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Die USA(192)

Cord Meyer(1) war ein vorbildlicher Amerikaner(193). Als sein Land inden Krieg eintrat, folgte Meyer dem Ruf zu den Waffen. Er beeilte sich, sein Studium abzuschließen, um ins Marine Corps eintreten zu können. Er war jung, intelligent, begeisterungsfähig und erpicht darauf, sich in den Dienst einer Sache zu stellen. Er(2) war überzeugt, dass Amerika die Pflicht habe, den Faschismus zu bekämpfen, und dass es nur richtig sei, dass amerikanische Soldaten an vorderster Front an diesem Kampf teilnahmen. An dem Tag, an dem er in den Krieg aufbrach, vertraute er seinem Tagebuch die Gedanken an, die ihn beschäftigten: »Es schien mir, dass wir, die Jungen und Starken, als Vorkämpfer und Verteidiger der Menschen auf den Feldern und überall in diesem weiten Land auszogen, um unser Erbe gegen den unmenschlichen Invasor zu verteidigen.« Im Grunde wusste er, dass diese Gefühle nicht vollkommen der Realität entsprachen, sondern einfach Ausdruck eines zeitlosen Ideals waren. Dennoch ließ er sich von ihnen mitreißen.1

Es dauerte nicht lange, bis ihn die brutale Realität des Krieges einholte. Im Juli 1944 nahm Meyer(3) an der Schlacht um Guam teil. Als er in einem Erdloch Schutz suchte, landete in nächster Nähe eine japanische(128) Handgranate. Die Explosion zerriss sein linkes Auge und fügte ihm so schwere Verletzungen zu, dass der Bataillonsarzt ihn in die Liste der »im Kampf Gefallenen« eintrug. Es wurde sogar ein Telegramm mit der niederschmetternden Mitteilung über seinen(4) Tod an seine Eltern geschickt, die erst mehrere Tage später erfuhren, dass ihr Sohn in Wahrheit durch eine Bluttransfusion gerettet worden war. Meyer wurde auf einem Lazarettschiff nach Amerika zurückgebracht, wo er mit einem Purple Heart und einem Bronze Star ausgezeichnet wurde und ein Glasauge eingesetzt bekam. Als sein erstes Abenteuer im Dienst einer Sache endete, war er(5) 24 Jahre alt.

Am Ende jenes Jahres wurde Meyer(6) eingeladen, sich der amerikanischen(194) Delegation bei der United Nations Conference in San Francisco(5) anzuschließen. Der offizielle Delegierte Harold Stassen(1) glaubte, ein dekorierter Kriegsveteran werde sich in seinem Team gut machen. Meyer(7) ergriff die Gelegenheit beim Schopf. Er war überzeugt, dass sich in San Francisco eine einzigartige Chance bot, »auf den Ruinen des Krieges … eine friedliche Weltordnung« zu errichten. Er wollte seinen Beitrag zu diesem historischen Unterfangen leisten.

Aber die Desillusion ließ nicht lange auf sich warten:

(8)Der Zerstörung, des Leids und des Sterbens überdrüssig, sah ich mit wachsender Sorge, wie die Struktur der Vereinten Nationen Gestalt annahm. Es wurden viele schöne Worte über die Notwendigkeit gemacht, den Frieden zu sichern … Aber es wurde rasch klar, dass weder die Vereinigten Staaten(195) noch die Sowjetunion(76) bereit waren, ihre stolze nationale Unabhängigkeit und Macht zu opfern, um einen wirklichen Frieden zu sichern, der mehr sein würde als ein kurzer bewaffneter Waffenstillstand vor dem nächsten globalen Konflikt. Der so teuer erkaufte Sieg auf dem Schlachtfeld wurde am Konferenztisch weggeworfen … Ich verließ San Francisco(6) in der Überzeugung, dass der Dritte Weltkrieg unvermeidlich war, wenn die Vereinten Nationen nicht in naher Zukunft beträchtlich gestärkt würden(9).2

Diese Sorge weckte erneut Meyers(10) Sendungsbewusstsein. Wenn die Vereinten Nationen der Aufgabe nicht gewachsen waren, musste er sich dafür einsetzen, sie zu stärken. Also widmete sich Meyer erneut einer großen Aufgabe. Diesmal bestand das Ziel darin, »eine gerechtere und friedlichere Welt« zu errichten.3 Er begann, Artikel über die Mängel der UNO zu schreiben und Lösungen dazu vorzuschlagen, wie die Organisation gestärkt werden konnte. Er(11) schloss sich der Bewegung für eine Weltregierung an und gründete eine ihrer wichtigsten Organisationen, die United World Federalists. In den folgenden zwei Jahren tourte er(12) unermüdlich durch die Vereinigten Staaten(196), um für seine Idee zu werben, Geld zu sammeln und vor den Gefahren eines neuen Rüstungswettlaufs mit der Sowjetunion(77) zu warnen.

Meyers(13) größte Sorge galt der Zerstörungskraft der Atombombe(40). Diese Waffe konnte die Welt seiner Meinung nach in ein dunkles Zeitalter zurückwerfen. Er war fest davon überzeugt, dass die Vereinigten Staaten(197) als einziges Land, das die Atombombe besaß, die Pflicht hatten, die Welt vor einer neuen Katastrophe zu bewahren. »Wer die Macht hat, der hat auch die Verantwortung«, schrieb er. Die Vereinigten Staaten müssten sich das Prinzip der Weltregierung aneignen und es »in gutem Glauben und ohne Androhung von Zwang« verfechten. Nur so könne die Sowjetunion(78) zum Entgegenkommen bewegt werden.4

Einmal mehr sollte Meyer(14) enttäuscht werden. So viel Leidenschaft und Energie er auch in sein Projekt steckte, es wurde bald klar, dass sich weder die amerikanische(198) Regierung noch das amerikanische Volk seinem Kreuzzug anschließen würden. Auch deutete nichts darauf hin, dass die Sowjetunion(79) Interesse an seinem Vorhaben hatte: Stattdessen bezeichneten ihn(15) die sowjetischen(80) Staatsmedien als »Feigenblatt des amerikanischen Imperialismus«.5 Im Herbst 1949 begann seine Zuversicht zu bröckeln. Er fühlte sich »nutzlos« und »wirkungslos« und fing an, an seinen Argumenten zu zweifeln, hinter denen er mittlerweile einen »unmenschlichen Fanatismus« vermutete. »Meine wiederholten Warnungen vor einer nahenden atomaren(24) Katastrophe hallten hohl in meinem Kopf wieder, und ich entwickelte eine Abneigung gegen den Klang meiner Stimme, während ich die Rettung durch ein föderalistisches Weltsystem versprach, an das ich selbst nicht mehr wirklich glaubte.« Desillusioniert und ausgebrannt, trat er(16) als Präsident der United World Federalists zurück und zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück.6 

In den folgenden anderthalb Jahren änderte sich seine(17) Stimmung erneut. Er verbrachte seine Zeit damit, über die Verschlechterung der Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten(199) und der Sowjetunion(81) und das Wesen des stalinistischen(6) Kommunismus(52) nachzudenken. Er hatte die Praktiken der Kommunisten persönlich kennengelernt, als sie versucht hatten, das American Veterans Committee – ein weiteres von Meyers(18) Projekten – zu infiltrieren und zu unterwandern, und dabei hatte er die beunruhigende Erfahrung gemacht, dass sie sehr entschlossen sein konnten. Anfang der fünfziger Jahre war er zu der Erkenntnis gelangt, dass nicht länger das »stolze Beharren auf der nationalen Unabhängigkeit«, sondern der Kommunismus die größte Bedrohung für den Weltfrieden war. Mit einem bitteren Unterton erklärte er rückblickend, es habe nie eine Rolle gespielt, wie viel »guten Glauben« die Vereinigten Staaten an den Tag legten: Die Kommunisten würden erst innehalten, wenn sie die Welt beherrschten. Also entschloss er(19) sich im Jahr 1951, sich einem neuen Kreuzzug anzuschließen: Er trat in die CIA ein und widmete sich dem Kampf gegen den Kommunismus. Anders als die anderen Anliegen, die ihn bis dahin angetrieben hatten, sollte ihn dieses für den Rest seines beruflichen Lebens beschäftigen(20).7

Abb. 28: Der junge Cord Meyer(21) im Gespräch mit Albert Einstein(6), mit dem er 1948 über die Haltung der Sowjetunion(82) gegenüber einer Weltföderation diskutierte.

Einige Personen in seiner Umgebung beschrieben Meyers(22) Wandlung von einem Vorkämpfer des Weltfriedens zu einem engagierten Gegner des Kommunismus(53) als Betrug an seinen ursprünglichen liberalen Idealen: »Er wurde zum kalten Krieger«, erklärte ein ehemaliger Freund.8 Meyer selbst verstand seine Wandlung als Reifung eines Idealisten zum Realisten. Er(23) gab seine Hoffnung auf Frieden in der Welt oder seinen Traum von einem wirklich demokratischen(6) System der internationalen Zusammenarbeit nie auf. Aber Vorrang hatte jetzt der Schutz der Vereinigten Staaten(200) und folglich der übrigen Welt vor der Bedrohung durch den sowjetischen(83) Kommunismus. »Ich gelangte nur langsam und widerstrebend zu der Erkenntnis, dass Amerika in der Sowjetunion(84) ein gefährlicher Widersacher erwachsen war«, schrieb er fast 20 Jahre nach seinem Eintritt in die CIA. »Damals wusste ich nicht, was ich heute weiß. Ich lernte es auf schmerzhafte Art.(24)«9

AMERIKANISCHE TRÄUME UND SOWJETISCHER BETRUG In der amerikanischen(201) Gesellschaft gibt es seit jeher utopische Neigungen. Die Nation, die ihren Ursprung im Idealismus der Pilgerväter hat, die Nation, deren Selbstverständnis auf der Wahrheit beruht, dass alle Menschen gleich geschaffen sind und die sich während ihrer gesamten bisherigen Geschichte als »neue Welt« der Freiheit, des Strebens nach Glück und der Gerechtigkeit betrachtet hat, zog im Jahr 1941 nicht für wirtschaftliche Vorteile oder Gebietsgewinne in den Krieg, sondern um einen Traum zu verteidigen. Amerika war das Land der Freien. Als die Japaner(129) Pearl Harbor(7) bombardierten, griffen sie in den Augen der Amerikaner nicht nur ihr Land, sondern die Freiheit an sich an.

In den zwei Jahrzehnten vor diesem »Tag der Infamie« war die amerikanische(202) Außenpolitik von der Illusion geprägt gewesen, das Land könne seine Träume von Freiheit und Glück ungehindert von Verwicklungen in die internationalen Konflikte in Isolation verwirklichen. Der Krieg zerstörte diesen Glauben so vollkommen, dass dieser sich nie wieder erholte. Sogar frühere Isolationisten wie der republikanische Senator Arthur Vandenberg(1) gelangten zu dem Schluss, dass die Freiheit Amerikas nicht sicher war, solange in anderen Teilen der Welt Tyrannei und Ungerechtigkeit gedeihen konnten. »Pearl Harbor(8)«, erklärte Vandenberg nach dem Krieg, »machte den meisten von uns klar, dass der Weltfrieden unteilbar ist(2)10 Als die Amerikaner zu den Waffen griffen, taten sie es mit der Absicht, der ganzen Welt das Geschenk der Freiheit zu bringen. Die von Roosevelt(7) definierten vier Freiheiten – Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht – waren kein bloßes Mantra: Sie wurden ein Manifest, das zuerst in die Atlantikcharta und später in die Charta der Vereinten Nationen einfloss.

Als der Krieg im Jahr 1945 gewonnen war, hatte es für einen Augenblick den Anschein, als könnte dieser utopische Traum wahr werden. Die Vereinigten Staaten(203) standen auf dem »Gipfel der Welt« und besaßen »die größte Kraft und die größte Macht, die der Mensch je erreicht hat«.11 Alle ihre Feinde lagen am Boden, und ihre Verbündeten hatten sich unter amerikanischer Führung zusammengetan, um eine Reihe globaler Institutionen zu errichten, welche die Bürgerrechte, die Menschenrechte(10), wirtschaftliche Reformen und die demokratische(7) Freiheit fördern und auf diese Art den Krieg unmöglich machen sollten.

In den letzten Tagen des Kriegs hofften und glaubten viele Amerikaner(204) immer noch, dass die Sowjetunion(86) mit Unterstützung der neuen internationalen Institutionen dazu gebracht werden könne, diese Ideale ebenfalls anzuerkennen. Cord Meyer(25) war nicht allein mit der Überzeugung, dass die Kommunisten(54) den Wert des amerikanischen Traums erkennen würden, sofern man ihnen mit Toleranz und Verständnis begegnete. Ein Großteil der Medien hatte sich so an das Bild der »heldenhaften Verbündeten« der USA gewöhnt, dass sie kaum freundliche Worte für Diplomaten fanden, die Zweifel an den Absichten der Sowjetunion äußerten.12 Auch die meisten Politiker beider Großparteien waren gerne bereit, der Sowjetunion einen Vertrauensvorschuss zu geben. »[W]ir brauchen uns vor Rußland nicht zu fürchten«, hatte Wendell Willkie(8) seinen Landsleuten im Krieg erklärt. »Wir müssen lernen, mit Rußland auch nach dem Krieg zusammen zu arbeiten.«13 Kriegsminister Henry Stimson(1) schlug sogar vor, die USA sollten ihre atomaren(25) Geheimnisse mit der Sowjetunion teilen. »Wenn ich in meinem langen Leben etwas gelernt habe«, schrieb er im September 1945 an Truman(9), »so ist es, dass man einen Mann nur vertrauenswürdig machen kann, indem man ihm vertraut.«14 Diese Worte enthalten ein gerüttelt Maß an Idealismus und Blauäugigkeit, aber sie verraten auch eine gewisse Arroganz. Männer wie Meyer und Stimson gingen einfach davon aus, dass andere Länder dieselben Ziele haben mussten wie die Vereinigten Staaten, und waren tatsächlich überrascht – und erbost –, als sie feststellen mussten, dass es nicht so war.

Leider tat die sowjetische(87) Führung wenig, um Vertrauen zu wecken. Bei Kriegsende waren die Westalliierten bereits zu der Erkenntnis gelangt, dass es extrem schwierig war, mit den Sowjets(88) zusammenzuarbeiten. Der sowjetische(89) Außenminister Wjatscheslaw Molotow(1) wurde von seinen Landsleuten nur »Steinarsch« genannt, weil er stundenlang am Konferenztisch sitzen konnte, ohne auch nur einen Zollbreit nachzugeben, und seinem Untergebenen Andrei Gromyko(2) gab die amerikanische(207) Presse bald den Spitznamen »Mr. Njet«.15 Die amerikanischen Beamten in Wien(4) und Berlin(5) mussten feststellen, dass es fast unmöglich war, einen gemeinsamen Nenner mit ihren sowjetischen(90) Pendants zu finden, und sie waren verblüfft über die Fähigkeit der sowjetischen(91) Besatzungsbehörden, »beliebige technische Gründe für die Verletzung von Vereinbarungen zu finden«.16

Trotz all ihres Reichtums, ihrer militärischen Stärke, ihres Monopols auf die Atombombe(41) und ihrer politischen Vormachtstellung wirkten die Vereinigten Staaten(208) angesichts dieser extremen Unnachgiebigkeit sonderbar machtlos. Beispielsweise machte in Washington(7) nach der Konferenz der »Großen Drei« in Jalta(1) das Gerücht die Runde, »Präsident Roosevelt(8) habe gegenüber Stalin(7) in fast jedem Punkt nachgegeben« – und den Mitarbeitern des Präsidenten fiel es sehr schwer, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass dieses Gerücht nicht der Wahrheit entsprach.17 Bei der Konferenz in Bretton Woods(11), wo die sowjetische(92) Delegation ganz offen »alle Vorteile akzeptierte und alle Verpflichtungen verweigerte«, reagierten Delegierte aus aller Welt erbost darauf, dass Briten(93) und Amerikaner wiederholt ihre Positionen aufgaben, sobald sich die Sowjets(93) unnachgiebig zeigten. Der belgische(6) Delegierte Georges Theunis(1) konnte sich nicht zurückhalten und schrie die britischen Wirtschaftsexperten an: »Es ist eine Tragödie. Die Amerikaner geben den Russen(8) jedes Mal nach. Und ihr Briten seid genauso schlimm. Ihr werft euch vor ihnen auf die Knie. Wartet nur ab. Ihr werdet sehen, was ihr dafür bekommt.«18

Die ersten amerikanischen(209) Regierungsvertreter, die erkannten, welche Bedrohung die Sowjetunion(94) für die Welt darstellte, waren die Diplomaten, die nach Russland(9) und Osteuropa(28) geschickt wurden. Nach Aussage des amerikanischen(210) Botschafters in Polen(18), Arthur Bliss Lane(1), hatten die Sowjets nie die Absicht, das in Jalta(2) und Potsdam(1) gegebene Versprechen zu halten, in dem Land freie Wahlen abzuhalten: Die Berichte, die er aus Warschau(6) nach Washington(8) schickte, enthalten zahlreiche Hinweise auf »vorgetäuschte Wahlen«, »terroristische(6) Aktivitäten« und »sowjetische(95) Maßnahmen gegen die Redefreiheit und andere Grundrechte«.19 Averell Harriman(1), der amerikanische(211) Botschafter in Moskau(3), wurde noch deutlicher. »Stalin(8) bricht seine Zusagen«, warnte er den Präsidenten bei einem Besuch in Washington(9) im April 1945. Harriman ging sogar so weit, eine neue »barbarische Invasion« Europas(106) vorauszusagen(2).20

Die Diplomaten in anderen Teilen Osteuropas(29) gelangten zu einer ähnlichen Einschätzung. In Rumänien(6) klagten britische(94) und amerikanische(212) Mitglieder der Allied Control Commission, sie würden »derart zusammengepfercht, dass es an eine Internierung grenzt«, während sich die Sowjets(96) daran gemacht hätten, die rumänische Regierung zu zerschlagen und durch kommunistische(55) Marionetten zu ersetzen.21 Die nach Bulgarien(1) entsandten amerikanischen Diplomaten beklagten sich über ihre »Machtlosigkeit« angesichts des von der Sowjetunion unterstützten Terrors(7): Sie durften sich nicht öffentlich äußern, erhielten keinen Zugang zu wichtigen Informationen und mussten tatenlos zusehen, wie eine von der Sowjetunion unterstützte Staatspolizei eingesetzt wurde, um »die Bevölkerung zu terrorisieren und zu kontrollieren«.22 Unterdessen gestand der tschechoslowakische(17) Außenminister Jan Masaryk(1) im Gespräch mit seinem amerikanischen Amtskollegen, dass er der Verzweiflung nahe sei, weil ihn die Sowjets unablässig bedrängten, um ihn zur Unterwerfung unter Moskau(4) zu zwingen: »Man kann auf den Knien sein, und es genügt den Russen(10) immer noch nicht.«23

Es verging kaum ein Tag, ohne dass neue Berichte über sowjetische(97) Verstöße gegen die Bürger- und Menschenrechte(11) eintrafen: Rotarmisten vergewaltigten Millionen deutsche(89) Frauen, osteuropäisches(30) Eigentum wurde in großem Stil geplündert, es entstanden geheime Polizeieinheiten, katholische(8) Priester wurden verfolgt, Oppositionspolitiker eingeschüchtert, ehemalige Führer des Widerstands hingerichtet, Zivilisten massenhaft deportiert … Mit Entsetzen berichteten amerikanische(213) Beamte über zahlreiche derartige Vorkommnisse, und auch die amerikanische Presse begann, sich damit zu beschäftigen.

Bald war klar, dass jeder, der sich in Osteuropa(31) für Freiheit und Demokratie(8) einsetzte, zum Ziel der Kommunisten(56) geworden war. Der bulgarische(2) Oppositionsführer Nikola Petkow(1) wurde unter falschen Anschuldigungen verhaftet und hingerichtet. Der polnische(19) Oppositionsführer Stanisław Mikołajczyk(1) sah sich zur Flucht gezwungen, weil er um sein Leben fürchten musste; dasselbe galt für den ungarischen(11) Ministerpräsidenten Ferenc Nagy(1) und seinen rumänischen(7) Amtskollegen Nicolae Rădescu(1). Jan Masaryks(2) Karriere endete 1948 abrupt, als er unter mysteriösen Umständen im tschechoslowakischen(18) Außenministerium aus einem Fenster »fiel«. Die Amerikaner(214) hatten geglaubt, derartigen Vorkommnissen in Europa(107) ein Ende gemacht zu haben. Der Gedanke, dass all das von Neuem begann, war unerträglich.

Noch verstörender war jedoch der Verdacht, dass die sowjetische(98) Einflussnahme, ja sogar die sowjetische(99) Subversion begonnen hatte, die Vereinigten Staaten(215) selbst zu destabilisieren. 1945 wurde der erste in einer Reihe von Spionageskandalen publik, die Nordamerika(3) in den folgenden Jahren erschüttern sollten. Nachdem ein in der sowjetischen(100) Botschaft in Ottawa(1) stationierter Verschlüsselungsexperte namens Igor Gusenko(1) übergelaufen war, gab er die Namen von nicht weniger als zwanzig Kanadiern(8) und drei Briten(95) preis, die als Spione für die Sowjetunion(101) arbeiteten. Viele dieser Personen waren Regierungsmitarbeiter. Bald machten Gerüchte über die Existenz ähnlicher Spionageringe in der amerikanischen Verwaltung die Runde, und wie sich herausstellen sollte, entsprachen einige dieser Gerüchte den Tatsachen. Im Juli 1948 sagte eine ehemalige sowjetische(102) Agentin namens Elizabeth Bentley(1) vor dem Ausschuss des Repräsentantenhauses für unamerikanische Aktivitäten aus und nannte öffentlich die Namen von 32 Spionen. Unter diesen Personen waren mehrere Mitarbeiter der Regierung Roosevelt(9) einschließlich des Mannes, der für die Konferenz von Bretton Woods(12) die Grundlagen der neuen internationalen Wirtschaftsordnung ausgearbeitet hatte: Harry Dexter White(4). Kurze Zeit später enttarnte ein ehemaliger Kommunist(57) namens Whittaker Chambers(1) weitere sowjetische(103) Agenten, die hochrangige Posten bekleideten, darunter Alger Hiss(1), der eine tragende Rolle beim Aufbau der Vereinten Nationen und bei der Organisation der Konferenz von Jalta(3) gespielt hatte. Weitere Skandale folgten. 1950 wurden Julius und(1) Ethel Rosenberg(1) angeklagt, weil sie atomare(26) Geheimnisse gestohlen und an die Sowjetunion weitergeleitet hatten. Eine Weile hatte es den Anschein, als lauerten überall Spione.

Der großen Mehrheit der Amerikaner(216), insbesondere jener, die wie Cord Meyer(26) immer an die guten Absichten der Sowjetunion(104) hatten glauben wollen, ging dieser Betrug zu weit. Nach dem Prozess gegen Alger Hiss(2) fragte sich Meyer(27): »Wem konnte man noch vertrauen?«24 Andere gingen dazu über, die Sowjets mit Beschimpfungen zu überhäufen: »Die Russen(11) sind kolossale Lügner und Schwindler«, lautete die Schlagzeile einer ganzseitigen Warnung in der New York Herald Tribune(1).25 Bill Mauldin(1), der im Krieg in seinen Karikaturen für Stars und Stripes den Meinungen und Gedanken von Millionen amerikanischen Soldaten Ausdruck verliehen hatte, fasste die allgemeine Verbitterung Jahre später in einem Interview zusammen: »Ich dachte, dass sie möglicherweise einfach nicht verstanden, wie wir fühlen. Wenn jemand im Krieg dein Verbündeter war, fühlst du dich ihm emotional verbunden. Die Russen genossen in diesem Land großes Wohlwollen. Aber sie hatten kein Interesse daran, unsere Freunde zu sein. Sie wollten uns nur fertigmachen.«26

Dieses Gefühl, hintergangen zu werden, wurden die Amerikaner(217) bis zum Ende des Jahrhunderts – und darüber hinaus – nicht mehr los. Sogar einige Historiker konnten nicht umhin, sich dazu zu äußern: »Nie zuvor stahl ein Land so viele politische, diplomatische, wissenschaftliche(48) und militärische Geheimnisse bei einem anderen«, schrieb ein amerikanischer Historiker im Jahr 2003. »Diese Spionageaktivitäten entsprachen der Plünderung der europäischen(108) Kunstschätze durch die Nationalsozialisten(50). Der Unterschied war, dass wir die Sowjetunion(105) im Geist der Freundschaft und Zusammenarbeit dazu eingeladen hatten.«27

DIE AMERIKANISCHE REAKTION Angesichts dieser Geschehnisse mussten sich die Amerikaner(219) einige unangenehme Fragen stellen. Wie war es möglich, dass die Vereinigten Staaten, wenn sie tatsächlich das mächtigste Land der Welt waren, anscheinend nicht imstande waren, auf die sowjetischen(106) Provokationen zu reagieren? Und was noch wichtiger war: Warum schienen sie unfähig, den stetigen Vormarsch des Kommunismus(58) aufzuhalten? In den ersten Nachkriegsjahren geriet eine Reihe von mittel- und osteuropäischen(32) Ländern unter kommunistische Herrschaft. Auch in China(47) endete der Bürgerkrieg mit dem Sieg der von Mao Tse-tung angeführten Roten Armee(2), sodass Ende des Jahres 1949 ein Fünftel der Weltbevölkerung – mehr als eine halbe Milliarde Menschen – unter kommunistischen Regimen lebte.28 Was nützten den Vereinigten Staaten ihre Macht und ihr Wohlstand, wenn sie nicht fähig waren, die Welt vor dem zu bewahren, was sie nur als Unterdrückung und Tyrannei betrachten konnten? Und was nutzte ihnen ihr Monopol auf die Atombombe(42), wenn sie nicht mit dem Einsatz dieser Waffe drohen konnten, um ihre Ziele zu erreichen?

All das passte weder zum heroischen Selbstbild der Amerikaner(220) nach dem Zweiten Weltkrieg(125) noch zu dem, was ein zeitgenössischer Politikwissenschaftler als »Illusion der amerikanischen Omnipotenz« bezeichnete.29 Anstatt sich mit der enttäuschenden Realität abzufinden, dass sogar die Macht der USA an Grenzen stieß, zogen es viele Amerikaner vor, sich einzureden, dass die Enttäuschung ihrer Hoffnungen und Bestrebungen auf die Unfähigkeit ihrer Regierung – oder schlimmer noch: auf einen von der Sowjetunion(107) orchestrierten heimtückischen Angriff auf diese Regierung – zurückzuführen war. Sie begannen zu glauben, dass die zahlreichen Spionageskandale lediglich das Symptom eines sehr viel tiefer verwurzelten Übels waren: der Zersetzung der amerikanischen Gesellschaft von innen heraus. Diese Vorstellung breitete sich insbesondere in der Republikanischen Partei aus, die diese These als Waffe gegen die Demokraten einzusetzen begann. Bei den Kongresswahlen im Jahr 1946 beschuldigten die Republikaner die Demokraten, »die Infiltrierung von mit dem Ausland sympathisierenden Radikalen« in die Regierung zu dulden, »die unmittelbare Bedrohung durch den Kommunismus(59)« zu ignorieren und auf eine Säuberung der Gewerkschaften von Kommunisten zu verzichten. Ein republikanischer Kandidat in Indiana ging so weit zu behaupten, dass die staatliche Verwaltung 70000 bekannte Kommunisten beschäftige – ein absurder Vorwurf, den Senator Joe McCarthy(2) vier Jahre später aufgriff, um noch infamere Anschuldigungen zu erheben.30

Diese Vorstellung konfrontierte das Land jedoch auch mit einigen schwierigen Fragen. Wenn die Vereinigten Staaten(222) tatsächlich von Kommunisten(60) unterwandert worden waren, stellte sich die Frage, wie es dazu hatte kommen können: Genügte der amerikanische Traum den Menschen nicht? Warum sollte sich ein echter Amerikaner wünschen, sein Land zu betrügen, um einen totalitären Staat zu errichten, der vollkommen unvereinbar mit den amerikanischen Werten war?

Diese Fragen deuten auf eine Reihe von Problemen hin, die der amerikanischen(223) Gesellschaft in den dreißiger Jahren zu schaffen gemacht hatten und nach Kriegsende erneut zutage traten. Die meisten Historiker, die sich mit dem Kalten Krieg(13) beschäftigen, konzentrieren sich ausschließlich auf die internationale Situation in der Nachkriegszeit und vergessen darüber, sich mit den Vorgängen innerhalb der Vereinigten Staaten zu beschäftigen. Die USA mochten »die Welt beherrschen wie ein Koloss«, wie es ein Kommentator in Nation ausdrückte, aber die amerikanischen Normalbürger fühlten sich nicht unbedingt mächtig.31 Tatsächlich stand die amerikanische Gesellschaft in den Jahren 1945 und 1946 unter großem Druck. Die Ausmusterung von Millionen Soldaten, die massenhafte Entlassung von Frauen, die in der Kriegswirtschaft gearbeitet hatten, die Umstellung der Wirtschaft von der Kriegs- auf die Friedensproduktion – all diese Entwicklungen erzeugten schwer zu beherrschende Spannungen. Dazu kam, dass die politischen Rivalitäten, die während des Krieges hintangestellt worden waren, nun wieder zutage traten.

Der Bevölkerung war versprochen waren, dass nach dem Krieg ein goldenes Zeitalter des Wohlstands und der Harmonie beginnen werde. Stattdessen mussten sich die Amerikaner(225) mit fortgesetzten Rationierungen, steigender Inflation und Wohnungsmangel abfinden. Im Herbst 1945 standen Zehntausende Frauen vor den Bekleidungsgeschäften Schlange, um Nylonstrümpfe zu kaufen, und begannen zu randalieren, als die Vorräte erschöpft waren. Gleichzeitig bedrohten Arbeitskonflikte fast alle wichtigen Wirtschaftszweige: Im Jahr 1946 kam es zu fast 5000 Streiks, an denen sich 4,6 Millionen Arbeiter beteiligten. Im ersten Jahr nach Kriegsende schoss die Scheidungsrate in die Höhe – insbesondere zerbrachen viele Ehen zwischen heimkehrenden Soldaten und ihren Frauen –, und die Zahl der mit Geschlechtskrankheiten infizierten Amerikaner stieg deutlich (oft hing das eine mit dem anderen zusammen). Die schwarzen G. I.s kehrten mit dem festen Entschluss aus dem Kriegsdienst zurück, die Rassentrennung zu beseitigen, womit eine Auseinandersetzung begann, welche die Bürgerrechte schließlich zum zentralen Thema der amerikanischen Politik machen sollte. Als die Gesellschaft nicht mehr durch die einigende Kraft des Krieges zusammengehalten wurde, taten sich die alten Gräben wieder auf: zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Reichen und Armen, Schwarzen und Weißen, Männern und Frauen, Mittelschicht und Arbeiterschaft, ganz zu schweigen von den uralten Spannungen zwischen den verschiedenen Einwanderergruppen.32

Einer der vielen Bestandteile dieses Gemischs nationaler Enttäuschungen war die Zunahme kommunistischer(61) Aktivitäten. Bei Kriegsende hatte die Kommunistische Partei in den USA 63000 Mitglieder, und die Kommunisten kontrollierten Gewerkschaften mit 1,37 Millionen Mitgliedern.33 Wer sich mit diesem Problem beschäftigte, der konnte in fast jedem Bereich des öffentlichen Lebens Personen mit Verbindungen zum Kommunismus finden, sei es in den Medien, im Bildungswesen, in der Industrie oder auch in der staatlichen Verwaltung. Wie Cord Meyer(28) und andere erkannten, war dies zweifellos ein Problem, und die amerikanischen Kommunisten gingen einigermaßen rücksichtslos vor. Aber es war nie ein großes Problem. Sogar zu jener Zeit war vielen Amerikanern bewusst, dass die Konzentration auf diese Frage lediglich von anderen tiefen Gräben in der amerikanischen Gesellschaft ablenken würde.34

Fast die gesamte amerikanische(227) Öffentlichkeit beschäftigte sich mit dem Kommunismus(62). Nicht nur altgediente Kommunistenjäger wie der ehemalige republikanische Kongressabgeordnete Hamilton Fish(1) und FBI-Chef J. Edgar Hoover(1), sondern auch Persönlichkeiten aus sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens meldeten sich zu Wort, darunter Politiker aus beiden Kammern des Kongresses und aus beiden Parteien, Militärführer wie George Marshall(4) und Admiral Leahy(1), Unternehmer wie Francis P. Matthews(1) von der amerikanischen Handelskammer und sogar Gewerkschaftsführer wie George Meany(1) und William Green(1) von der American Federation of Labor. Der protestantische(3) Theologe Reinhold Niebuhr(2) verurteilte den Kommunismus(63) in seinen Schriften, der katholische(9) Radiomoderator Fulton J. Sheen(1) prangerte die Ideologie im Rundfunk an, und das American Jewish Committee startete eine große Kampagne, um jüdische(44) Gruppen jeder Art von Kommunisten zu befreien.35 Sogar Präsident Truman(10) fühlte sich verpflichtet, sich öffentlich gegen den Kommunismus(64) auszusprechen, obwohl er in privaten Gesprächen die Einschätzung äußerte, hier werde lediglich ein »Schreckgespenst« an die Wand gemalt.36 Die Presse beschränkte sich nicht darauf, über die öffentliche Paranoia zu berichten, sondern stachelte sie nach Kräften an. Die Zeitungen von Randolph Hearst(1) übernahmen eine führende Rolle mit Schlagzeilen wie »Rote Flut bedroht die christliche(8) Zivilisation« (diese Überschrift erschien nur wenige Tage nach dem Ende des Krieges in Europa(109)).37 Ende der vierziger Jahre waren die Warnungen spezifischer und bedrohlicher geworden: »Roter Faschismus in den Vereinigten Staaten«, »Kommunisten dringen in die Wall Street ein«, »Die Roten haben es auf eure Kinder abgesehen«.38

An der Sprache, die zur Beschreibung der kommunistischen(65) Bedrohung daheim und im Ausland verwendet wurde, fiel ihre Ähnlichkeit mit den Schlagworten auf, die zur Beschreibung der Bedrohung durch die Nationalsozialisten(51) verwendet worden waren. In den Zeitungen war regelmäßig vom »roten Faschismus« die Rede, und auch Politiker und das FBI verwendeten diesen Terminus, so als seien die Ideologien Stalins(9) und Hitlers(13) austauschbar. Auch wurden Nationalsozialismus(52) und Kommunismus(66) oft unter dem Begriff des »Totalitarismus« zusammengefasst, eine Verschmelzung, die heute noch gebräuchlich ist.39 Stalin wurde gelegentlich als »der russische(108) Hitler(14)« bezeichnet, und Politiker wiesen darauf hin, wie illusorisch die Versuche seien, ihn zu »beschwichtigen«, so wie die Briten(96) 1938 versucht hatten, Hitler(15) zu beschwichtigen: »Erinnert euch an München(2)!«, warnte H. V. Kaltenborn(1) im März 1946 seine Zuhörer im Radio.40 Die kommunistische Propaganda wurde mit der von Goebbels(2), die sowjetischen(109) Gulags mit den deutschen(90) Konzentrationslagern, der NKWD mit der Gestapo verglichen. Der amerikanische(228) Botschafter in Polen(20), Arthur Bliss Lane(2), drückte es so aus: »Heute herrscht hier dieselbe Furcht vor einem Klopfen an der Tür mitten in der Nacht wie in der Zeit der deutschen Besatzung.« Unterdrückung und Terror(8), erklärte er 1947 im Radio, seien gleichermaßen furchtbar, »ob sie nun unter dem Symbol des Hakenkreuzes oder unter dem Symbol von Hammer und Sichel stattfinden«.41 Ein späterer amerikanischer Kongressabgeordneter verglich sogar das Kommunistische Manifest(67) mit Mein Kampf.42 Das sowjetische(110) System und das NS-Regime wurden überall und von jedermann gleichgesetzt, sogar vom Präsidenten. »Es gibt keinen Unterschied zwischen der totalitären russischen Regierung und der Hitlerregierung«, sagte Truman(11) im März 1950 in einer Pressekonferenz. »Sie ähneln sich sehr. Sie sind Regierungen von Polizeistaaten.«43

So wurde die Furcht vor der Sowjetunion(111) mit dem Konflikt verknüpft, den die USA gerade erst hinter sich gelassen hatten, und das amerikanische Volk wurde in dem Glauben bestärkt, dass sich in der Sowjetunion wiederholte, was in den dreißiger Jahren in Deutschland(91) geschehen war. In gewisser Weise bezog sich die Furcht überhaupt nicht auf die Sowjetunion, sondern war Ausdruck der tiefer sitzenden Angst der Amerikaner, sie könnten die Fehler wiederholen, die zum Zweiten Weltkrieg(126) geführt hatten. In fast allen Konflikten, an denen die Vereinigten Staaten seither beteiligt waren – vom Koreakrieg(2) bis zum 11. September 2001 –, kam diese Angst wieder zum Vorschein, wenn ein ums andere Mal die Erinnerung an den Aufstieg Hitlers(16) beschworen wurde.

MCCARTHYISMUS Die Atmosphäre der Furcht und der Paranoia sollte sowohl im Inland als auch international erhebliche Auswirkungen haben. Um jenen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die ihm zu große Nachgiebigkeit gegenüber dem Kommunismus(68) vorwarfen, erließ Präsident Truman(12) März 1947 ein Dekret, mit dem alle zivilen Staatsbediensteten verpflichtet wurden, sich einer Prüfung ihrer Verfassungstreue zu unterziehen. Dieses Loyalitätsprogramm sollte sich als umfassendste der zahlreichen antikommunistischen Maßnahmen erweisen, die in dieser Zeit ergriffen wurden, darunter die Beschränkungen der Gewerkschaftsmacht durch den Taft-Hartley Act(1), die schwarzen Listen von Hollywood und die Verfolgung kommunistischer Führer nach Maßgabe des Smith Act(1). In den folgenden neun Jahren wurden mehr als 5 Millionen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes überprüft, von denen 25000 einer genauen Untersuchung durch das FBI unterzogen wurden. Keine dieser Untersuchungen entlarvte einen Spion, aber sie führten zu 12000 Austritten aus dem Staatsdienst und etwa 2700 Entlassungen, was beträchtliches persönliches Leid mit sich brachte. Es war der vielleicht größte Angriff auf die Privatsphäre und die Freiheitsrechte der Bürger in der amerikanischen(230) Geschichte.44 

Cord Meyer(29) wurde kurz nach seinem Eintritt in die CIA ebenfalls einer eingehenden Loyalitätsuntersuchung unterzogen und schilderte später, wie sehr er unter dem Verfahren gelitten hatte. Er war beschuldigt worden, Kontakte zu bekannten Kommunisten(69) zu pflegen, mit kommunistischen Tarnorganisationen zusammenzuarbeiten und antiamerikanische Ansichten zu äußern. Die gegen ihn(30) erhobenen Vorwürfe wiesen ein typisches Merkmal auf: Ein FBI-Agent hatte erfahren, dass mehrere Personen, die im Verdacht standen, Kommunisten zu sein, über die Frage diskutierten, ob sie Meyer dazu bewegen könnten, sich ihnen anzuschließen. Meyer war empört, musste sich jedoch ernsthaft mit diesem Hörensagen auseinandersetzen, und von Anfang an lag die Beweislast bei ihm. Er erfuhr nie, wer ihn beschuldigt hatte. Er durfte nicht einmal an seinem(31) Prozess teilnehmen.

Er(32) wurde für drei Monate ohne Gehalt suspendiert. In dieser Zeit sollte er einen detaillierten Lebenslauf schreiben, in dem er seine Erziehung, seine Ausbildung und seine politischen Überzeugungen beschreiben und sämtliche Erklärungen mit Dokumenten belegen musste. Er(33) litt unter Schlaflosigkeit und geriet in finanzielle Schwierigkeiten, aber besonders litt er darunter, dass sich Freunde von ihm abwandten: Mehrere Personen, die er mochte, brachen den Kontakt zu ihm ab, da sie befürchteten, mit ihm in einen Topf geworfen zu werden. »In der vergifteten Atmosphäre jener Zeit brauchte man Mut, um zu jemandem zu halten, der im Verdacht stand, ein Sicherheitsrisiko zu sein(34)45

Abb. 29: Die Furcht erstickt die Freiheit: Ein hysterisches Amerika versucht während des »Red Scare« im Jahr 1949, die Flamme der Freiheit zu löschen. Karikatur von Herblock(1).

Am Ende hatte Meyer(35) Glück: Er wurde entlastet und musste keine weiteren Untersuchungen über sich ergehen lassen. Viele andere Staatsangestellte, insbesondere solche mit linken politischen Ansichten, wurden wiederholt vom FBI, von staatlichen Loyalitätsgremien, vom Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten des Repräsentantenhauses und von Senator McCarthys(4) ständigem Untersuchungsausschuss befragt.46 Die vielleicht schlimmste Tortur bestand darin, vor laufender Kamera von McCarthy(5) verhört zu werden – ein Spektakel, das sich so tief ins amerikanische(231) Bewusstsein einbrannte, dass die rücksichtslose Hatz auf vermutete Kommunisten(70) seitdem als »McCarthyismus(6)« bezeichnet wird. Meyer(36) fragte sich oft, warum ihm diese entwürdigende Behandlung erspart geblieben war, und gelangte zu dem Schluss, dass ihn wahrscheinlich das Purple Heart und der Bronze Star gerettet hatten. Es war typisch für das Verhalten eines Gewaltmenschen wie McCarthy(7), dass er »vor der Konfrontation mit einem Marineoffizier(37), der mehr Kampferfahrung als er besaß, zurückschreckte«.47

Es ist unmöglich, den Schaden zu messen, der Zehntausenden Menschen zugefügt wurde, die wie Meyer(38) solchen Untersuchungen ausgesetzt waren. Für viele war die Durchforstung ihres persönlichen Lebens derart traumatisch, dass sie sich dagegen sträubten, jemals wieder ihre wirklichen Ansichten zu Papier zu bringen, aber jene, die es taten, beschrieben ihr Martyrium als »zermürbend«, als »seelische Qual« oder sogar als »Hölle«.48 Eine afroamerikanische Rechtsanwältin, der die Aufnahme in den Staatsdienst verweigert worden war, beschrieb, wie sich die Untersuchung auf sie ausgewirkt hatte:

Man fühlt sich eingeschüchtert, unsicher, ausgeliefert. Man denkt über all die persönlichen Fehler nach, über die tiefen Geheimisse des eigenen Lebens, die nichts mit politischen Aktivitäten zu tun haben. Man fürchtet sich davor, dass die Details des eigenen Privatlebens öffentlich ausgebreitet werden, sodass Fremde sie lesen und beurteilen können.49

Einige Linke behaupten, die Furcht vor dem Kommunismus(71) habe den Republikanern einen geeigneten Vorwand geliefert, um einer Generation konservative Werte aufzuzwingen. Die wahren Kosten seien nicht an der Zahl der traumatisierten Menschen und zerstörten Karrieren, sondern »an den nicht hinterfragten Annahmen, an den nicht gestellten Fragen, an den ein Jahrzehnt lang ignorierten Problemen« zu messen. Die Kampagne gegen den Kommunismus brachte die amerikanische(232) Linke für eine Generation zum Schweigen. Progressive mussten sich eine konservativere Haltung aneignen, wenn sie nicht augenblicklich in Verdacht geraten wollten: Tatsächlich wurden Begriffe wie »sozialistisch« oder »progressiv« im Verständnis vieler Menschen bald zu Synonymen von »kommunistisch«. Probleme der Klassen- oder Rassenbeziehungen wurden von der allgegenwärtigen »roten Gefahr« ebenso an den Rand gedrängt wie die Frage der gesellschaftlichen Rolle der Frau. In den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre setzte sich fast jeder, der von seiner traditionellen gesellschaftlichen Rolle abwich, automatisch dem Vorwurf einer gefährlichen Radikalisierung aus.50

In Wahrheit waren auch die Republikaner nicht immer damit einverstanden, wie diese Maßnahmen durchgeführt wurden. Ein Teil von ihnen rechtfertigte die Untersuchungen mit der Notwendigkeit, die Vereinigten Staaten(233) gegen die vom Weltkommunismus ausgehende Bedrohung zu verteidigen, aber die Versuche des Staates, sich in das Privatleben der Bürger einzumischen und ihnen Vorschriften zur Lebensführung zu machen, widersprachen der republikanischen Überzeugung vom Vorrang der individuellen Freiheitsrechte. Und die Republikaner weisen darauf hin, dass einige der repressivsten Maßnahmen im Kampf gegen die kommunistische(72) Unterwanderung, darunter das Loyalitätsprogramm, von Demokraten angeregt wurden.

Gleichgültig, auf wessen Seite man steht, die in dieser Zeit beobachtete Verschiebung der gesellschaftlichen Werte nach rechts stellte eine bedeutsame Veränderung dar, die sich in den folgenden zwei Jahrzehnten und möglicherweise darüber hinaus auf die Einstellung der amerikanischen(234) Gesellschaft zur Außenwelt auswirken sollte.

DIE TRUMAN-DOKTRIN Die zweite bedeutsame Veränderung, die durch die kommunistische(73) Bedrohung angestoßen wurde, fand auf internationaler Ebene statt. Das amerikanische(235) Außenministerium war keineswegs ein Sammelbecken für Spione, sondern stand oft an der Spitze des Kampfes gegen den Kommunismus. Schon 1946 gab es im State Department kaum noch einen Beamten, der etwas Gutes über die Sowjetunion(112) zu sagen hatte.51 Die vorherrschende Stimmung fasste einer der Diplomaten in der amerikanischen Botschaft in Moskau(5) zusammen, der im Februar 1946 eine Mitteilung nach Washington(10) schickte, die den Ausbruch des Kalten Kriegs(14) beschleunigen sollte: In seinem »langen Telegramm« bezeichnete George F. Kennan(2) die sowjetische(113) Führung als »grausam«, »verschwenderisch« und insbesondere in der Beziehung zu den Vereinigten Staaten »unsicher« in einem Maß, das an Paranoia grenze. Die Sowjets, erklärte Kennan, seien »fanatisch entschlossen«, die amerikanische Lebensweise zu zerstören, Zwietracht im amerikanischen Volk zu säen und die internationale Autorität der Vereinigten Staaten zu untergraben.52 Die einzige Möglichkeit, den »bösartigen Parasiten« des Weltkommunismus zu bekämpfen, sah Kennan darin, eine klare Linie in den Sand zu ziehen. Der Vormarsch der Sowjetunion müsse eingedämmt werden.

Kennans(3) Telegramm rüttelte Washington(11) wach, aber das lag nur daran, dass zum ersten Mal jemand aussprach, was mittlerweile jedermann im State Department dachte. Während des folgenden Jahres verwandelte sich Kennans Urteil in die offizielle Einschätzung der amerikanischen(236) Regierung.53

Aber im Lauf der Zeit setzte sich die Überzeugung durch, dass eine passive Eindämmungspolitik nicht länger genügte. In vielen Teilen der Welt bestand weiterhin die sehr reale Gefahr, dass örtliche Rebellionen die Kommunisten(74) unabhängig von Moskau(6) an die Macht bringen würden. Ein solcher Aufstand tobte in Griechenland(12), wo nach der Befreiung von den deutschen(92) Besatzern ein brutaler Bürgerkrieg ausgebrochen war. Als die Briten(97) erklärten, nicht länger in der Lage zu sein, die nationalistische griechische Regierung zu stützen, entschloss sich das State Department, in die Bresche zu springen und eine sehr viel aktivere Rolle zu übernehmen.

Im März 1947 hielt Präsident Truman(14) vor beiden Kammern des Kongresses eine Rede, deren Ziel es war, »dem amerikanischen(237) Volk einen gehörigen Schrecken einzujagen«.54 Der vordergründige Anlass für die Rede war, dass die Regierung den Kongress um die Freigabe von 400 Millionen Dollar an Hilfsgeldern für Griechenland(13) und die Türkei(3) bitten wollte. Aber so wie mit der Ankündigung des Loyalitätsprogramms im selben Monat wollte Truman auch mit diesem Auftritt zeigen, dass er entschlossen war, gegen den Kommunismus(75) vorzugehen. Er konnte es unmöglich wissen, aber die Prinzipien, die er in seiner Rede skizzierte, würden die Grundlage für die amerikanische Außenpolitik im restlichen Jahrhundert bilden.

In nur 20 Minuten beschwor Truman(15) alle Werte, die den Amerikanern(238) besonders am Herzen lagen: Freiheit, Gerechtigkeit, gute Nachbarschaft und die Bereitschaft, dem Schwächeren zur Seite zu stehen. Der Präsident(16) verwendete die Worte »frei« und »Freiheit« nicht weniger als 24 Mal: Wenn die Vereinigten Staaten in einer friedlichen Welt leben wollten, genüge es nicht länger, dass sie sich zum »Land der Freien« erklärten – sie müssten auch die freiheitsliebenden Völker in aller Welt unterstützen. Truman(17) beschwor das Bild eines einsamen amerikanischen Helden herauf, der den Kräften »des Terrors(9) und der Unterdrückung« die Stirn bieten musste, wie er es im vergangenen Weltkrieg getan hatte.

(18)Größere Wirkung dürfte jedoch der Appell an die Befürchtungen der Amerikaner(239) gehabt haben: Wenn die USA nicht für Griechenland(14) oder andere vom Kommunismus(76) bedrohte Länder eintrete, erklärte der Präsident(19), so werde dies nicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern für die ganze Welt katastrophale Folgen haben. Truman(20) griff die Warnungen seiner hochrangigen Berater im Außenministerium auf und beschwor die Gefahr einer Ausbreitung von »Verwirrung und Unordnung« im Nahen Osten(9) herauf, die den »Zusammenbruch der freien Institutionen« und das Ende von »Freiheit und Unabhängigkeit« mit sich bringen würden. Das Gespenst des Zweiten Weltkriegs(127) tauchte als Lehre und Warnung wiederholt in der Rede(21) auf: Die Vereinigten Staaten hatten es schon einmal versäumt, dem Totalitarismus die Stirn zu bieten. Die Kosten einer Unterstützung Griechenlands in der Stunde der Not waren eine gute Investition, wenn man sie mit den 341 Milliarden Dollar verglich, die Amerika hatte ausgeben müssen, um den letzten Krieg zu gewinnen.

Die Schlüsselstelle der Rede fand sich am Ende, als Truman(22) den Gedanken äußerte, an dem sich die amerikanische(241) Außenpolitik im Kalten Krieg(15) orientieren würde:

(23)Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten(242) freie Völker unterstützen müssen, die sich dagegen wehren, von bewaffneten Minderheiten oder durch äußeren Druck unterworfen zu werden … Die freien Völker der Welt schauen auf uns und erwarten, dass wir ihnen helfen, ihre Freiheit zu erhalten. Wenn wir unserer Pflicht zur Führung nicht nachkommen, bringen wir den Frieden der Welt in Gefahr(24).55

Trumans(25) Worte verfehlten ihre Wirkung nicht: Der Kongress bewilligte die Hilfsgelder für Griechenland(15) und die Türkei(4). Aber die allgemein gehaltenen Ausführungen des Präsidenten implizierten, dass die Vereinigten Staaten(243) bereit waren, jedem Land beizustehen, das sich vom Kommunismus(77) bedroht fühlte. In den folgenden Wochen bemühten sich Dean Acheson(1) und andere Mitarbeiter des State Department nach Kräften, dem Eindruck zu begegnen, Truman(26) habe der Welt so etwas wie einen Blankoscheck ausgestellt. Dennoch blieb der Eindruck bestehen, dass die USA entschlossen waren, den Kommunismus weltweit zu bekämpfen, was immer es kosten mochte.56 Dass Truman(27) einen solchen Anspruch nicht nur erheben, sondern ihm auch weitgehend gerecht werden konnte, beweist, wie reich die USA nach dem Zweiten Weltkrieg(128) waren. In den folgenden Wochen kündigte Außenminister George Marshall(5) ein weiteres massives Hilfspaket an, um der Bedrohung durch den Kommunismus in ganz Europa(110) zu begegnen: Im Rahmen des Marshallplans flossen schließlich 12,3 Milliarden Euro an Hilfsgeldern nach Europa(111). Allein zwischen 1945 und 1953 gaben die Vereinigten Staaten weltweit 44 Milliarden Dollar für Hilfsprogramme aus.57

In den folgenden Jahren wurden sogar diese gewaltigen Summen noch deutlich übertroffen. Als der Kalte Krieg(16) 1989 endete, hatten die USA schätzungsweise 8 Billionen Dollar ausgegeben, um die Truman(28)-Doktrin anzuwenden. Sie hatten mehr als hundert Länder finanziell unterstützt, Beistandspakte mit mehr als fünfzig Staaten geschlossen und große Militärstützpunkte in dreißig Ländern errichtet. Sie hatten in jedem Jahr durchschnittlich mehr als eine Million Militärangehörige rund um den Erdball stationiert – in europäischen(112) Städten und auf abgelegenen Pazifikinseln, auf Stützpunkten im Dschungel und in Wüstenlagern, auf Flugzeugträgern, in Atom-U-Booten und schließlich sogar im Weltall. Mit der Truman(29)-Doktrin wurden verdeckte CIA-Operationen auf Kuba(3), in Angola(1) und auf den Philippinen(10) sowie militärische Interventionen in Korea(6) und Vietnam(5) begründet. Sie diente als Argument, um Regierungen im Iran(4), in Guatemala(1) und Chile(1) zu stürzen und rechtsgerichtete Diktaturen in Zentral(3)- und Südamerika(12) zu unterstützen. All das hatte nichts mehr mit dem Isolationismus zu tun, der die politischen Vorstellungen der Amerikaner bis zum Zweiten Weltkrieg(129) beherrscht hatte. Das Vermächtnis dieses Krieges und Trumans(30) Doktrin des aktiven weltpolitischen Engagements weckten bei den Amerikanern die Überzeugung, zum Eingreifen in all diese Konflikte verpflichtet zu sein.58

Die Vereinigten Staaten(247) betrachten es bis zum heutigen Tag als ihre Aufgabe, sich international zu engagieren. Auch nach dem Ende des Kalten Kriegs(17) bewegte die Überzeugung, zur Verteidigung der Werte der freiheitlichen Demokratie(9) verpflichtet zu sein, das Land dazu, im Irak(5) (1991), in Somalia(1) (1992), Haiti(1) (1994), Bosnien(2) (1995) und im Kosovo(1) (1999) zu intervenieren. All diese Interventionen dienten nicht unmittelbar der Sicherheit der USA, sondern der Verteidigung von »Freiheit«, »Demokratie« und den »Grundlagen der westlichen Zivilisation«. Selbst die zweite militärische Konfrontation mit dem Irak, deren Intensität zwischen dem Ende der neunziger Jahre und dem Jahr 2003 zunahm, begann nicht als Teil von George W. Bush(5)s »Krieg gegen den Terror(10)«, sondern als Versuch, die Ordnung in der Welt aufrechtzuerhalten. Das amerikanische Volk ist der Last dieser Verpflichtung mittlerweile überdrüssig, aber so sehr es sich auch dagegen sträubt und so scharf die USA von denen kritisiert werden, deren Bereitschaft zum militärischen Engagement weniger ausgeprägt ist: Das Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs(130) und der Truman(31)-Doktrin dürfte auch in der Zukunft weiterwirken. Wie es ein hochrangiger politischer Berater des State Department 2014 ausdrückte: »Supermächte(250)(114) dürfen nicht in den Ruhestand gehen.«59

*

Als Präsident Truman(32) 1947 seine berühmte Rede hielt, war all das noch Zukunftsmusik. Die amerikanischen(251) Bürger wussten nur, dass sie sich trotz ihres Wohlstands und der angeblichen Macht ihres Landes eines Gefühls der Unruhe und Bedrängnis nicht erwehren konnten, so als wartete die ganze Nation darauf, dass etwas Furchtbares geschehen werde. Der niederländische Psychoanalytiker Abraham Meerloo(1), der nach dem Krieg einige Zeit in den USA verbrachte, gewann den Eindruck, das Land werde von einem allgegenwärtigen Gefühl »unbestimmter Furcht« gequält. Er glaubte, die Wurzel dieses Gefühls sei ein »verborgenes Gefühl der Schuld« für die Dinge, zu denen sich die USA im Krieg gezwungen gesehen hatten, darunter die Atombombenabwürfe(43) auf Hiroshima(20) und Nagasaki(13). Wenn es den Vereinigten Staaten nicht gelinge, ihre Taten aufzuarbeiten, erklärte Meerloo, würden sie weiterhin unter der Vorahnung einer nicht näher bestimmbaren Strafe leiden.60

Angesichts der Angst, welche die Atombombe(44) zu jener Zeit in den Vereinigten Staaten(254) geweckt hatte, ist es durchaus plausibel, dass in der amerikanischen Psyche ein unterdrücktes Schuldgefühl schlummerte. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Der Zweite Weltkrieg(131) hatte zweifellos zur Verrohung und Traumatisierung eines Teils der amerikanischen Gesellschaft geführt – aber er hatte ihr auch ein Ziel gegeben. Als Cord Meyer(39) nach dem Angriff auf Pearl Harbor(9) in den Krieg gezogen war, hatte er sich so lebendig gefühlt wie nie zuvor. Dieses Gefühl hatten Millionen Amerikaner geteilt, die das Sendungsbewusstsein und das Gefühl des Zusammenhalts im Krieg genossen. 1945 feierte das Land das Ende des Kampfes und freute sich, als Sieger daraus hervorgegangen zu sein – aber es gab auch viele Amerikaner, die das Kriegsende bedauerten.

Das Auftauchen eines neuen Feindes gab den Amerikanern(255) die Möglichkeit, Schuldgefühle wegen ihres Verhaltens im Krieg zu verdrängen, und es gab ihnen ein neues Ziel, auf das sie die im Krieg aufgestaute Wut und Aggression richten konnten. Und all jene, die alte Rechnungen offen hatten und mit neuen Ärgernissen konfrontiert wurden, hatten nun einen neuen Schuldigen. Die Sowjetunion(115) war ein Gebilde, auf das die Amerikaner ihre Ängste und Befürchtungen richten konnten, und die Tatsache, dass niemand an den bösen Absichten dieses Feindes zweifelte, stärkte erneut die Solidarität der amerikanischen Gesellschaft. Vor allem aber gab dieser neue Feind dem Land das Gefühl zurück, ein Ziel zu haben: Welchen Nutzen hat ein Ritter in schimmernder Rüstung, wenn es keinen feuerspeienden Drachen zu töten gibt? Der Zweite Weltkrieg(132) – und der anschließende Kalte Krieg(18) – lieferte ein psychologisches Muster: Seit damals kämpfen die Vereinigten Staaten unermüdlich gegen Drachen der einen oder anderen Art.61