Die naturwissenschaftlichen und technischen Innovationen während des Kriegs hätte es ohne staatliche Beteiligung nie gegeben. Das Atombombenprojekt(34) war ein perfektes Beispiel für die zielgerichtete Organisation staatlicher Macht: Die amerikanische(89) Regierung hatte sich selbst ein Ziel gesetzt, Geld und Sachverstand bereitgestellt, um das Ziel zu erreichen, und schließlich die Welt tiefgreifend verändert. Es gab viele weitere Beispiele, die fast genauso eindrucksvoll waren. In Großbritannien(37) etwa hatte die Regierung in den Kriegsjahren ein umfassendes System der Lebensmittelrationierung eingeführt: Dieses hatte dafür gesorgt, dass lebenswichtige Nahrungsmittelvorräte während des Krieges erhalten blieben und dass überdies jeder Bürger, ob reich oder arm, eine nach wissenschaftlichen(39) Kriterien zusammengestellte, ausgewogene Ernährung erhielt. Ungeachtet gravierender Versorgungsengpässe bei den meisten Nahrungsmitteln sank die Kindersterblichkeit während des Kriegs in Großbritannien(38) ebenso wie die Zahl der Todesfälle aufgrund einer Vielzahl von Erkrankungen in der allgemeinen Bevölkerung.1
Solche Erfolge, die durch den großen Sieg im Krieg selbst noch verstärkt wurden, warfen unmittelbar die Frage auf: Wenn die zentrale staatliche Planung im Krieg zum Sieg führte, könnte sie dann nicht auch in Friedenszeiten Erfolge erreichen? Wenn die alte, ultraliberale Wirtschaftspolitik der zwanziger und dreißiger Jahre zum Zusammenbruch, zu einer Depression und letztlich zum Krieg selbst geführt hatte, war es dann jetzt nicht an der Zeit, dass der Staat eingriff und dafür sorgte, dass sich vergleichbare Katastrophen nie mehr wieder ereigneten? Und warum es bei wirtschaftlichen Reformen belassen? Könnte der Staat – sollte der Staat – seine Macht nicht nutzen, um in der Gesellschaft insgesamt für mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Wohlstand für alle zu sorgen?
In der idealistischen Atmosphäre von 1945 konnte man über die lautstarke Forderung nach stärkeren staatlichen Eingriffen in die Gesellschaft nicht hinwegsehen. Im kriegsgeschundenen Europa(50) drängten nicht nur Kommunisten(12), sondern auch viele Konservative und Christdemokraten auf staatlich verordnete Reformen. In anderen Teilen der Welt kamen die gleichen Forderungen von amerikanischen(90) Anhängern des New Deal, von asiatischen(14) und afrikanischen(8) Nationalisten und von lateinamerikanischen(5) Rechtspopulisten. In gleicher Weise setzten Experten aller politischen Richtungen auf die Macht des Staates, angefangen von Naturwissenschaftlern wie dem Briten(39) J. D. Bernal(1) und dem Amerikaner Edward Teller(2) bis zu Wirtschaftswissenschaftlern wie John Maynard Keynes(1) und Jean Monnet(1). Sie alle glaubten leidenschaftlich an die Macht des Staates, die Lebensbedingungen der Menschen zum Besseren wenden zu können.
Aber wie der Krieg gezeigt hatte, bargen staatliche Lösungen ebenso viele Gefahren wie Vorteile. War nicht der Glaube an einen starken, zentralistischen Staat einer der Grundsteine von Nazismus(29), Stalinismus(2) und japanischem(99) Militarismus gewesen? Diejenigen, die staatliche Lösungen für die Probleme der Welt verfochten, waren mitunter ziemlich fanatisch – wie gelegentlich auch ihre Gegner. Nach dem Krieg lebten die alten Kontroversen zwischen denjenigen, die an die Unantastbarkeit des Individuums glaubten, und denjenigen, die an die transformative Macht des Kollektivs glaubten, wieder auf. Aber die Verfechter des Zentralismus setzten sich jetzt öfter durch als je zuvor – manchmal mit recht verblüffenden Ergebnissen.
Man sollte sich immer vor utopischen Visionen in Acht nehmen – nicht weil das »Paradies auf Erden« unmöglich ist, sondern weil das unbeirrbare Streben nach Verwirklichung dieses Paradieses für die Gesellschaft eine Art Tod bedeutet. »Das Ganze ist das Unwahre«, wie der deutsche(54) Philosoph Theodor W. Adorno(1) im Jahr 1944 schrieb. Anders gesagt: Jedes System, das von sich selbst glaubt, es sei die einzige Antwort auf all unsere Probleme, kann dies nur tun, indem es die unzähligen anderen Antworten und Möglichkeiten – einschließlich aller anderen Utopien – verwirft.2
Ein Mann, der sein ganzes Leben lang gegen verschiedene totalitäre Dogmen kämpfte, war der italienische(6) Architekt Giancarlo De Carlo(1), und die Geschichte seines Lebens verdeutlicht, wie schwierig es war, während der turbulenten Jahre in der Mitte des 20. Jahrhunderts hochfliegenden utopischen Plänen zu widerstehen. De Carlo(2) wurde 1919 in Genua geboren und wuchs in einer Welt auf, die von ideologischen Konflikten geprägt war. Er war noch ein kleines Kind, als Mussolini(1) die politische Macht in Italien(7) an sich riss, und obgleich er mehrere Jahre bei seinen Großeltern in Tunesien(1) lebte, konnte er sich der Polarisierung innerhalb der italienischen Gemeinde und in ganz Europa(51) nicht entziehen. Als er volljährig wurde, war er bestens vertraut mit der faschistischen Gedankenwelt: dem Pathos nationaler Größe, der Fetischisierung von Gewalt und dem fanatischen Glauben, die Starken seien dazu berufen, über die Schwachen zu herrschen. De Carlo fand diese Ideen abstoßend und umgab sich mit Gleichgesinnten. Einige dieser Bekannten hatten ihre eigenen ideologischen Standpunkte – Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus(13) –, und auch sie waren mitunter recht fanatisch; aber De Carlo hielt sie für nicht annähernd so gefährlich wie diejenigen, welche die Zügel der Macht in Händen hielten.3
Bei Kriegsausbruch im Jahr 1939 studierte De Carlo(3) Baustatik, aber nach und nach begann ihn ein verwandtes Fachgebiet mehr zu interessieren: Architektur. Einige seiner Freunde waren Architekten, und die Ideen, die sie mit ihm diskutierten, begeisterten ihn in zunehmendem Maße. Sie machten ihn mit den Schriften Le Corbusiers(1) bekannt, die ihn förmlich berauschten – der Geist der Hoffnung, den sie verströmten, der Glaube an ein besseres Leben für alle und insbesondere die unerschütterliche Überzeugung, man könne die Welt einfach dadurch ändern, dass man die Lebensräume der Menschen umgestaltete. »Ich suchte nach einer Aktivität, die mir erlauben würde, … durch schöpferische Tätigkeit am gesellschaftlichen Wandel mitzuwirken«, äußerte er in späteren Jahren. »Mir wurde klar, dass die Architektur diese Chance eröffnen könnte.«4 (4)Er beschloss, einen Lehrgang in Architektur zu belegen, sobald er seinen Abschluss in Baustatik gemacht hätte.
Leider hatten die faschistischen Behörden anderes im Sinn: Nachdem sie ihm erlaubt hatten, ein Studium abzuschließen, ehe er zum Kriegsdienst einberufen würde, wollten sie ihm keinesfalls erlauben, ein zweites Studium zu beginnen. Am Tag nachdem er sich für den Architekturlehrgang eingeschrieben hatte, wurde er einberufen und begann mit der Ausbildung für einen Posten bei der Marine. Und so wurde er(5) im Jahr 1943 nach Griechenland(5) entsandt, wo er für eine Sache kämpfte, an die er nicht glaubte, und dadurch eine Regierung unterstützte, der er sich aktiv entgegenstellte.
De Carlo(6) diente vier Monate lang auf Geleitschiffen; er schlief auf Deck und erwartete jederzeit Angriffe von britischen(40) Flugzeugen. Anders als die erbitterten Kämpfe, die auf dem griechischen(6) Festland tobten, war der Krieg auf See relativ einfach, ebenso wie seine Aufgaben auf dem Schiff. Dennoch hatte es für ihn etwas zutiefst Verstörendes, die Naziflagge über der Akropolis wehen zu sehen. Kaum, dass er wieder nach Mailand(1) zurückversetzt wurde, gelangte er(7) zu der Überzeugung, es sei an der Zeit, den Faschismus entschiedener zu bekämpfen. Während er noch die Uniform trug, schloss er sich einer Widerstandsgruppe namens Movimento di Unità Proletaria an und begann, in örtlichen Fabriken antifaschistische Flugblätter zu verteilen. Wäre er dabei erwischt worden, wäre er unverzüglich vor ein Kriegsgericht gestellt und wahrscheinlich hingerichtet worden. Aber er war naiv und sich der Risiken nicht bewusst – ihm(8) kam es fast wie ein Spiel vor.
Als nach dem Sturz Mussolinis(2) die Deutschen(55) die Herrschaftsgewalt in Italien(8) übernahmen, wurde aus dem Spiel plötzlich Ernst. De Carlo(9) und einige andere flohen in die Hügel über dem Comer See. Sie wollten mit anderen ehemaligen Soldaten eine mächtige Widerstandsgruppe schmieden, aber »anders als im Nachhinein behauptet wurde, waren wir nur einige wenige«.5 Der Partisanenkrieg hatte begonnen.
Während die Anwerbung neuer Kämpfer nur langsam vorankam, hatte De Carlo(10) oft Zeit für sich selbst. Er hatte zwei Bücher mitgenommen – Alfred Roths(1) Die Neue Architektur und Le Corbusiers(2) Œuvre complète –, und er verbrachte Stunden damit, Aufrisse und Details von den Fotografien darin zu skizzieren. Manchmal versammelte er neue Rekruten in einem verlassenen Bauernhaus, und nachdem er ihnen die Lage im Guerillakrieg erklärt hatte, hielt er ihnen Vorträge über Architektur und die Möglichkeiten, die sie der Gesellschaft eröffnete. Aber als das Nationale Befreiungskomitee (CLN, Comitato di Liberazione Nazionale) davon erfuhr, befahl man ihm, damit aufzuhören. Im CLN gaben die Kommunisten(14) den Ton an, und sie wollten, dass er und seine Kameraden sich darauf konzentrierten, den Krieg gegen Deutschland(56) zu gewinnen, und auf die Solidarität mit der sowjetischen(38) Bevölkerung.
Schon bald wurde De Carlo(11) nach Mailand(2) zurückbeordert, wo er helfen sollte, eine städtische Widerstandsgruppe zu schulen und zu organisieren. Um nicht die Aufmerksamkeit von Kollaborateuren und Spionen auf sich zu ziehen, mussten er und seine zukünftige Frau, Giuliana(1), binnen weniger Monate achtmal umziehen. In der damaligen Atmosphäre allgemeiner Hoffnungslosigkeit gerieten sie unwillkürlich in den Bann der polarisierenden Natur des Kriegs, die alles zu einer Schlacht von Recht gegen Unrecht, Gut gegen Böse machte. De Carlo ertappte sich dabei, dass er genauso unnachgiebig wurde wie die Kommunisten(15), die ihm Befehle erteilten, oder die Faschisten, die er bekämpfte. »Fanatismus und Isolation können ein solches Ausmaß erreichen, dass man die größten Dummheiten begeht und sich einbildet, sie seien Taten höchster Tugendhaftigkeit«, räumte er(12) in späteren Jahren ein. »Dies veranlasst einen dazu, zu glauben, man könne die Gesellschaft am besten dadurch von Grund auf umgestalten, dass man sich seiner Feinde entledigt. Tatsächlich haben wir uns niemandes entledigt; aber wir haben Sabotage begangen.«6
DIE STADT IST TOT, LANG LEBE DIE STADT Bei Kriegsende lag die Welt, für die De Carlo(14) gekämpft hatte, in Trümmern. Bis zu einem Drittel des italienischen(9) Straßennetzes war unbenutzbar, und 13000 Brücken waren beschädigt oder zerstört. Die Städte des Landes befanden sich in einem ziemlich schockierenden Zustand: Hunderttausende von Häusern und Wohnblöcken waren bei den Kämpfen in Schutt und Asche gelegt worden, sowohl durch Artilleriebeschuss als auch durch Bombardierung aus der Luft. In kriegsgeschundenen Städten wie Mailand(3), wo De Carlo(15) das Ende des Kriegs erlebte, aber auch in Turin(1) und Bologna(1) waren Menschen gezwungen, zwischen Trümmern und in Kellern zu leben. In Neapel(1) hausten Hunderte verzweifelter Frauen und Kinder in Höhlen.7
Die Situation im übrigen Europa(52) war genauso schlecht oder noch schlimmer. In Großbritannien(41) hatten Bomben und V-Waffen im Lauf von fünf Jahren 202000 Häuser zerstört und weitere 255000 Häuser unbewohnbar gemacht. Frankreich(21) hatte noch stärker gelitten – rund 460000 Gebäude waren zerstört und weitere 1,9 Millionen beschädigt. Deutschland(57) wiederum hatte 3,6 Millionen Wohnungen oder ein Fünftel aller Behausungen verloren. In der Sowjetunion(39) waren nicht nur viele der Großstädte – Charkow(1), Kiew(1), Odessa(1) und Minsk(1) –, sondern auch 1700 kleinere Städte und 70000 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht worden.8 Am schlimmsten war die Lage vielleicht in Polen(7), das gewaltige Zerstörungen durch die vorrückenden sowjetischen(40) Truppen und die Politik der verbrannten Erde der sich zurückziehenden deutschen Wehrmacht erlitt. Nach Kriegsende wurde das Land zerlegt und dann mit Teilen des verwüsteten Deutschlands wieder zusammengesetzt. Niemand wusste, wie man die Anzahl der zerstörten Häuser und Städte abschätzen sollte, da nicht einmal klar war, welche Häuser oder Städte in die Berechnungen einbezogen werden sollten.
Solche Zerstörungen, die in Asien(15) die gleichen verheerenden Ausmaße hatten wie in Europa(53), forderten einen immensen Tribut von der Weltbevölkerung. Verschlimmert wurde alles noch durch die massive Vertreibung von Bevölkerungsgruppen während des Kriegs. 1945 gab es rund 9 Millionen wohnungslose Menschen in Japan(100), 20 Millionen in Deutschland(58) und 25 Millionen in der UDSSR. Einige, wenn auch sehr überschlägige, Schätzungen für China(32) gehen von bis zu 100 Millionen Menschen aus, die der Krieg zu Obdachlosen machte.9 All dies wurde nach 1945 noch schlimmer, als die Bevölkerungszahlen weltweit plötzlich steil anstiegen und die Landbevölkerung ihre bereits vor langer Zeit begonnene Abwanderung aus den ländlichen Regionen in die Städte wieder aufnahm. Der Mangel an städtischem Wohnraum war daher nach dem Krieg ein wahrhaft globales Problem.10
Man könnte meinen, diese riesige Landschaft von Zerstörung und Obdachlosigkeit müsse Architekten und Stadtplaner zur Verzweiflung getrieben haben, tatsächlich aber war das Gegenteil der Fall. Viele von ihnen hatten seit Jahren auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Architekten wie Sigfried Giedion(1) und Le Corbusier(3) zum Beispiel hatten seit 1933 kontinuierlich gefordert, die Städte der Welt sollten abgerissen und nach modernen, funktionalen Grundsätzen wiederaufgebaut werden. Die Regierungen hatten diese Appelle allerdings ignoriert, weil es politisch undenkbar war, Tabula rasa zu machen; aber nachdem jetzt so viele Städte in Trümmern lagen, schien eine vollständige Neugestaltung mit einem Mal zum Greifen nahe zu sein. Im Jahr 1945 schien alles möglich zu sein.11 Statt die Verwüstung ihrer Städte zu beklagen, sahen viele Architekten und Stadtplaner darin die Gelegenheit, auf die sie alle gewartet hatten. »Stadtplanung wird oft aus der Kanone geboren«, schrieb ein französischer(22) Intellektueller, während er die Ruinen von Brest(1) und Lorient(1) betrachtete: Jetzt könnten diese heruntergekommenen, verdreckten Küstenstädte endlich als eindrucksvolle Hafenstädte, die des 20. Jahrhunderts würdig wären, neu aufgebaut werden.12 Die Deutschen(59) Paul Schmitthenner(1) und Konstanty Gutschow(1) dachten das Gleiche über Hamburg(4) und Lübeck(1) und gingen sogar so weit, deren Bombardierung einen »Segen« zu nennen – wenn auch einen, der stark verschleiert war.13 In Warschau(4), der mit Abstand am stärksten zerstörten Stadt in Europa(54), traten Architekten wie Stanisław Jankowski(1) begeistert in das Biuro Odbudowy Stolicy (Amt für den Wiederaufbau der Hauptstadt) ein, in dem Wissen, dass sie nur an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt »eine Chance hätten, ihre großartigen Träume umzusetzen!«14 Das Land, in dem vielleicht der größte Optimismus herrschte, war Großbritannien(42). »Der Blitz war ein unverhoffter Glücksfall für einen Planer«, erklärte ein britischer Ingenieur im Jahr 1944. »Er hat nicht nur in einem gewissen Umfang sozusagen dringend notwendige Abrissarbeiten für uns erledigt, sondern – was noch wichtiger ist – er ließ auch Menschen quer durch alle Gesellschaftsschichten erkennen, dass der Wiederaufbau notwendig war.«15 Andere britische Planer schrieben begeistert über die Chance, Birmingham(1) »von Grund auf neuzugestalten«, Durham(1) zu einer »City Beautiful« und York(1) zu einer »Stadt unserer Träume« zu machen.16 Laut seinem Planer Thomas Sharp(1) war Exeter(1) ein »Phönix«, bereit, »erneuert aus seiner eigenen Asche aufzuerstehen«.17 Plymouth(1) könnte jetzt als eine Stadt neu geplant werden, die »ihrer ruhmreichen Vergangenheit und ihres heutigen Heroismus würdig ist«.18
Diese Einstellung war in Großbritannien(43) so weit verbreitet, und jeder war derart entschlossen, für die Zukunft »kühn zu planen«, dass einige Architekten in anderen Teilen der Welt sie geradezu darum beneideten. »Wenn das dem Blitz zu verdanken ist«, schrieb die amerikanische(91) Immobilienexpertin Catherine Bauer(1) 1944, »… dann erklärt dies das heimliche, schuldbewusste Bedauern darüber, dass uns die Erfahrung vorenthalten, welches viele amerikanische Liberale tief in sich verspüren.«19 Bei Kriegsende war man in den USA der festen Überzeugung, die europäischen(55) Städte hätten endlich die Möglichkeit, sich ihrer Slums zu entledigen und sich zu modernisieren, während die amerikanischen Städte ins Hintertreffen gerieten. In dem Bestreben, von diesem Modernisierungseifer selbst ein wenig zu profitieren, stellten Architekten wie Walter Gropius(1) und Martin Wagner(1), die vor dem Krieg nach Amerika geflohen waren, direkte Vergleiche zwischen den Bomben, die auf europäische(56) Städte herabregneten, und der »Verschandelung« an, unter der ihre amerikanischen Pendants litten.20 Amerikanische Industrieverbände wie die National Association of Real Estate Boards (Nationaler Verband der Immobilienmakler) schlugen in die gleiche Kerbe: »Jedes zerfallende Gebäude hat genau die gleiche zerstörerische Wirkung wie eine 4000 Pfund schwere Luftmine, die von einem viermotorigen Bomber abgeworfen wird«, las man in einer Broschüre bei Kriegsende.21
So entstand am Ende des Zweiten Weltkriegs(81) praktisch überall eine neue Atmosphäre, selbst in jenen Regionen der Welt, in denen es nicht zu massiven Gebäudeschäden gekommen war. Die alte Welt mit ihren zerbröckelnden Gebäuden und dysfunktionalen Städten musste hinweggefegt werden.
In den 25 Jahren nach 1945 wurden die Städte der Welt so radikal umgebaut wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Aber bevor sich diese neue Welt aus der Asche der alten erhob, wurde ausführlich darüber diskutiert, wie sie aussehen sollte.
Fast alle waren sich in dem einen Punkt einig, dass sie nicht dem freien Markt überlassen werden sollte. Private Vermieter hätten keinen Anreiz, geräumige, gesunde Umgebungen für ihre Mieter zu schaffen: Ganz im Gegenteil, um ihre Einnahmen zu maximieren, seien sie bestrebt, so viele Menschen wie möglich in ihre Häuser zu pferchen und jeden verfügbaren Zentimeter Grünfläche zu bebauen. Nach Ansicht von Architekten wie Le Corbusier(4), einem der einflussreichsten Stadtplaner der Epoche, begingen die Regierungen, die dem Treiben solcher Vermieter tatenlos zusahen, de facto Verrat an den Menschen, die sie gewählt hatten. »Ein Metzger, der verfaultes Fleisch verkaufte, würde man bestrafen«, schrieb er 1943, »aber das Gesetzbuch erlaubt, der armen Bevölkerung verfaulte Wohnungen zuzumuten. Der Bereicherung einiger Egoisten zuliebe lässt man es sich gefallen, dass erschreckende Sterblichkeit und Krankheiten aller Art der Gesellschaft eine erdrückende Last aufbürden.«22
Da zuständige Behörden bereits kommunale Pläne für Dinge wie Infrastruktur, Kanalisation und Verkehrswege erstellen mussten, die private Grundeigentümer weder willens noch fähig waren, von sich aus bereitzustellen, behaupteten viele Architekten, es sei sinnvoll, wenn sich der Staat auch um andere Aspekte der Stadtentwicklung kümmere. In Europa(57) forderten die Congrès internationaux d’architecture moderne (CIAM) seit Langem die »wissenschaftliche(40) Planung« nicht nur von Städten, sondern von ganzen Regionen, mit einem sorgfältig austarierten Gleichgewicht zwischen Wohnstätten, Arbeitsplätzen und Freizeiteinrichtungen sowie einem leistungsfähigen Verkehrsnetz, das diese miteinander verbinden sollte.23 Auf der anderen Seite des Atlantiks hatte sich die Regional Planning Association of America (RPAA) ebenfalls für eine stärkere Beteiligung des Staates ausgesprochen. Einer ihrer führenden Köpfe, der Architekturkritiker Lewis Mumford(1), forderte »regionale Planung im großen Stil« und erwähnte sogar die Schaffung einer »Weltordnung«. Insbesondere die sachgerechte Planung von Städten sei »die vielleicht dringlichste Aufgabe unserer Zivilisation: Die Fragen von Krieg und Frieden, sozialer Ordnung oder Desorganisation, Kultur oder Barbarei beruhen zu einem Gutteil auf unserem Erfolg bei der Bewältigung dieses Problems«.24
Keiner dieser Gedanken war im Jahr 1945 neu: Es waren Argumente, die Architekten seit Jahren vorbrachten, jedenfalls schon lange vor dem Krieg. Der einzige echte Unterschied bestand darin, dass Regierungen jetzt begannen, ihnen Beachtung zu schenken. Der Krieg hatte weltweit eine neue Atmosphäre geschaffen: Menschen forderten überall gesellschaftliche Veränderungen, und dazu gehörte auch die Neugestaltung ihrer physischen Umwelt. Und sie erwarteten dies in zunehmendem Maße auch von ihren Regierungen.
Grob gesagt, gab es drei Denkschulen, was die optimale Planung der Städte der Zukunft anlangte, und alle drei basierten auf Ideen der Vorkriegszeit. Die erste war beeinflusst von den utopischen Plänen Ebenezer Howards(1), eines britischen(44) Idealisten, der behauptete, die mit der Überbelegung verbundenen Missstände ließen sich nur beheben, wenn man die Arbeiterklassen in neuen »Gartenstädten« ansiedele. Dies sollten Städte mit nicht mehr als 30000 Einwohnern sein, die in allen Details so geplant werden sollten, dass sie die Vorzüge der Stadt mit der Schönheit und frischen Luft des Landes verbanden. Howard stellte sich vor, dass Menschen in kleinen Landhäusern auf gemeindeeigenen Grundstücken leben sollten, die zum Wohle aller kollektiv verwaltet würden. Ihm schwebten Hunderte solche Städte vor, die eine Gesellschaft »glücklicher Menschen« bilden sollten, welche befreit wären von den engen, ungesunden Lebensbedingungen des Elendsquartiers und die in einem Zustand der »Eintracht und Zusammenarbeit« miteinander und mit der Natur leben sollten. »Stadt und Land müssen vermählt werden, und aus dieser freudigen Vereinigung wird neue Hoffnung, ein neues Leben, eine neue Zivilisation entspringen.« Howards Vision stand am Anfang einer weltweiten Bewegung und sollte nach 1945 einen maßgeblichen Einfluss auf die Stadtplanung ausüben.25
Wenn die Lösung für überfüllte Städte darin bestand, die Bevölkerung auf kleinere Einheiten aufzuteilen, gingen einigen Architekten Howards(2) Ideen nicht weit genug. Diese zweite Denkschule wollte die Idee der Bevölkerungsauflockerung an ihr logisches Ende führen und Städte gänzlich abschaffen. Dem amerikanischen(93) Architekten Frank Lloyd Wright(1) zum Beispiel schwebte eine Welt vor, in der Stadtzentren verschwinden würden und in der sich die gesamte Bevölkerung in einem endlosen und idyllischen »Fest des Lebens« über das ganze Land verteilen würde.26 In seinem Buch The Disappearing City aus der Vorkriegszeit beschwor er ein Zeitalter herauf, in dem jede Familie ein Morgen Land geschenkt bekommt, das sie ihr Eigen nennen und mit dem sie nach Belieben verfahren darf – sie kann es bewirtschaften und sich so selbst mit Lebensmitteln versorgen oder es in einen Garten oder auch eine Wildnis verwandeln. Während Howard(3) vom Leben in der Gemeinschaft geträumt hatte, erhob Wright(2) die individuelle Selbstbestimmung zum höchsten Wert. Er nannte sein Modell ›Broadacre City‹ (Weite Stadt) und sagte wiederholt, es werde »überall und nirgends« existieren (auf diese Weise stellte er bewusst einen Zusammenhang her zwischen seinem Konzept und dem griechischen(7) Wort für »nirgendwo«: »Utopia«). Wrights Vorhaben, Städte aufzulösen und ihre Einwohner zu zerstreuen, fand im Amerika des neuen, nuklearen(22) Zeitalters viele Unterstützer: Wenn die Bevölkerung stärker räumlich verteilt würde, so die Überlegung, hätten sowjetische(42) Raketen keine lohnenswerten Ziele mehr.27
Die letzte und, global gesehen, mit Abstand einflussreichste Denkschule wurde von den modernistischen CIAM vertreten, deren Ideen vermutlich die kühnsten von allen waren. Für die CIAM war die Ballung von Menschen in Städten kein Problem, das eigentliche Problem bestand ihres Erachtens vielmehr darin, dass die Welt eine nicht mehr zeitgemäße Vorstellung davon hatte, was eine Stadt eigentlich sein sollte. Insbesondere in Europa(58) wurden Städte noch immer nach mittelalterlichen Straßenplänen entworfen, mit schmalen Durchfahrten und überfüllten Gebäuden, die gänzlich ungeeignet für ein modernes Zeitalter waren. Nach Ansicht des Vizepräsidenten der CIAM, José Luis Sert(1), ließ sich dieser Situation nur durch »einschneidende Maßnahmen [abhelfen], deren Umsetzung die gesamte Struktur von Städten verändern wird«.28 Traditionelle Straßen sollten abgeschafft werden, damit Fußgänger nicht länger dem Lärm und den Gefahren von Kraftfahrzeugen, die mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs waren, ausgesetzt wären. Traditionelle Gebäude sollten ebenfalls ersetzt werden: Städter sollten nicht länger in kleinen, beengten Häusern und Wohnblocks leben, wo sie von Verkehr und Lärm umgeben waren, sondern in hohen Gebäuden, die zur Sonne ausgerichtet wären und in landschaftlich gestalteten Parks weit auseinander stünden. Für Serts(2) modernistischen Kollegen Sigfried Giedion(2) war dies nicht bloß eine Frage des Designs, sondern der »Vermenschlichung«.29
Selbstverständlich gab es, global gesehen, noch weitere Spielarten dieser Ideen. Im kommunistischen(16) Europa(59) wurde die Idee einer spezifisch sozialistischen Stadt diskutiert, aber die hier vorgeschlagenen Modelle wiesen oftmals eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit denen im Westen auf. So griffen zum Beispiel viele sowjetische(43) Stadtplaner die von kommunistischen Architekten oft verhöhnte Idee der Gartenstadt bereitwillig auf: Hatten nicht Marx(1) und Engels(1) selbst das »Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land« gefordert?30 Im (1)Ostdeutschland(1) der Nachkriegszeit, wo die Regierung entschied, es gebe keine ideale sozialistische Stadt, machten sich Stadtplaner die »sechzehn Grundsätze« des Städtebaus zu eigen – die weitgehend den Grundsätzen der CIAM entsprachen.31 Die stalinistische(3) Fixierung auf prachtvolle Bogengänge und Triumphstraßen erweckte den Eindruck, dass die Stadt immer kurz davor stand, etwas einzulösen – das sozialistische Utopia, das wie das modernistische Utopia zum Greifen nahe schien.32
Gemeinsam war all diesen architektonischen Bewegungen der beinahe religiöse(6) Glaube an die zentrale Planung – und jede Gruppe sah sich selbst als die erwählte, die die Menschheit ins Gelobte Land führen würde. Die Architektur sei »die grundlegende, maßgebliche Kunst«, behaupteten sie; sie sei der »Schlüssel zu allem« und solle daher »eine Richtschnur sein, an der sich jedes andere Tätigkeitsfeld orientieren solle«.33 Selbst Frank Lloyd Wright(3), der die Idee eines starken Staates verabscheute, zeichnete eine Welt, die nach gewissen allgemeinen Regeln geordnet war.34 In Osteuropa(7) bauten kommunistische(17) Stadtplaner unterdessen ihre Städte gezielt nach dem Vorbild russischer(44) Stadtarchitektur wieder auf – die gleichen Gebäude, riesige zentrale Plätze und triumphale Prachtstraßen. Dies war der Gipfel an Absurdität zentraler Planung, als ließe sich die Loyalität zum sowjetischen(45) Traum einfach sicherstellen, indem man Städte so wiederaufbaute, dass sie wie ein zweites Moskau(1) aussahen.
Im Osten wie im Westen war es in all diesen Fällen nicht nur die gebaute Umwelt, die diese Architekten und Stadtplaner ändern wollten, sondern die Gesellschaft insgesamt. Sie scheuten sich auch nicht, dies offen zu äußern. Der polnische(8) modernistische Architekt Szymon Syrkus(1) behauptete, die Architektur sei die »maßgebliche gesellschaftliche Gestaltungskraft«, und ihr wichtigstes Merkmal bestehe darin, dass sie »das gesellschaftliche Ordnungsgefüge« verändere.35 Modernistische Architekten wie er wollten nichts weniger, als die Gesellschaft von Grund auf verändern, indem sie Menschen einen rationalen, gemeinschaftsbezogenen und egalitären Lebensstil aufzwangen. In ähnlicher Weise wollte auch die Gartenstadtbewegung die Gesellschaft dadurch transformieren, dass sie ideale Gemeinschaften schuf, die allein aufgrund der Struktur der Umgebung, in der sie lebten, dazu gezwungen waren, miteinander zu kooperieren. Durch die Umsetzung ihrer visionären Pläne glaubten sie, nicht nur die Gesellschaft vor dem Untergang bewahren zu können, sondern auch eine neue Renaissance hervorzubringen. »Würde, Tatkraft, Gesundheit, Gelassenheit, Lebensfreude«, schrieb Le Corbusier(5), »sie alle können Teil unseres Lebens werden«, sofern wir uns an den Plan halten.36
UTOPIA TRIFFT AUF DIE WIRKLICHKEIT De Carlo(16) verfolgte viele dieser Ideen und Debatten mit großem Interesse, indem er entsprechende Artikel in Architekturzeitschriften las. Er sah darin indes lediglich einige wenige von zahllosen Möglichkeiten, die das Kriegsende eröffnet hatte. Befreit von der Bedrohung durch Gewalttätigkeit und den Diktaten des Faschismus, blühte er selbst in der neuen Atmosphäre auf. Er hatte begonnen, Bücher und Artikel für Architekturzeitschriften zu schreiben. Er hatte sich an der Hochschule für Architektur in Venedig eingeschrieben. Er(17) wurde sogar von den Congrès internationaux d’architecture moderne, der weltweit führenden Stimme auf dem Gebiet der Stadtplanung, als Mitglied aufgenommen. Es war ein geradezu magischer Moment.
Und dennoch nahm er(18) erste, leise Anzeichen von etwas wahr, das ihn beunruhigte: »Ich erinnere mich an jene Jahre als eine Zeit großer Tatkraft und Neugier, fortwährender Entdeckungen und großer schöpferischer Produktivität. Aber ich war auch traurig, denn ich sah, wie all die alten Formen zurückkehrten. Politiker bauten die Welt wieder genauso auf, wie sie früher gewesen war.«37
Nach De Carlo(19)s Auffassung waren nicht nur die regierenden Christdemokraten daran schuld, sondern auch die Kommunisten(18), die der sowjetischen(46) Parteilinie treu blieben, statt sich den zahllosen anderen Konzepten für den Aufbau einer besseren Gesellschaft, die mittlerweile verfügbar waren, zu öffnen. Das alte Schwarz-Weiß-Denken der Kriegsjahre kehrte zurück als das Schwarz-Weiß-Denken des Kalten Kriegs(6).
Genauso irritierend für De Carlo(20) war die Tatsache, dass sich ein ähnlicher Graben in der Welt der Architektur und der Stadtplanung aufzutun schien. Der Riss verlief nicht so sehr zwischen Ost und West als zwischen den Anhängern verschiedener Denkschulen aus der Vorkriegszeit: den Modernisten der CIAM (und ihrer osteuropäischen(8) Ableger), der Gartenstadtbewegung und der »organischen« Schule von Architekten wie Frank Lloyd Wright(4). De Carlo(21), der nach dem Krieg ausführlich über all diese Bewegungen geschrieben hatte, sah keinen Grund, weshalb sie keinen gemeinsamen Nenner finden könnten. Jede von ihnen sei aus der gleichen Botschaft der Freiheit geboren worden, sagte er Jahre später.
Besonders dogmatisch waren die CIAM. De Carlo(22) war von jeher der Meinung gewesen, die Tatsache, dass die Anhänger Le Corbusiers(6) ihre Idee der Stadt als allgemeingültig und unanfechtbar hinstellten, habe etwas »Klaustrophobisches«; er nannte sie spöttisch »die allwissende Corbusier(7)’sche Methode«.38 Mit Entsetzen beobachtete er, wie in dem Bauboom der Nachkriegszeit überall auf der Welt innerstädtische Viertel abgerissen und durch modernistische, nach den Grundsätzen Le Corbusiers geplante Hochhäuser ersetzt wurden. Alles war normiert, von den Fensterformen und den Größen der Zimmer bis zur Untergliederung von Städten in verschiedene »Zonen«. Auch diese Normierung hatte ihr Pendant in Osteuropa(9), wo sie zu einer Tugend erhoben wurde, weil sie angeblich eine Form der Gleichheit darstellte. Im Ostblock(10) sorgten zentral gesteuerte Produktionsverfahren dafür, dass überall zwischen Vilnius(1) und Taschkent(1) gleichförmige, monotone Wohnsiedlungen gebaut wurden.
De Carlo(23) vermutete, diese Art von Gleichförmigkeit werde sowohl im Osten als auch im Westen geschätzt, weil sie den Architekten, den Bauherren, den Unternehmen und den Regierungen, die alles finanzierten, gelegen kam – allen außer den Menschen, die in den neu geschaffenen Wohnsiedlungen leben mussten. Statt die Lebensbedingungen und den sozialen Zusammenhalt ihrer Bewohner zu verbessern, schienen sich die Planer nur für den Faktor Effizienz zu interessieren: die Effizienz der Bauweise, die Effizienz der Verkehrsmittel, die Effizienz der Kosten.
In den fünfziger Jahren erreichte der Modernismus mit der Planung zweier neuer Städte, die gänzlich nach modernistischen Grundsätzen entworfen wurden, ihren Höhepunkt: Le Corbusiers(8) Plan für Chandigarh(1) in Indien(8) und die von Lúcio Costa(1) und Oscar Niemeyer(1) entworfene neue brasilianische Hauptstadt Brasilia(1). Auch wenn beide inspirierende, eindrucksvolle Monumente beherbergten, fand De Carlo(24), dass sie etwas Seelenloses hatten. »Ideale Städte werfen weitaus weniger wichtige Fragen auf als reale Städte, die unrein und kompliziert, aber wirklich sind«, schrieb er. Er nannte Chandigarh(2) »die letzte große Utopie der Aufklärung« und nahm Anstoß daran, dass die Stadt in der ausdrücklichen Absicht geplant worden war, die persönlichen Geschichten der Menschen, die dorthin zogen, auszulöschen und sie als vorbildliche Bürger sozusagen neu zu erschaffen.39
Schließlich begann De Carlo(25), die CIAM mit der Kommunistischen(19) Partei zu vergleichen – einer Organisation, die in ähnlicher Weise den Bezug zu den Anliegen wirklicher Menschen verloren hatte, indem sie sich hinter einer dogmatischen Ideologie verschanzte.40 Mitte der fünfziger Jahre griff er die CIAM wiederholt heftig an; er nannte sie eine »selbstgefällige Gesellschaft mit ihren eigenen geweihten Riten, Hohepriestern und eigener Staatsräson«, erstarrt durch einen »Kult von Regeln und eine bereitwillige Versklavung unter ihre despotische Zucht«. Seine modernistischen Kollegen forderte er auf, sich zwischen Utopia und Wirklichkeit zu entscheiden, zwischen »Architektur vom Reißbrett« und echter Architektur, die »täglich vom Leben der Menschen aufgezehrt wird«.41
Aber vor allem griff er die Ergebnisse des Modernismus vor Ort an: »Was Italien(10) betrifft, so hat der Erfolg der Sprache der modernen Architektur keine positiven Ergebnisse gezeitigt … Unter ihrer umfassenden Ägide werden städtische Gemeinschaften kurz entschlossen zerstört und durch sterile, unmenschliche neue Viertel und Häuser ersetzt, die in ein paar Jahren zu heruntergekommenen Slums werden.«42 Solche Angriffe führten zusammen mit denjenigen anderer, gleichgesinnter Architekten schließlich zur Auflösung der CIAM am Ende des Jahrzehnts.
Seither haben sich viele von De Carlo(26)s Kritikpunkten erhärtet. In Amerika übte die Architekturkritikerin Jane Jacobs(1) vernichtende Kritik daran, dass staatlich finanzierte Slumsanierungsprojekte einen modernistischen Albtraum geschaffen hatten. In ihrem klassischen Buch The Death and Life of Great American Cities wies Jacobs nach, dass der Wiederaufbau nach dem Krieg vielfach Städte hervorbrachte, deren Bewohner kaum Kontakt miteinander hatten und die unter antisozialem Verhalten litten. Ihre Befunde wurden von einer Studie von Oscar Newman(1) bestätigt, der mithilfe statistischer Daten nachwies, dass viele moderne Wohnsiedlungen nicht nur die Lebensqualität ihrer Bewohner nicht verbesserten, sondern auch zu einem massiven Anstieg innerstädtischer Kriminalität führten.43
Andere Studien aus der ganzen Welt schienen diese Befunde zu bestätigen. So kam eine Studie der Vereinten Nationen über die Verstädterung in Venezuela(2) zu dem Schluss, dass Gebiete, in denen Landbesetzer ihre eigenen Unterkünfte errichteten, weitaus stabilere Sozialstrukturen hervorbrachten als modernistische Großwohnanlagen, in denen Mieter gelegentlich Mieteintreiber ermordeten. Studien aus den Niederlanden(7), Finnland(1), Russland(4), China(33), Südafrika(1) und Puerto Rico(1) erbrachten ähnliche Ergebnisse. Statt die perfekte Gesellschaft zu schaffen, verbreiteten viele der modernistischen Stadtviertel, die nach dem Zweiten Weltkrieg(82) entstanden, ein neues Gefühl urbaner Entfremdung.44
Und was ist mit den anderen utopischen Ideen der Stadtplanung? Was wurde aus ihnen?
In Großbritannien(45) hat das Modell der Gartenstadt die Planer der Nachkriegszeit am stärksten beeinflusst. Hier ist an erster Stelle Patrick Abercrombie(1) zu nennen, dessen Greater London(6) Plan vorsah, über eine Million Menschen aus der Hauptstadt in neue Städte mit viel Grün außerhalb der Metropole umzusiedeln. In der schönen neuen Welt von 1945 sollten diese neuen Städte – Orte wie Harlow(1) und Stevenage(1) – einem doppelten Zweck dienen: Sie sollten qualitativ hochwertigen Wohnraum bieten und zugleich, in den Worten des neuen Planungsministers, »einen neuen Typus von Bürger hervorbringen – einen gesunden, sich selbst achtenden, würdevollen Menschen mit Sinn für Schönheit, Bildung und Bürgerstolz«.45
Im Lauf der nächsten dreißig Jahre wurden in ganz Großbritannien(46) verteilt 28 Planstädte errichtet. Aber falls ihre Planer geglaubt haben sollten, dass sie Utopia bauten, irrten sie sich gewaltig. Keine dieser Städte wurde nach den ursprünglichen Grundsätzen der Gartenstadt gebaut: Die meisten davon gerieten zu groß und wurden zu scheinbar endlosen Landschaften aus völlig gleichförmigen Häusern. Viele wurden so nahe an bestehenden größeren Städten gebaut, dass sie zu bloßen Schlafstädten verkamen. Bereits Ende der fünfziger Jahre fanden Studien heraus, dass diese neuen Städte zu »toten Gemeinschaften« wurden und dass sich in ihnen ein neues Gefühl der Entfremdung und der Niedergeschlagenheit ausbreitete, das »Retortenstadtdepression« genannt wurde.46
Unterdessen wurde in den USA das Ideal des Gemeinschaftseigentums, das den Begründern der Gartenstadtbewegung so sehr am Herzen lag, fast gänzlich zugunsten des Privateigentums ignoriert: Jeder Hausbesitzer ließ sich auf seinem eigenen privaten Grundstück nieder, inmitten Tausender ähnlicher Privatgrundstücke, wie in einer abgeschwächten Version von Frank Lloyd Wrights(5) ›Broadacre City‹. In den sechziger und siebziger Jahren waren die amerikanischen Vorstädte zu einem »Subtopia« mit niedriger Bebauungsdichte und niedriger Bauqualität geworden, aus dem es »kein Entkommen gab«, wie es Lewis(1) Mumford(2) ausdrückte.47
Dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs(83) geriet das Metier der Stadtplanung in Verruf – ironischerweise genau zu der Zeit, als es begann, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen und sich endlich auf eine wissenschaftliche(41) Grundlage zu stellen. Überall zog sich der Staat aus der Stadtplanung zurück, in der er eine sehr aktive Rolle gespielt hatte: In den achtziger Jahren eröffneten Behörden überall privaten Bauträgern viel größere Gestaltungsspielräume und zeigten damit einmal mehr ihr Vertrauen in den Markt. Prominente Architekten beteiligten sich nicht länger an groß angelegten Plänen, die sich auf die Gestaltung ganzer Viertel oder auch Städte bezogen. Sie konzentrierten ihre Schaffenskraft jetzt lieber auf einzelne, autonome Gebäude. Giancarlo De Carlo(27) verfolgte dies alles mit Bestürzung. Als er in den neunziger Jahren auf sein Leben zurückblickte, beklagte er, dass Architekten und die Gesellschaft im Allgemeinen in »hysterischer« Weise von einem Extrem ins andere verfielen. Sie würden ihre Erfolge zusammen mit ihren Misserfolgen gemäß der gerade herrschenden Lehrmeinung verwerfen und ihre Lektion nie lernen:
»Einige Jahre lang waren alle Architekten der Auffassung, man könne einen Raum nicht ordnen und gestalten … wenn man nicht zuvor festgelegt habe, wie sämtliche benachbarten Räume, die Stadt, die Region, das Land und die ganze Welt strukturiert und gestaltet werden sollten … Einige Jahre später wurde dann alles auf den Kopf gestellt, und die Architekten sagten jetzt, es sei nicht ihre Aufgabe, die Region im Umkreis der Stadt zu gestalten … Daher wurde jedes Mal alles, was früher getan worden war, einfach weggeworfen.«48
Die Geschichte der Stadtplanung in der Nachkriegszeit ist voller Triumphe, aber auch Katastrophen. Während die britischen(47) Retortenstädte nicht immer Erfolgsgeschichten waren, erging es ihren skandinavischen(2) Pendants besser – Vällingby(1) vor den Toren von Stockholm(1) und die Gartenstadt Tapiola(1) außerhalb Helsinkis(1). Während sich einige staatlich finanzierte Wohnsiedlungen als totale Fehlschläge erwiesen, wurden andere angenehme und beliebte Wohnorte, etwa die Ina-Casa-Siedlungen in Italien(11). Und auch wenn modernistische Ideen für die Stadtgestaltung hässlich und abstoßend sein konnten, eröffneten sie zumindest die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In seinen späteren Lebensjahren vermisste De Carlo(28) schmerzlich das Gemeinschaftsgefühl, das die Idealisten geschaffen hatten, die die Nachkriegsstädte der Welt planten, sowie die leidenschaftlichen Debatten, die ihre Visionen einer perfekten Gesellschaft angestoßen hatten. »Ja, meine Einsamkeit ist gewachsen«, sagte er einem Interviewer gegen Ende seines Lebens. Und dann fügte er hinzu: »Nein, nicht nur meine, jeder ist einsamer geworden(29).«49
DIE ZENTRALE BEDEUTUNG DES PLANS Nach dem Krieg fand die Idee der zentralen staatlichen Planung in vielen Ländern der Welt großen Zuspruch. Es stimmt, dass Architekten zu den lautesten Befürwortern umfassender, zentral gesteuerter Pläne gehörten. Und es stimmt auch, dass die von ihnen vorgelegten Pläne vermutlich noch immer die greifbarsten Beispiele dafür sind, wie solche staatlichen Eingriffe die Welt, in der wir leben, veränderten. Aber ihre Bemühungen waren nur ein Teil eines viel umfassenderen Glaubens an die positive Rolle des Staates, der die Welt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg(84) ergriff.
Überall im Nachkriegseuropa, auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs(2), wurden viele Wirtschaftszweige verstaatlicht, insbesondere die Kohle- und Stahlindustrie, Versorgungsunternehmen und, in einigen Ländern, Banken und Versicherungen. Im Mai 1946 war bereits ein Fünftel der gesamten industriellen Kapazität Frankreichs(23) Staatseigentum. Am Ende des folgenden Jahres waren auch drei Viertel der tschechoslowakischen(12) Industrien verstaatlicht worden – dies war, erinnern wir uns, vor der Übernahme des Landes durch die Kommunisten(20).50 In Polen(10), Ungarn(2) und Rumänien(1) wurden unterdessen alle wichtigen Industriezweige und der Finanzsektor in Staatseigentum überführt. Diese Maßnahmen wurden teilweise aus ideologischen Gründen und teilweise zur Vergeltung gegen jene Industriellen und Finanziers, die mit den Nazis(30) zusammengearbeitet hatten, beschlossen. Aber es ging auch um Macht: Wenn eine Regierung für die Zukunft planen wolle, so die Argumentation, müsse sie die inländische Produktion kontrollieren.
Im Europa(60) der Nachkriegszeit weitete der Staat auch auf anderen Gebieten seinen Einfluss erheblich aus, etwa im öffentlich finanzierten Bildungswesen, im subventionierten öffentlichen Verkehr und in der Kunst- und Kulturförderung sowie bei der Einführung umfassender sozialer Sicherungssysteme und im öffentlichen Gesundheitswesen. Dies war gesellschaftliche Planung in riesigem Maßstab, und es war ein direktes Pendant zur Wirtschaftsplanung, an welcher der Staat zur gleichen Zeit ebenfalls beteiligt war. Im Jahr 1945 war man weithin der Überzeugung, dass diejenigen, die arm geboren wurden, die Chance haben sollten, gesellschaftlich aufzusteigen, und dass diejenigen, die harte Zeiten durchmachten – aufgrund von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter –, von einem Sicherheitsnetz aufgefangen werden sollten. All dies sollte durch eine massive und beispiellose Einkommensumverteilung von den Reichen zu den Armen finanziert werden – in Westeuropa(5) durch Steuern und in Osteuropa(11) durch direkte Mittelzuweisung. Ähnliche Versuche der Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung wurden in anderen Regionen der Welt unternommen. Im Japan(101) der Nachkriegszeit richteten Planungsbehörden die Wirtschaft vollständig auf neue Technologien aus, die zu den »vielen wertvollen Lektionen und Erinnerungen« gehörten, die der Krieg hinterlassen hatte.51 In China(34) folgte das neue kommunistische(21) Regime einer ähnlichen Linie wie seine sowjetischen(47) und osteuropäischen(12) Pendants und führte eine Reihe von Fünfjahresplänen ein. Auch Indien(9) verabschiedete nach seiner Entlassung in die Unabhängigkeit eine Reihe von Fünfjahresplänen, die auf nichts weniger abzielten als »eine neue gesellschaftliche Ordnung, frei von Ausbeutung und Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ungerechtigkeit«.52 Unterdessen setzte sich im kolonialen Afrika(9) immer mehr die Erkenntnis durch, dass der Fortschritt zentral gesteuert werden müsse, wenn afrikanische(10) Nationen jemals echte wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit erreichen wollten. Selbst in den USA, wo man dem Staat von jeher mit Misstrauen begegnete, wurde die zentrale Planung nach dem Krieg ausgeweitet – vom »New Deal« über den »Fair Deal« bis zu Lyndon Johnsons(2) »Great Society«-Programm Mitte der sechziger Jahre. Schließlich breitete sich der Glaube an zentrale Planung über die nationale auf die internationale Ebene aus, wobei in den Jahren 1944 und 1945 eine ganze Reihe globaler Institutionen gegründet wurden, welche die Weltwirtschaft, das internationale Recht und sogar die globale Regierungsordnung regeln sollten – mit unterschiedlichem Erfolg.
Die Pläne verfolgten alle unterschiedliche Absichten und wurden in unterschiedlicher Weise umgesetzt, aber ihnen allen gemeinsam war die Überzeugung, dass von Fachleuten geleitete Institutionen die zentrale Rolle bei der Steuerung und Koordinierung nationaler und internationaler politischer Prozesse spielen sollten. Der Zweite Weltkrieg(85) – mit all seinen administrativen und militärischen Erfolgen, mit der Atmosphäre der Zusammenarbeit, die er hervorgebracht hatte, und mit dem unbedingten Willen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen – war dafür direkt verantwortlich.
Allerdings wäre es falsch anzunehmen, all diese Pläne wären ohne Widerstand übernommen worden. So, wie Giancarlo De Carlo(30) nach dem Krieg das Dogma modernistischer Stadtplanung ablehnte, so gab es auch viele Leute, die in ähnlicher Weise das Dogma wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Planung ablehnten. Hier ist an erster Stelle der liberale Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Friedrich Hayek(1) zu nennen, der die Ausweitung staatlicher Macht mit Besorgnis betrachtete. Hayek war der festen Überzeugung, dass Sozialisten – ganz zu schweigen von den Kommunisten(22) – aus dem Krieg die falschen Schlüsse gezogen hätten. Der Wunsch, Ungleichheit und Unzufriedenheit zu beseitigen, sei bewundernswert, so behauptete er, aber immer mehr Macht in die Hände von Regierungen zu legen, sei der falsche Ansatz. Wo andere gesellschaftlichen Fortschritt sahen, erkannte Hayek nur die Aushöhlung grundlegender Bürgerrechte. Wenn Regierungen die Macht in dieser Weise an sich rissen, mache es langfristig keinen großen Unterschied, ob sie totalitär oder demokratisch(3) seien: Jeder übermächtige Staat, so sagte er, ebne »den Weg zur Knechtschaft«.53
Hayek(2) war nicht allein. 1947 gründeten er und eine Gruppe gleichgesinnter Denker die Mont Pèlerin Society, deren Mitglieder sich für Redefreiheit, politische Freiheit und, vor allem, freie Marktwirtschaft einsetzten. Unter ihren Mitgliedern waren einige der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts – Wilhelm Röpke(1), Milton Friedman(1), George Stigler(1), Frank Knight(1), Lionel Robbins(1), Ludwig von Mises(1) und viele andere mit der Auffassung, freie Märkte seien der einzige sichere Weg zur Freiheit. Und so wurde selbst zur Hochzeit des Staatsinterventionismus die Saat der Revolte gegen Planwirtschaften gesät.54
Der Einfluss dieser Denker sollte im weiteren Verlauf des Jahrhunderts noch zunehmen. Ungefähr zur gleichen Zeit, als die Stadtplanung in Verruf geriet – in den sechziger und den siebziger Jahren –, verschaffte die wachsende Ernüchterung im Westen über die Wirtschafts- und Gesellschaftsplanung liberalen Ökonomen einen immer größeren Einfluss auf die Regierungspolitik. In den achtziger Jahren hatten sie bereits damit begonnen, das Nachkriegssystem des Staatsinterventionismus zu zerstören: Die Regulierung des Marktes wurde in allen westlichen Ländern gelockert, die Devisenbewirtschaftung wurde aufgegeben, und überall wurden Industrien reprivatisiert. In den neunziger Jahren hatten selbst die ehemals kommunistischen(23) Ostblockstaaten(13) die freie Marktwirtschaft zu ihrem zentralen Glaubensbekenntnis erkoren, zur großen Freude liberaler Philosophen überall.
In gewisser Weise war dies der gleiche Wechsel von einem Dogma zu einem anderen, den Giancarlo De Carlo(31) in der Welt der Architektur beobachtet hatte, und viele Menschen erfüllte er mit der gleichen Bestürzung. Unabhängig davon, ob die zentrale Planung die beste Methode ist, um eine Gesellschaft zu organisieren oder nicht, wurde sie von vielen Menschen geschätzt, weil sie ihre Arbeitsplätze sicherte, Einkommen umverteilte und ein Gefühl sozialer Gerechtigkeit in eine Welt brachte, die, von den vierziger Jahren aus gesehen, erst in jüngerer Vergangenheit erlebt hatte, wie eine schwere Wirtschaftskrise und massive Ungleichheit zu einem Weltkrieg führten. Staatlich geplante Stadterneuerungsprogramme haben ungeachtet der späteren Fiaskos, in denen sie nicht selten endeten, Menschen an den Orten, an denen sie wohnten, gewisse Mindeststandards gewährleistet. Trotz all ihrer Ineffizienzen bemühten sich verstaatlichte Wirtschaftszweige immerhin darum, Ressourcen zum Wohle der Gemeinschaft zu nutzen. Heute sind staatliche Gesundheits- und Rentensysteme noch immer einige der am höchsten geschätzten Formen gesellschaftlicher Planung, insbesondere in Europa(61), und zwar deshalb, weil sie der Versuch sind, alle Menschen unabhängig von ihrem Vermögen, ihrer Schicht- und Rassenzugehörigkeit oder einer anderen Form des gesellschaftlichen Status fair und gleich zu behandeln. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, war dieses Streben nach Gleichheit und Fairness eine weitere utopische Idee, die vom Zweiten Weltkrieg(86) genährt wurde. Auch ihr verdanken wir im Gefolge des Kriegs einige außerordentliche Neuerungen – aber auch einige niederschmetternde Enttäuschungen.