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Eine Weltregierung

Ich wurde zum Töten ausgebildet. Nicht nur um andere Soldaten, sondern auch um Menschen in Städten zu töten … Frauen, Kinder, alte Leute …«1 So fasst der ehemalige amerikanische(148) Bomberpilot Garry Davis(1) seine Erfahrung im Zweiten Weltkrieg(107) zusammen. Er empfand diese Reue erstmals im Jahr 1944, und sie verfolgte ihn sein Leben lang: »Ich fühlte mich als menschliches Wesen moralisch herabgewürdigt. Ich war von Beruf Schauspieler. Wenn ich vor dem Publikum auf der Bühne stand, war ich von Freude erfüllt und fühlte mich des Lebens würdig. Die Beziehung zum Publikum war eine des gegenseitigen Respekts, der Anerkennung und sogar der Liebe … Als Pilot im Krieg verlor ich meine Menschlichkeit, meine Seele, wenn Sie so wollen. Ich war nur noch ein Mörder anderer Menschen. … Ich wurde nur von dem nicht hinterfragten Wunsch angetrieben, ›den Krieg gegen die Nazis(38) zu gewinnen‹ … Ich war kein glücklicher Entertainer mehr. Ich fühlte mich entwürdigt, benutzt, erniedrigt.«2

Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Soldaten nach der Rückkehr aus dem Krieg im Zivilleben nicht mehr zurechtfinden, vor allem, wenn sie das extreme emotionale Auf und Ab des direkten Kampfs erlebt haben. 1945 gab es in aller Welt Dutzende Millionen Männer, die gekämpft hatten und bei der Rückkehr in ihre frühere Lebenswelt ein ähnliches Gefühl der Fremdheit empfanden. Einige von ihnen gaben diesem Gefühl Ausdruck: Sie bedauerten, was der Krieg aus ihnen gemacht hatte. Anderen fiel es schwer, ihre Aggressivität zu zügeln, ihre Angst zu verbergen oder nach der Rückkehr in ein Leben in Frieden den plötzlichen Verlust des Überlebenswillens oder der völligen Konzentration auf den Kampf zu verkraften. Und nicht nur Soldaten empfanden so: Auch Zivilisten in aller Welt hatten den Schrecken des Kampfes und den Rausch des Triumphs erlebt und litten nach dem Ende des Krieges unter einer undefinierbaren inneren Unruhe.

Der Fall von Garry Davis(2) ist interessant, weil dieser Mann einen außergewöhnlichen Weg wählte, um diese Empfindungen zu bewältigen. Nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt New York(4) ließ er sich zweieinhalb Jahre treiben, gequält von der Erinnerung an seinen im Krieg getöteten Bruder und an mehrere gefallene Freunde und gepeinigt von dem Gefühl der persönlichen Verantwortung für die Dinge, die er getan hatte. An ihm nagte der Verdacht, dass die Welt aus den Jahren der Zerstörung nichts gelernt hatte. Als er diese Gedanken nicht länger ertragen konnte, entschloss er sich, zur Tat zu schreiten: Er(3) wollte für den Weltfrieden kämpfen. Also kehrte er nach Europa(93) zurück, an den »Tatort«, wie er es ausdrückte, und am 25. Mai 1948 legte er seine amerikanische(149) Staatsbürgerschaft ab. Es war ein erster herausfordernder Akt eines Kreuzzugs, der sein ganzes Leben lang dauern würde.3

Es war keineswegs so, dass Davis(4) eine spezielle Abneigung gegen sein Geburtsland hegte – er lehnte die Idee der »Nationalität« an sich ab. In seinen Augen war der Verzicht auf seine Staatsbürgerschaft kein Akt der Ablehnung, sondern einer der Bejahung, ein Schritt, den er tun musste, um sich in einen »Bürger der Welt« zu verwandeln, der keiner bestimmten Nation, sondern der Menschheit als ganzer angehörte. »Der Krieg schien seine Wurzeln im Nationalstaat zu haben«, erklärte er(5) später. »Um den Krieg abzuschaffen …, musste man zuerst die Nationen abschaffen.« Wenn er eine ausreichend große Zahl von Menschen dazu bewegen konnte, denselben Weg zu gehen und sich zu Weltbürgern zu erklären, würden keine Nationalstaaten mehr nötig sein, und Kriege zwischen Ländern würden der Vergangenheit angehören.4

In den folgenden 65 Jahren reiste Davis(6) kreuz und quer durch die Welt, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Widersprüche und die Abwegigkeit der angeblichen Unterschiede zwischen den Nationen zu lenken. Er hatte seine Staatsbürgerschaft in Frankreich(69) abgelegt und die dortigen Behörden damit vor ein Rätsel gestellt: Da er kein französischer Bürger war, wollten sie ihn abschieben, aber da er(7) auch kein amerikanischer(150) Bürger mehr war, gab es eigentlich kein Land, in das sie ihn deportieren konnten. Als die französischen(70) Behörden dennoch seine Ausweisung anordneten, ging Davis in Paris(9) in ein Kaufhaus und stahl Damenunterwäsche, um seine Verhaftung zu erzwingen – so würde das Gesetz seinen Verbleib im Land vorschreiben. Bei einer anderen Gelegenheit marschierte er in London(9) in den Buckingham-Palast, um der Queen eine Petition zu überreichen. Er(8) wurde verhaftet und in die Vereinigten Staaten(151) zurückgeschickt.

Abb. 23: Der »Weltbürger« Garry Davis(9) wird nach einer Rede im Vélodrome d’Hiver in Paris(10) im Jahr 1948 von seinen Anhängern auf den Schultern getragen.

Obwohl er(10) nichts anderes tat, als sich für den Frieden einzusetzen, zog Davies(1) Wut auf sich. Der amerikanische(152) Romancier Paul Gallico(1) bezeichnete ihn und andere Amerikaner, die ihre Staatsbürgerschaft abgelegt hatten, als dumme junge Männer mit »blutenden Herzen«, deren Abenteuer einer »unmenschlichen Bande« in Mittel- und Osteuropa(20) in die Hände spielten.5 In den Augen der Sowjetunion(60) war Davis(11) »ein Wahnsinniger, der die amerikanische Weltregierung samt Eipulver und Detektivgeschichten exportiert« und in Wahrheit vorhabe, »in Europa(94) den Boden für die amerikanische(153) Kolonisierung zu bereiten«.6 Der Vorsitzende der UNO-Vollversammlung, der Australier(9) Herbert Evatt(1), hielt ihn für einen hoffnungslosen Idealisten, der die Realität der internationalen Diplomatie nicht verstehe.7 

All das konnte nicht verhindern, dass es Davis(12) gelang, eine große Anhängerschaft zu mobilisieren. Ende der vierziger Jahre entstanden in Europa(95), Amerika(154) und Nordafrika(5) Hunderte »Weltbürgervereine«, und bei den Veranstaltungen von Davis strömten bis zu 20000 Menschen zusammen. Er erhielt Unterstützung von zahlreichen Intellektuellen, darunter dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Albert Camus(2), dem Philosophen Jean-Paul Sartre(17), dem Nobelpreisträger Albert Schweitzer(1), dem Violinisten Yehudi Menuhin(1) und dem berühmtesten Wissenschaftler(44) des 20. Jahrhunderts, Albert Einstein(4). Zeitungen bezeichneten ihn(13) als einen »Träumer schöner Träume« und als »Pionier, der seiner Zeit voraus« sei und einem »tiefen emotionalen Bedürfnis von Millionen Menschen« Ausdruck verleihe. Gegen Ende seines Lebens wurde er von der Times of India(1) mit Sokrates(1), Galileo(1), Jeanne d’Arc(1) und Beethoven(2) verglichen. Die australische(10) Zeitung The World’s News(1) bezeichnete ihn als »Symbol für Tausende Menschen in der Welt, die sich aus dem geistigen Sumpf zu befreien versuchen, in dem die Kriege ausgebrütet werden«. Ob Davis(14) nun recht hatte oder nicht, nach Ansicht der Zeitschrift New Yorker(3) war er zweifellos »in Einklang mit dem Universum«.8

Im Verlauf seines lebenslangen Kampfes gegen das Konzept der Nationalität lernte er(15) Dutzende Gefängnisse in ebenso vielen Ländern kennen, wobei er zumeist dafür bestraft wurde, dass er die nationalen Einreisebeschränkungen missachtet hatte. Er richtete ein »Register von Weltbürgern« ein, in das sich fast eine Million Menschen eintragen ließen. Er führte eine »Weltwährung« ein und gründete sogar eine »Weltregierung« mit Sitz in Washington(4). Da alle Länder Reisepapiere von ihm verlangten, ließ er sich einen eigenen »Weltpass« drucken und stellte jedem, der wollte, ebenfalls ein solches Dokument aus. Sein Projekt verdankte seine bleibende Attraktivität nicht zuletzt der Tatsache, dass Davis(16) nicht nur über eine Weltföderation redete, sondern auch stets bereit war, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Er brachte große persönliche Opfer, und obwohl er selbst zugab, insbesondere zu Beginn seiner Kampagne hoffnungslos naiv gewesen zu sein, ließ er nie den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass er an seinen Traum glaubte. »Ich wollte keine Versammlung, sondern einen Kreuzzug. Ich wollte keine Mitgliedskarte oder eine Anstecknadel, sondern ein vorbehaltloses Bekenntnis.« Bis zu seinem Tod(17) im Jahr 2013 kämpfte er für ein Ende der Nationen und des Krieges.9

Die Popularität von Garry Davis(18) war Ausdruck einer globalen Verschiebung des Denkens. Wir haben bereits gesehen, dass der Zweite Weltkrieg(108) die Sehnsucht nach Freiheit und Gleichheit, nach einem Sinn und nach dem Gefühl der Zugehörigkeit weckte. Und wir haben gesehen, wie der Krieg den Glauben an die wissenschaftliche(45) Vernunft und an den Zentralismus gefestigt hatte. Das Projekt von Davis schien die perfekte Synthese all dieser Bedürfnisse zu sein. Sein Beharren auf der Freiheit, ohne Dokumente zu reisen, war Ausdruck des allgemeinen Bedürfnisses nach Freiheit. Sein Ruf nach Brüderlichkeit unter den Menschen entsprang der Sehnsucht nach Zugehörigkeit – nicht zu einer Nation, sondern zu einer universellen Gemeinschaft aller Menschen. Sein Wunsch, sich in einen »Bürger der Welt« zu verwandeln, deckte sich mit dem Bedürfnis nach Gleichheit zwischen allen Menschen: Das wesentliche Merkmal eines Weltbürgers war nicht seine Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, einer Nation, einer Religion(13), einer Klasse oder einem Geschlecht, sondern seine Menschlichkeit. In der Welt, von der Davis träumte, würden Kriege überflüssig sein, da es keine Nationen mehr geben würde, für die man kämpfen konnte. Die menschlichen Gemeinschaften würden keine Helden, keine Ungeheuer und keine Märtyrer mehr haben.

Davis(19) glaubte, eine solche Welt könne nur errichtet werden, indem man alle Menschen gleichberechtigt über eine Weltregierung abstimmen ließ. Diese Regierung sollte eine föderale Struktur haben, um die Wünsche der einzelnen Regionen mit den Bedürfnissen der Weltgemeinschaft in Einklang bringen zu können. Davis(20) machte nie konkrete Vorschläge dazu, wie eine solche Regierung aussehen könnte, aber in seinen Memoiren erklärte er, sie sollte Ähnlichkeit mit dem amerikanischen(155) Regierungssystem haben: Er träumte von Vereinigten Staaten der Welt.10

Ein solches System hätte seiner Meinung nach zahlreiche Vorteile. Zunächst einmal waren die Amerikaner(156) bereits damit vertraut. Da die USA seit dem Krieg die treibende Kraft hinter den meisten Änderungen am internationalen System waren, mussten sie eine führende Rolle beim Aufbau jeder neuen globalen Organisation übernehmen, anstatt sich wie in den zwanziger und dreißiger Jahren in die Isolation zurückzuziehen. Zweitens würde sich die globale Föderation grundlegend vom System des Völkerbundes unterscheiden, dem die USA nie beigetreten waren und der in den Augen der Weltgemeinschaft diskreditiert war, weil es ihm nicht gelungen war, das Abgleiten der Welt in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs(109) zu verhindern. Eine globale Bundesregierung würde auch bedeuten, dass die Macht in den Händen einer gewählten Elite gebündelt würde. Nach Ansicht von Davis(21) würde dies die rationale Organisation der Weltgesellschaft durch eine Einrichtung ermöglichen, die sich nur der Menschheit als ganzer verpflichtet fühlen und neben Wissenschaftlern(46) auch spirituelle Führer aufnehmen würde.11

Die Art und Weise, wie Garry Davis(22) sein Vorhaben in seinen spektakulären Publicityauftritten und Protestaktionen präsentierte, war eher anarchisch. Aber es gab genug Leute, die bereit waren, seinen Ideen einen geeigneten intellektuellen und ideologischen Rahmen zu geben.

Das erste Buch, in dem die Idee einer Weltregierung der breiten Öffentlichkeit nahegebracht wurde, war Wendell Willkies(2) 1943 erschienener internationaler Bestseller One World. Willkie(3) war ein republikanischer Staatsmann und ehemaliger Präsidentschaftskandidat, der von Roosevelt(5) im Krieg mit einer weltweiten Fact-Finding-Mission betraut worden war. Seine Erkenntnisse fasste er im genannten Buch zusammen, in dem er den universellen Wunsch nach Veränderungen beschrieb, der im Verlauf seiner Reise immer wieder an ihn herangetragen worden war. Die ganze Welt sei zu großen Opfern bereit, erklärte er, sofern die Hoffnung bestehe, dass sich diese Opfer lohnen würden.12 Willkie(4) war fest davon überzeugt, dass die Welt nur Frieden finden konnte, wenn diese Hoffnungen erfüllt wurden, und seiner Meinung nach mussten die Vereinigten Staaten(159) die Führung übernehmen:

Nach dem Krieg wird Amerika einen von drei Wegen zu wählen haben: engstirnigen Nationalismus, der unweigerlich den endgültigen Verlust unserer eigenen Freiheit bedeutet; internationalen Imperialismus, der die Aufopferung der Freiheit anderer Nationen bedeutet; oder die Schaffung einer Welt, in der jede Rasse und jedes Volk die gleichen Lebensbedingungen besitzen wird. Ich bin überzeugt, daß das amerikanische(160) Volk mit überwältigender Mehrheit den letzten dieser drei Wege wählen wird(5).13

Das Buch sprang im Mai 1943 auf Anhieb an die Spitze der Bestsellerliste der New York Times(2), wo es sich vier Monate hielt; insgesamt wurden in den Vereinigten Staaten(161) zwei Millionen Exemplare verkauft. Willkie(6) wird ein wichtiger Beitrag zur Überwindung des traditionellen amerikanischen Isolationismus vor allem in der Republikanischen Partei zugesprochen, der die USA in der Vergangenheit davon abgehalten hatte, eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu übernehmen.14

Zwei Jahre später, als der Krieg vorüber war, erschien ein weiteres einflussreiches Buch, das in 25 Sprachen übersetzt wurde und eine weltweite Auflage von 800000 Exemplaren erreichte. Der Autor war der Schriftsteller und Verleger Emery Reves(1), ein ungarischer(7) Jude, der in Berlin(3), Zürich(1) und Paris(11) ausgebildet worden und schließlich in die USA ausgewandert war. Wie viele andere Angehörige seiner Generation hatte er persönlich unter dem Krieg gelitten; seine Mutter war in einem Konzentrationslager(7) getötet worden.15

In seiner straffen Abhandlung stellte Reves(2) die These auf, der Zweite Weltkrieg(110) sei lediglich »das Symptom der Krankheit«: Es sei sinnlos, den Krieg zu gewinnen, wenn es der Welt nicht gelinge, seine Ursachen zu beseitigen. Wie Garry Davis(23) sah auch Reves den Ursprung aller modernen Konflikte in der emotionalen Bindung der Menschen an ihre Nation:

Nationalismus ist ein Herdentrieb. Er ist eine der vielen Äußerungen dieses uralten Instinktes, welcher zu den tiefst verwurzelten und ständigsten Kennzeichen des Menschen als sozialem Geschöpf gehört. Er ist ein Kollektiv-Minderwertigkeitskomplex, welcher hinwegtröstet über individuelle Furcht, Einsamkeit, Schwäche, Untauglichkeit, Unsicherheit, Hilflosigkeit – sie alle suchen Zuflucht bei dem übertriebenen Bewußtsein und Stolz, einer bestimmten Gruppe von Menschen anzugehören(3).16

Solange es Nationen gebe, erklärte Reves(4), würden sie sich immer mit ähnlichen Ängsten und Unsicherheiten gegen andere Gruppen abgrenzen, und das unvermeidliche Ergebnis seien Konflikte. Dieses Problem könnten wir nur lösen, indem wir aufhörten, uns in ängstliche, einander ausgrenzende Gruppen aufzuspalten, und alle Nationen »in eine vereinte, höhere Souveränität« integrierten, »die fähig ist, eine gesetzliche Ordnung aufzurichten, innerhalb derer alle Völker gleiche Sicherheit genießen können und unter Recht und Gesetz gleiche Pflichten und gleiche Rechte haben«.17

Überall in der westlichen Welt gelangten Menschen zu derselben Einschätzung. In den Vereinigten Staaten(164) wandten sich zwanzig prominente Persönlichkeiten, darunter Albert Einstein(5), Thomas Mann(1) und drei Senatoren, in einem offenen Brief an das amerikanische Volk und forderten es auf, Reves(5)’ Buch zu lesen, »das klar und verständlich zum Ausdruck bringt, was so viele von uns denken«. Der Brief wurde in der New York Times(3), der Washington(5) Post(1) und 50 weiteren Zeitungen veröffentlicht.18 Unterdessen arbeitete eine Gruppe prominenter Wissenschaftler(47) an der University of Chicago(3) am Entwurf einer Weltverfassung.19 In Großbritannien(85) gründete der Labour-Abgeordnete Henry Usborne(1) 1947 eine überparteiliche Parlamentsgruppe für die Weltregierung, der auf dem Höhepunkt ihres Einflusses mehr als 200 Abgeordnete aus beiden Kammern des britischen Parlaments angehörten. Zur selben Zeit rief in Frankreich(71) der ehemalige Widerstandsführer Robert Sarrazac(1) den Front Humain des Citoyens du Monde (Front der Weltbürger) ins Leben. Diese Gruppe nahm schließlich Garry Davis(24) unter ihre Fittiche und machte ihn zum Gesicht der Bewegung.20

Abb. 24: Das Logo der World Citizens Association, einer von vielen Organisationen in aller Welt, die sich für eine globale Föderation einsetzten.

Den größten Einfluss erlangten solche Gruppen in Europa(96) und Nordamerika(2), aber auch in Argentinien(4), Australien(11), Neuseeland(2), Indien(21), Pakistan(4), auf den Philippinen(8), in Japan(110) und der Türkei(2) entstanden Basisorganisationen. 1947 versammelten sich Vertreter von mehr als 50 Organisationen aus 24 Ländern in Montreux(1) und schlossen sich zum World Federalist Movement zusammen. In ihrem Gründungsmanifest hieß es, die Menschheit könne sich »nur durch die Errichtung einer föderalen Weltregierung für immer vom Krieg befreien«. Diese Organisation ist noch heute aktiv und unterhält Beziehungen zu gleichgesinnten Gruppen in aller Welt.21

Es muss erneut darauf hingewiesen werden, dass der Idealismus nicht die einzige Motivation dieser Bewegung war: Sie wurde auch von einer quälenden Angst vor dem angetrieben, was geschehen konnte, wenn die Welt keine Lösung für ihre Probleme fand. Frank Buchman(1), der Gründer der weltweiten Bewegung Moral Re-Armament, drückte es so aus: »Die ganze Welt will eine Antwort. Wir haben den Punkt erreicht, an dem nicht nur eine, sondern alle Nationen untergehen werden, wenn es uns nicht rasch gelingt, eine Antwort zu finden und sie der Welt zu bringen.«22

Vor allem fürchteten die Menschen einen weiteren, noch verheerenderen Konflikt. Schon vor der Atombombe(38) warnten Politiker wie der Südafrikaner(6) Jan Smuts(2): »Ein dritter Weltkrieg könnte die Grenzen dessen, was die zivilisierte Gesellschaft ertragen kann, durchaus überschreiten, und vielleicht sogar die Existenz der menschlichen Welt bedrohen.«23 Nach Hiroshima(18) wuchs die Zahl derer, die diese Einschätzung teilten. Wendell Willkies(7) Idealismus wich einer anderen Botschaft, die im Titel eines weiteren Bestsellers zum Ausdruck kam, der sich mit den Unwägbarkeiten des Atomzeitalters beschäftigte: One World or None.24

DIE VEREINTEN NATIONEN In dieser Atmosphäre, in der sich leidenschaftlicher Idealismus mit einer unterschwelligen Furcht mischte, entstanden die Vereinten Nationen. Auf den ersten Blick schien die UNO viele der Ideale zu verkörpern, die Menschen wie Garry Davis(25) und Emery Reves(6) verfochten. Sie wirkte wie eine Art von Weltregierung, in der Vertreter von 51 Ländern mit dem erklärten Ziel zusammenarbeiteten, »künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren«. Mit der Unterzeichnung der UN-Charta verpflichteten sich diese Länder feierlich, »Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben«. Das klang sehr nobel.25

In der Frühzeit der Vereinten Nationen wollten die Menschen in aller Welt unbedingt glauben, dass diese Organisation alle Probleme der Welt lösen konnte. Viele der frühen Mitarbeiter der UNO hatten aufseiten der Alliierten(22) oder in Widerstandsbewegungen gekämpft und betrachteten die Chance, für den Frieden zu arbeiten, »als Erfüllung eines Traums«.26 In Europa(97) wurde die Gründung der neuen Organisation von einigen Zeitungen als »großer historischer Akt« gefeiert, welcher der Welt die Hoffnung gebe, »von nun an in Frieden leben zu können«.27 In Asien(29) wurde sie als »große Koalition für den Frieden« und als »utopischer Garten« begrüßt – obwohl in diesem Garten einige »harte Felsbrocken der Realität« umherlagen.28 Auch bei einigen afrikanischen(21) Intellektuellen weckte die UNO Hoffnung auf eine bessere Welt. »Nie zuvor«, erklärte der Nigerianer(4) Eyo Ita(1), »hat die menschliche Rasse eine größere Chance auf eine Weltgemeinschaft freier und gleicher Völker gehabt.«29

Sogar in den traditionell isolationistischen USA war die Begeisterung groß. Republikaner wie Demokraten überboten einander in Lobreden auf die neue Organisation. Außenminister Cordell Hull(1) sah in den Vereinten Nationen(14) den Schlüssel zur »Erfüllung der edelsten Bestrebungen der Menschheit und zum Überleben unserer Zivilisation«.30 Andere prominente Politiker bezeichneten die Charta der Vereinten Nationen als »hoffnungsvollstes und wichtigstes Dokument in der Geschichte der Weltpolitik« und meinten, die Prinzipien der Organisation würden die Menschheit »in eine goldene Ära der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Friedens und des gesellschaftlichen Wohlergehens führen«.31 Die amerikanische Bevölkerung war ebenso zuversichtlich: In einer Gallup-Umfrage im Juli 1945 stellte sich heraus, dass die Zahl der Befürworter der UN-Charta die Zahl jener, die sie ablehnten, um das Zwanzigfache überstieg.32

Rückblickend neigen wir immer noch zur romantischen Verklärung des Geistes, der die Vereinten Nationen(16) hervorbrachte, so wie wir auch die Leistungen exzentrischer Idealisten wie Garry Davis(26) in einem romantischen Licht betrachten. Die UNO feiert den Augenblick, in dem die Konferenz von San Francisco(1) über ihre Charta abstimmte, noch heute: »Alle Delegierten erhoben sich und blieben stehen … und der Saal erbebte unter gewaltigem Applaus.«33 Politiker unserer Tage preisen noch immer nicht nur die »Ideale der Charta«, sondern auch die »Pioniere«, die diese Organisation »in der Asche des Krieges und des Völkermords« errichteten.34 Sogar Historiker neigen zur Rührseligkeit, wenn sie sich an die »Visionäre und Helden« erinnern, die diese Organisation aufbauten.35

Leider können die Helden des Friedens dem Ideal ebenso wenig gerecht werden wie die Kriegshelden. Die Motive der Gründer der Vereinten Nationen(18) waren nicht annähernd so edel, wie diese Personen selbst glauben wollten, und die Systeme, die sie schufen, dienten genauso oft eigennützigen, nationalistischen Zwecken wie selbstlosen, universalistischen Zielen. Ein flüchtiger Blick in die wortwörtlichen Niederschriften der Debatten, die in San Francisco(2) stattfanden, zeigt uns, dass nie ein Utopia auf der Tagesordnung stand.36 Tatsächlich hat es den Anschein, als wären einige Bestandteile des UNO-Systems absichtlich so gestaltet worden, dass sie fast alle Beteiligten enttäuschen mussten.

Zunächst einmal hatte die neue Organisation nicht vor, jenes Problem in Angriff zu nehmen, das Idealisten wie Davis(27) und Reves(7) als Ursache aller kriegerischen Konflikte ausgemacht hatten: den Nationalismus. Wenn überhaupt, so bestätigte die UNO den Nationalismus als grundlegende politische Philosophie unseres Lebens: Schon der Name der Organisation machte klar, dass sie nicht das Volk der Welt, sondern die Nationen der Welt vertrat.

Des Weiteren sagte die Charta unmissverständlich, dass einige dieser Nationen Vorrang vor den übrigen haben würden. Obwohl die UNO 55 Gründungsmitglieder hatte, erhielten die mächtigsten Nationen – die Vereinigten Staaten(166), die Sowjetunion(61), Großbritannien(86), Frankreich(72) und China(42) – besondere Rechte und Pflichten. Nur diese fünf Länder würden einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erhalten, der das Gehirn der neuen Organisation sein sollte. Und nicht nur das: Anders als alle anderen UNO-Mitglieder würden diese fünf Länder auch das Recht haben, ihr Veto gegen Beschlüsse einzulegen, mit denen sie nicht einverstanden waren.

In den Augen der tonangebenden Länder waren diese Regelungen durchaus sinnvoll – schließlich hatten sie im Krieg die Hauptlast des Kampfes getragen, und von ihnen würde die Weltgemeinschaft erwarten, dass sie die nötigen Ressourcen bereitstellten, um künftige Kriege zu verhindern. Aber der spätere kolumbianische Ministerpräsident Alberto Lleras Camargo(1) wies mit Recht darauf hin, es möge schon sein, dass nur die Großmächte stark genug seien, um den Frieden zu sichern – aber diese Mächte seien auch die einzigen, »die den Frieden und die Sicherheit der Welt bedrohen können«.37 Als auf der Konferenz von San Francisco(3) im Jahr 1945 das Vetorecht der fünf Großmächte zur Debatte gestellt wurde, brach ein Proteststurm unter den kleineren Ländern aus. Der ägyptische(7) Außenminister war einer von vielen, die nicht glauben konnten, dass Länder wie Großbritannien(87) und die Sowjetunion(62) tatsächlich in der Lage sein würden, in Angelegenheiten, die sie selbst betrafen, »zugleich als Richter und Geschworene« aufzutreten.38 Länder aus allen Weltregionen bezeichneten das Vetorecht als »unmoralisch«, als »unfair und unhaltbar« und erklärten, »die Flügel der Macht« müssten »gestutzt« werden. Doch schließlich gelang es den fünf mächtigen Ländern mit beträchtlichem Druck, eine Mehrheit der Delegierten gefügig zu machen: Sie erhielten sowohl ihre ständigen Sitze im Sicherheitsrat als auch die umfassende Vetomacht.39

Eine weitere Frage, die den Idealisten der Nachkriegszeit zu schaffen machte, betraf das in der UN-Charta festgeschriebene Verbot, in Angelegenheiten einzugreifen, »die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören«.40 Bei oberflächlicher Betrachtung war es durchaus einleuchtend, dass die Vereinten Nationen die Staaten daran hindern wollten, die Stabilität von Nachbarländern zu untergraben, um ein Vorgehen wie das Hitlers(11) vor dem Zweiten Weltkrieg(111) unmöglich zu machen. Aber das bedeutete auch, dass jedes Land seine eigenen Bürger unterdrücken konnte, ohne sich vor einem Eingreifen der Staatengemeinschaft fürchten zu müssen. Außerdem widersprach diese Bestimmung dem grundlegenden Prinzip eines für alle Völker geltenden Gesetzes. Stattdessen wurde der Grundsatz festgeschrieben, dass verschiedene Länder verschiedene politische Systeme, verschiedene Gesetze und verschiedene Freiheitsrechte haben würden. So erlaubte man der Sowjetunion(63), die Unterdrückung der baltischen(1) Länder als »innere Angelegenheit« zu betrachten, und die europäischen(98) Mächte konnten die Forderung, ihre Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen, mit der Begründung zurückweisen, das Ausland habe sich nicht in die Politik innerhalb ihrer Kolonialreiche einzumischen.

Die Unantastbarkeit der nationalen Souveränität in inneren Angelegenheiten sollte rasch furchtbare Auswirkungen haben. Die nationalen Minderheiten, deren Rechte vor dem Zweiten Weltkrieg(112) im System des Völkerbunds garantiert worden waren, wurden nun de facto der Gnade der Staaten ausgeliefert, in denen sie lebten. Als zwischen 1945 und 1947 Millionen Deutsche(70) und Angehörige anderer Minderheiten brutal aus ihren Heimatländern in Osteuropa(21) vertrieben wurden, blieben die Vereinten Nationen untätig. Damit wurde ein Präzedenzfall für Praktiken geschaffen, die seither furchtbares Elend verursacht haben: Ohne ein Mandat, eigenständig einzugreifen, mussten die Vereinten Nationen Genoziden in Ländern wie Kambodscha(1), Ruanda(2), Jugoslawien(6) und dem Sudan(1) tatenlos zusehen.41

Viele waren von den Vereinten Nationen enttäuscht, noch bevor die Tinte der Unterschriften unter der Charta getrocknet war. Der kanadische(7) Diplomat Escott Reid(1) berichtete, die gesamte Delegation seines Landes sei »zutiefst pessimistisch bezüglich der Zukunft der Vereinten Nationen« aus San Francisco(4) zurückgekehrt.42 Der amerikanische(167) Diplomat George Kennan(1) war überzeugt, die Formulierungen der Charta, die zahlreiche Deutungen zuließen, würden in der Zukunft zu Auseinandersetzungen führen, und der Brite Gladwyn Jebb(1) äußerte die Sorge, die Konferenz habe sich »zu hohe Ziele für diese böse Welt gesteckt«.43 Die Delegierten kleinerer Länder kehrten im Gefühl völliger Machtlosigkeit heim. Aber besonders groß war die Enttäuschung bei jenen Ländern und Kolonien, denen überhaupt keine Vertretung in der Konferenz zugestanden worden war. »Wir stehen an der Schwelle einer neuen Ära«, beklagte sich eine nigerianische(5) Zeitung, aber die UN-Charta habe Afrika(22) keineswegs von den Mächten befreit, die es beherrschten, sondern scheine dazu bestimmt, »den Kolonialvölkern die Gleichbehandlung in der neuen Weltordnung vorzuenthalten«.44

Für Idealisten wie Garry Davis(28) und Emery Reves(8) war die Gründung der Vereinten Nationen der klarste Ausdruck all dessen, was in der Welt im Argen lag. Insbesondere Reves beklagte sich bitterlich über die im UN-System verwurzelten »Irrtümer«. Er vermutete von Anfang an, dass die engstirnigen nationalen Interessen jede Bemühung um das gemeinsame Wohl im Keim ersticken würden und dass die Liebe zur »Selbstbestimmung« lediglich dazu führen werde, dass die alten Großreiche in immer kleinere souveräne Einheiten zerfallen würden. Aber vor allem spottete er über ein heuchlerisches System, das offenkundig auf die Wünsche der Mächtigen zugeschnitten war. Länder wie die Vereinigten Staaten(168) und die Sowjetunion(64), erklärte Reves, würden in den Vereinten Nationen fast immer ihren Willen durchsetzen, denn: »Alle Großmächte betragen sich wie Gangster. Und alle kleinen Nationen betragen sich wie Prostituierte.«45

Garry Davis(29) beschränkte sich nicht auf verbale Kritik. Im Jahr 1948 gelang ihm eine aufsehenerregende Aktion; er schlich sich in eine Sitzung der UNO-Vollversammlung ein und las den Delegierten die Leviten: Die Vereinten Nationen repräsentierten »das Volk der Welt« nicht und sollten aufhören, die Menschheit »mit dieser Illusion politischer Autorität zu täuschen«. Die UNO fördere keineswegs den Weltfrieden, erklärte er: »Die von Ihnen vertretenen souveränen Staaten spalten uns und führen uns in den Abgrund des totalen Krieges.« Zur Belohnung für seinen Auftritt wurde Davis aus dem Gebäude geschleppt und verbrachte den Rest des Tages in Polizeigewahrsam. (Im Lauf seines Lebens machte er viele solche Erfahrungen.)46

Aus Davis(30)’ Worten spricht das Gefühl, betrogen worden zu sein. So wie das Komitee französischer(73) Intellektueller, die ihn unterstützten – und Millionen Menschen in aller Welt, die seine Aktionen in den Zeitungen verfolgten –, hatte Davis in den vorangegangenen Jahren große Opfer gebracht und fand die Ungewissheit der Nachkriegswelt kaum erträglich(31). So viele Menschen hatten im Zweiten Weltkrieg(113) für ein Ideal gekämpft, und als Belohnung erhielten sie einen Kompromiss.

EINIGE UNAUFFÄLLIGE ERFOLGE Rückblickend ist schwer vorstellbar, dass es möglich gewesen wäre, etwas anderes – oder zumindest etwas Besseres – aus den Vereinten Nationen zu machen. Die Vorstellung, die Völker der Welt könnten den Nationalismus für den Traum von einer geeinten Menschheit aufgeben, war stets reines Wunschdenken: Es war kaum zu erwarten, dass sich Menschen, die im Zweiten Weltkrieg(114) für ihre Länder gekämpft hatten, mehrheitlich der von Garry Davis(32) angeführten Weltbürgerbewegung anschließen und ihre Nationalität aufgeben würden. Genauso illusorisch war die Vorstellung, die mächtigsten Nationen könnten jemals bereit sein, ihre Souveränität aufzugeben und sich einer Weltregierung zu unterwerfen. Aber besonders weltfremd war die Hoffnung, der kommunistische(44) Ostblock(22) und der kapitalistische Westen(8) würden auch nach dem Sieg über ihren gemeinsamen Feind weiter zusammenarbeiten. Das Kommunistische Manifest(45) forderte zur Zerstörung des Kapitalismus(2) auf und betrachtete eine Reaktion des Kapitalismus als unvermeidlich. Wenn es eine geeinte Welt geben sollte, so war darin nur Platz für ein System.

Also wurden Kompromisse geschlossen, die es den Vereinten Nationen ermöglichten, durch das restliche 20. Jahrhundert zu stolpern. In diesen Jahren bewahrheiteten sich fast alle Befürchtungen, die 1945 geäußert worden waren. Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats führten unter dem Schutz ihres Vetorechts zur hilflosen Empörung der Mehrheit der UNO-Mitglieder weitere Kriege: Briten(88) und Franzosen(74) reagierten im Jahr 1956 mit einer Invasion auf die Suezkrise(1), die Sowjetunion(65) schickte ihre Truppen nach Ungarn(8), in die Tschechoslowakei(14) und nach Afghanistan(2) (1956, 1968 beziehungsweise 1979), und die Vereinigten Staaten(169) ließen sich in den achtziger Jahren auf eine Reihe fragwürdiger Abenteuer in Zentralamerika(2) ein. Das Muster hat sich im 21. Jahrhundert mit der von den USA angeführten Invasion des Irak(3) (2003), der russischen Invasion Georgiens(1) (2008) und der russischen Annexion der Krim(1) (2014) fortgesetzt. All diese Interventionen fanden ohne Zustimmung des Sicherheitsrats statt, wurden von diesem jedoch auch nicht gerügt. Wenn es hart auf hart kommt, steht es den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats mehr oder weniger frei, einen Krieg zu beginnen, wann immer sie möchten.47

Und dasselbe gilt für ihre Verbündeten. Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats setzen ihr Vetorecht regelmäßig ein, um Sanktionen gegen Staaten zu verhindern, die unter ihrem Schutz stehen. Die Sowjetunion(66) hielt stets eine schützende Hand über Kuba(2), China(43) hält weiterhin Nordkorea(2) den Rücken frei, und die Vereinigten Staaten(171) verhindern jegliche Sanktionen gegen Israel(6). Unabhängig davon, ob diese Art der Schutzherrschaft im einzelnen Fall berechtigt ist oder nicht, hat sie ein System hervorgebracht, in dem zweierlei Maß angelegt wird, wenn es darüber zu entscheiden gilt, ob ein Land für einen Friedensbruch bestraft werden soll.

Dass es den Vereinten Nationen nicht gelungen ist, für dauerhaften Frieden in der Welt zu sorgen, bedeutet jedoch nicht, dass sie als unnütz zu betrachten wäre. Sieht man von ihrer Unterordnung unter die Interessen der Großmächte ab, so hat die UNO einige durchaus beeindruckende Erfolge vorzuweisen. Beispielsweise trug sie dazu bei, Indonesien(8) und vielen afrikanischen(23) Staaten den Weg in die Unabhängigkeit zu ebnen. Ihr ist es gelungen, fragile Waffenstillstandsvereinbarungen auf dem indischen(22) Subkontinent, im Nahen Osten(8) und auf Zypern(1) durchzusetzen. Sie ging in den fünfziger Jahren entschlossen gegen die kommunistische(46) Aggression in Korea(5) vor, und in den neunziger Jahren zwang sie den irakischen(4) Diktator Saddam(2) Hussein, seine Truppen aus dem besetzten Kuwait(2) abzuziehen.

Selbst das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder hat dem Frieden nicht immer geschadet. Zumindest hat es sich als Überdruckventil erwiesen, das den Großmächten ermöglicht hat, sich weiter am internationalen Gespräch zu beteiligen, anstatt vom Verhandlungstisch aufzustehen, wie es im Völkerbund so oft geschah. Die UNO mag nicht immer erfolgreich gewesen sein, wenn es darum ging, regionale Kriege zu vermeiden, aber sie hat ihren Beitrag zur Vermeidung eines weiteren Weltkriegs geleistet.

In anderen Bereichen haben die Vereinten Nationen bedeutsame Erfolge gefeiert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versorgte die UNO Millionen Flüchtlinge: Sie gab ihnen zu essen, kleidete sie ein, fand neue Unterkünfte für sie und erfüllte ihre psychologischen Bedürfnisse. Die UNO-Agenturen haben dabei geholfen, die Pocken auszurotten, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, die Bildung auszuweiten und die Rechte der Frauen in aller Welt zu fördern. Wann immer wir ins Ausland telefonieren, einen internationalen Brief aufgeben oder in ein anderes Land reisen, tun wir dies dank internationaler Vereinbarungen, die von Behörden der Vereinten Nationen vermittelt und geregelt wurden. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Mag sein, dass diese Fortschritte weniger imponierend wirken als die Bemühungen um den Weltfrieden, aber sie gehören ebenfalls zu der Suche nach jener geeinten Welt, die Idealisten wie Garry Davis(33) und Emery Reves(9) inspirierte.

Heute fällt an den Vereinten Nationen vor allem der Anachronismus des Sicherheitsrats auf. Schon im Jahr 1945 war klar, dass Großbritannien(89) und Frankreich(75) nie wieder so großen Einfluss wie vor dem Zweiten Weltkrieg(115) erlangen würden, und heute spielen sie global keine wichtigere Rolle als Dutzende andere Länder. Russland(67)(7) ist nur noch ein Schatten des furchteinflößenden Riesen, der es als Hegemon der Sowjetunion war, und China(44) übt zwar großen wirtschaftlichen Einfluss aus, hat sich jedoch noch nicht zu einer politischen Supermacht gemausert. Nur die Vereinigten Staaten(172) haben noch eine ähnlich dominierende Stellung inne wie zu der Zeit, als die Vereinten Nationen entstanden. Auf der anderen Seite müssen sich Wirtschaftsmächte wie Deutschland(71) und Japan(111) sowie aufstrebende Länder wie Indien(23) und Brasilien(6) einem System unterwerfen, das ihren wahren Wert nicht anerkennt. Die »eine Welt«, die wir im Jahr 1945 schufen, konservierte die Machtverhältnisse am Ende des Zweiten Weltkriegs. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen bis auf Weiteres mit diesem System leben.

Selbst den standhaftesten Verteidigern der Vereinten Nationen ist klar, dass dieses System absurd ist. Wie es ein internationaler Jurist ausgedrückt hat:

Nehmen wir an, jemand sagte zu Ihnen: »Wir wünschen uns eine Organisation, welche die Welt regieren kann. Aber … sie soll kein eigenes Budget und keinerlei Befugnis zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen haben. Sie ist auf die militärische oder finanzielle Unterstützung durch ihre Mitgliedstaaten angewiesen. Ihre Satzung soll ein Kompromiss sein, der widersprüchliche Grundsätze unter einen Hut bringt, um die Zustimmung aller Beteiligten zu bekommen, und ihre Mitarbeiter müssen sich in einer Vielzahl von Sprachen verständigen. Was denken Sie: Kann das funktionieren?« Sie würden antworten: »Soll das ein Witz sein?« Ich denke, es ist ein Wunder, wie viel diese Organisation bewirken kann. Ich bin ein entschiedener Befürworter der Vereinten Nationen, und zwar einfach deshalb, weil wir nichts Besseres haben. Aber natürlich muss die Organisation verbessert werden.48

Der Mann, der das sagte, ist ein Amerikaner(173) ungarischer(9) Herkunft, der mehr als ein halbes Jahrhundert im UN-System arbeitete. Mit seiner Geschichte werden wir uns im folgenden Kapitel beschäftigen.