrie, Medizin und Landwirtschaft zu präsentieren – nicht als utopische Träume, sondern als gegenwärtige Ereignisse.29
In der Nachkriegswelt schienen die Möglichkeiten der Wissenschaft(27) grenzenlos zu sein. Lange bevor die UDSSR den ersten Mann ins Weltall schickte, sagten sowjetische(34) Wissenschaftler voraus, das Sonnensystem und die Regionen jenseits davon würden schon bald mit »Photonenraketen« erkundet, deren Geschwindigkeit, wie sie glaubten, »der Lichtgeschwindigkeit nahekommen« würde.30 In Deutschland(53) wurde in Zeitungsartikeln kurz nach dem Krieg behauptet, Strahlung werde schon bald in der Lage sein, Lebensmittel zu konservieren, Geisteskrankheiten zu heilen und sogar den Alterungsprozess rückgängig zu machen. Schon 1946 brachte die Neue Berliner Illustrierte(1) einen Artikel, der die baldige Entwicklung von Raumfahrzeugen vorhersagte, die einen Menschen in nur 3 Stunden und 26 Minuten zum Mond bringen könnten.31 Unterdessen ergingen sich indische(7) Zeitungen in Träumen von Schnellzügen, die in nur einer Stunde von Bombay nach Kalkutta(1) fahren würden, von der Umwandlung von Wüsten in Oasen und des Nordpols in einen Urlaubsort und sogar von der Erschaffung neuer Lebensformen.32
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass diese Visionen nicht von Wissenschaftlern(28), sondern von Journalisten und Politikern sowie von gewöhnlichen Menschen beschworen wurden, von denen sich viele einfach von dem allgemeinen Optimismus bei Kriegsende anstecken ließen. Die meisten Wissenschaftler taten ihr Möglichstes, um diesen Optimismus zu zügeln, insbesondere was offensichtlich abwegige Vorhersagen über die Zukunft anlangte. Albert Einstein(3) zum Beispiel warnte die Welt im November 1945, die Kernenergie werde noch »für lange Zeit« keinen praktischen Nutzen abwerfen, während der russisch-amerikanische(35) Physiker George Gamow(1) der Idee atombetriebener Fahr- und Flugzeuge einen Dämpfer versetzte, und zwar mit der Begründung, diese seien vollkommen unpraktisch: Die Kernreaktoren(19), die für die Energieversorgung dieser Transportmittel benötigt würden, müssten riesig sein und für den Schutz der Insassen vor der Strahlung von tonnenschweren Bleimänteln umhüllt werden. »Erwarten Sie nicht, dass eine Kugel aus Uran 235 Ihr Auto ein Jahr lang antreiben wird«, warnte Otto Frisch(1), der in Los Alamos(2) an der Entwicklung der ersten Atombomben(32) beteiligt gewesen war. »Eine Fahrt von wenigen Minuten in diesem Auto würde schon genügen, um sie zu töten.«33
Wenn ihre Botschaft nicht immer durchdrang, hing dies zum Teil damit zusammen, dass die Wissenschaftler(29) selbst Teil des Mythos geworden waren. Die amerikanische(88) Presse nannte sie oft »Titanen« und »Götter«, die Schöpfer der neuen Welt, in welche die Menschheit hineingeboren würde. Insbesondere die Atomwissenschaftler wurden oftmals mit Prometheus verglichen, dem Titanen, der laut der griechischen(4) Sage der Menschheit das Feuer brachte. (Diese übermenschliche Qualität wird ihnen auch heute noch oft zugeschrieben: So wurde Robert Oppenheimer(3) in einer mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Biographie aus dem Jahr 2005 der »amerikanische Prometheus« genannt.34) Diese Männer wurden nicht nur in Amerika, sondern in der ganzen Welt verehrt, sowohl wegen der Wunder, die sie vollbracht hatten, als auch deshalb, weil die Welt nach dem Krieg einen unstillbaren Hunger(3) nach Helden hatte. Nach all den Jahren voller Schrecken und Ungewissheit wollten Menschen überall unbedingt an die Geburt von etwas Neuem und Wunderbarem glauben. Als die Menschen, die diese neue Welt erschaffen würden, wurden Wissenschaftler verehrt, ob ihnen dies gefiel oder nicht.
In dieser Atmosphäre gründete Eugene Rabinowitch(15) sein Bulletin of the Atomic Scientists(2), eine Zeitschrift, die durchweg die Gefahr eines nuklearen(20) Untergangs stärker betonte als den möglichen Segen eines nuklearen(21) Utopia und die Wissenschaftler(30) nicht als Götter, sondern als gewöhnliche, besorgte Menschen darstellte, die Regierungen und globalen Kräften genauso schutzlos ausgeliefert seien wie alle anderen.
Wenn man heute in dieser Zeitschrift blättert, erfährt man von praktisch jedem größeren Problem, das die Wissenschaftler(31) in den vierziger und fünfziger Jahren umtrieb und das, durch sie, seinen Weg ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit fand. Die bahnbrechenden Erfindungen der Kriegsjahre wurden zu Recht gefeiert, aber es wurde auch die Frage gestellt, welcher Preis dafür entrichtet worden war. So viele Wissenschaftler wurden von ihren angestammten Arbeitsplätzen abgezogen, um sich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen, dass womöglich durch den Krieg ebenso viele Entdeckungen hinausgezögert wie beschleunigt worden waren. William Shockley(1) zum Beispiel, der vielen als Gründungsvater des Silicon Valley gilt, unterbrach für mehrere Jahre seine mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Forschungen über Halbleiter, um U-Boot-Abwehrwaffen zu entwickeln. Auf den Seiten des Bulletin(3) behauptete Robert Oppenheimer(4), der Krieg habe »eine vorübergehend verheerende Wirkung auf die Grundlagenforschung gehabt«.35
Die Zeitschrift kritisierte auch die utilitaristische Einstellung der Gesellschaft, die immer revolutionäre Technologien preise, die jetzt die Lebensbedingungen der Menschen grundlegend verbesserten, die aber weiterhin der in Elfenbeintürmen geplanten Grundlagenforschung misstraue. In einem Leitartikel behauptete Rabinowitch(16), die Welt scheine die Naturwissenschaft(32) als »einen Zaubervogel [anzusehen], dessen goldene Eier jeder haben will, dessen freier Flug in Regionen, die den meisten unzugänglich sind, ihn jedoch zu einem verdächtigen Geschöpf macht«. Er plädierte auch leidenschaftlich dafür, Wissenschaftler selbstständig an vermeintlich unwichtigen, abgehobenen Ideen arbeiten zu lassen – unabhängig davon, ob diese irgendwelche offensichtlichen unmittelbaren gesellschaftlichen Nutzanwendungen hätten –, da es andernfalls »nach einer Weile keine goldenen Eier mehr geben wird«.36 Andere Wissenschaftler stimmten dem zu. In späteren Jahren beteuerte Ernst Chain(2), er wäre nie in der Lage gewesen, in dem streng zielorientierten Arbeitsumfeld, das der Krieg hervorbrachte und das noch lange danach fortbestand, seine anfänglichen bahnbrechenden Entdeckungen an Penicillin zu machen. Wissenschaftler sehnten sich vor allem nach Freiheit.37
Die Zeitschrift kritisierte die Politisierung der Wissenschaft(33) in Amerika, wo Budgets mehr oder weniger vom Militär kontrolliert würden. Und sie kritisierte die Politisierung der Wissenschaft in der Sowjetunion(36), wo abstruse Ideen wie Trofim Lyssenkos pseudowissenschaftliche Theorie der Vererbung aus keinem anderen Grund propagiert wurden, als dass sie mit der stalinistischen(1) Theorie übereinstimmten. Ungeachtet der Gräben des Kalten Kriegs(5) machte sie sich für die Fortsetzung der Zusammenarbeit von Wissenschaftlern stark und setzte sich für die Pugwash Conferences on Science and World Affairs ein (wo übrigens der Russisch sprechende Rabinowitch(17) oft als Vermittler zwischen sowjetischen(37) und westlichen Wissenschaftlern fungieren musste).
Aber am meisten quälte sich das Bulletin(4) mit der Frage ab, wie sich die Wissenschaft(34) gegenüber der Gesellschaft insgesamt verhalten sollte. Sollten Wissenschaftler für ihre Erfindungen zur Rechenschaft gezogen werden? Sollten sie mithelfen, eine neue Gesellschaft auf der Basis wissenschaftlicher Prinzipien zu gestalten? Hatte die Menschheit jetzt einen Punkt erreicht, an dem sie die enorme Fülle wissenschaftlicher Entdeckungen ohne Gründung einer internationalen Organisation, ja einer Weltregierung, die diese beaufsichtigen sollte, nicht mehr bewältigen konnte?38
Diese Fragen waren durchdrungen von dem quälenden Verdacht, Wissenschaftler(35) hätten unabsichtlich Kräfte freigesetzt, für die die Menschheit noch nicht bereit sei und die vielleicht besser unentdeckt geblieben wären. So stammt von Robert Oppenheimer(5) der berühmte Satz, den er vielleicht aus einem Schuldgefühl darüber äußerte, dass er selbst nach dem Atombombentest(33) in Alamogordo geprahlt hatte: »In einem groben Sinne, den keine Vulgarität, kein Scherz und keine Übertreibung gänzlich tilgen kann, haben die Physiker erfahren, was Sünde ist; und dieses Wissen wird sie nicht mehr verlassen.«39 In den unmittelbaren Nachkriegsjahren bereuten viele Wissenschaftler öffentlich ihre Arbeit am Atombombenprojekt und beklagten die Tatsache, dass ihr unverhoffter Ruhm teilweise darauf zurückzuführen sei, dass sie »brillante Mitarbeiter des Todes« gewesen seien.40 Ziel dieser neuen »Bewegung der Wissenschaftler«, von der Eugene Rabinowitch(18) und seine Zeitschrift ein wichtiger Teil waren, war es, die Staatengemeinschaft dazu zu bewegen, eine neue und bessere Gesellschaft zu errichten – kein technologisches Utopia von Anti-Aging-Pillen und atombetriebenen Fahrzeugen, sondern ein konventionelleres soziales Utopia der internationalen Zusammenarbeit und des gegenseitigen Verstehens.
Sie scheiterten. Dennoch haben ihre Bemühungen die Entwicklung der Nachkriegswelt in drei Punkten positiv beeinflusst.
Erstens haben sie dem Westen im Allgemeinen und Amerika im Besonderen eine dringend benötigte Stimme des Gewissens verschafft. Die Alliierten(15) hatten sich während des Kriegs nicht immer mustergültig verhalten, auch wenn ihre Absichten ursprünglich gut gewesen sein mochten, und es war wichtig für die Gesundheit der Gesellschaft, dass dies in irgendeiner Weise offen eingestanden wurde. Aus verschiedenen Gründen schien sich die Mehrheitsgesellschaft über die fragwürdigen Taten der Alliierten nicht moralisch zu empören oder Schuldgefühle zu empfinden. Sie zogen es vor, den Krieg als reinen Triumph in Erinnerung zu behalten. Die von Eugene Rabinowitch(19) initiierte Bewegung der Wissenschaftler(36) bot immerhin denjenigen ein Ventil, die bereit waren, sich einigen der dunkleren Episoden der alliierten Kriegsanstrengungen zu stellen.41
Zweitens trugen sie mehr als irgendjemand sonst dazu bei, den guten Ruf der Wissenschaft(37) und der Wissenschaftler für den Rest des Jahrhunderts zu bewahren. Es ist nur menschlich, dass wir von unseren Helden erwarten, fehlerlos zu sein, und dass wir sie verachten, sobald wir herausfinden, dass sie es nicht sind. Indem sie freiwillig von dem Sockel stiegen, auf den die Welt sie im Jahr 1945 gestellt hatte, und ihre »Sünden« öffentlich bekannten, erlangten sie eine viel größere Bewunderung, als man ihnen entgegengebracht hätte, wenn sie sich nur in ihrem vorübergehenden Ruhm gesonnt hätten. Männer wie Rabinowitch(20) arbeiteten unermüdlich daran, deutlich zu machen, dass Wissenschaft und Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden waren und eine wechselseitige Verantwortung hatten, die viel wichtiger war als nutzlose Träume von Utopia.
Und schließlich begründeten sie ein für alle Mal die Notwendigkeit, dass Wissenschaftler(38) die moralischen Folgen ihres Handelns bedenken. Der Zweite Weltkrieg(80) war, mehr als jeder andere Krieg in der neueren Geschichte, ein moralischer Krieg, insofern er praktisch alle Menschen in einem allgemeinen Verständnis von Richtig und Falsch einte. Die Welt, die aus dem Krieg hervorging, enthielt die Saat einer neuen Sittlichkeit und einer neuen Spiritualität, die von Menschen überall auf der Welt geteilt wurde. Eugene Rabinowitch(21) und die Bewegung, zu der er gehörte, stellten sicher, dass die Wissenschaft und Wissenschaftler diesem neuen moralischen Bewusstsein, das im Wahnsinn des Kriegs zeitweilig verlorengegangen war, tief verbunden blieben.