Die Parallelen zwischen der kollektiven Psychologie der USA und der Sowjetunion(209) in den frühen Nachkriegsjahren sind auffällig. Beide Länder hatten eine globale Vormachtstellung erlangt, auf die sie nicht vorbereitet waren und die sie noch nicht richtig verstanden. Der Krieg hatte die Gesellschaften beider Länder in einem Maß geeint, das kein New Deal auf der einen und keine Propaganda und kein Terror(13) auf der anderen Seite hatten bewirken können. Aber als der Krieg vorüber war, taten sich die Gräben in beiden Ländern wieder auf. Auch die Einheit zwischen den Vereinigten Staaten(286) und der Sowjetunion(210) beruhte auf der Existenz eines gemeinsamen Feindes – eines Ungeheuers –, aber als das Monster besiegt war, gab es nichts mehr, was die beiden Länder verband. Als sich die Beziehung zwischen ihnen zu verschlechtern begann, schien es nur folgerichtig, dass sie das alte deutsche(108) oder japanische(132) Ungeheuer durch ein neues amerikanisches(287) beziehungsweise sowjetisches(211) Monster ersetzten. Die im Krieg entstandene Mentalität des »Wir gegen sie« wurde in den Kalten Krieg(20) übernommen.
Aufgrund der beherrschenden weltpolitischen Stellung der beiden Supermächte(288)(212) wurde die übrige Welt zwangsläufig in deren Konflikte hineingezogen. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs(139) hatte gezeigt, dass es nicht länger genügte, sich nur um nationale Einheit zu bemühen. Also begannen die Vereinigten Staaten(289), für die Einheit dessen zu werben, was jetzt als »westliche Hemisphäre« oder auch ganz allgemein als »der Westen« bezeichnet wurde. Die Sowjetunion(213) ihrerseits, deren politisches System auf einer internationalistischen Ideologie beruhte, begann, ihre Nachbarländer und Verbündeten zu drängen, einen einheitlichen »kommunistischen(90) Block« zu bilden. Unter dem Druck der beiden Supermächte(290)(214) blieb den meisten Ländern kaum etwas anderes übrig, als sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen.
Der sowjetische(215) Kultusminister Andrei Schdanow(3) fasste die Atmosphäre im Jahr 1947 zusammen, als er den Genossen auf einer Konferenz der europäischen(120) kommunistischen(91) Parteien erklärte, die Welt werde von nun an in »zwei Lager(13)« geteilt sein. Auf der einen Seite stehe das von den USA und Großbritannien(108) angeführte »imperialistische und antidemokratische Lager«, dessen Hauptziele die »Weltherrschaft« und »die Zerschlagung der demokratischen(11) Bewegungen« seien. Auf der anderen Seite stünden die Sowjetunion(216) und ihre Verbündeten, die nun eine gemeinsame Front gegen den Westen bilden müssten. Eine Zusammenarbeit zwischen den beiden »diametral gegensätzlichen« Lagern hielt die sowjetische(217) Führung für unmöglich.1
Die Amerikaner(292) teilten diese Einschätzung im Großen und Ganzen, wenn sie die weltpolitische Lage auch unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachteten. Früher im selben Jahr hatte der amerikanische Diplomat George Kennan(5) in der Zeitschrift Foreign Affairs einen Artikel veröffentlicht, der die amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion(218) nachhaltig beeinflussen sollte. Darin erklärte er, eine »glückliche Koexistenz« beider Supermächte(293)(219) sei unmöglich. Die Vereinigten Staaten hätten keine andere Wahl, als die von der Sowjetunion ausgehende Bedrohung »einzudämmen«. Es sei an der Zeit, dass die Vereinigten Staaten »die Verpflichtung zur moralischen und politischen Führung akzeptieren, die ihnen die Geschichte auferlegt hat«. Das bedeutete – zumindest wurden seine Worte weltweit so ausgelegt –, dass sich die Vereinigten Staaten an die Spitze eines internationalen Widerstands gegen die Ausbreitung des Kommunismus(92) setzen mussten.2
Aber was war mit der übrigen Welt? Was hielten andere Länder von den Versuchen der beiden Supermächte(294)(220), Getreue um sich zu sammeln? Einige akzeptierten die neue Weltordnung aus Pragmatismus. Viele Länder in Westeuropa(13) und Asien(41) schlossen sich bereitwillig den USA an, weil diese großen Einfluss besaßen und anscheinend die besten Lösungen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung nach dem Krieg anzubieten hatten. Dazu kam, dass das amerikanische Geld benötigt wurde, um die zerstörten wirtschaftlichen Infrastrukturen dieser Länder wieder aufzubauen. Die meisten lateinamerikanischen(13) Länder sahen kaum eine andere Möglichkeit, als sich den USA anzuschließen, denn aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit vom nördlichen Nachbarn war die Kooperation mit diesem die beste Option. In der Zwischenzeit fand sich der Großteil der osteuropäischen(39) Länder mit der sowjetischen(221) Herrschaft ab, denn alles andere hätte eine Rückkehr zu einem offenen Krieg bedeutet, und die Kommunisten(93) in diesen Ländern hofften, mit Unterstützung der Sowjetunion(222) die Macht erringen zu können.
Es gab jedoch viele Länder, die es ablehnten, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden, und alles taten, um den Anschluss an einen der beiden Blöcke zu vermeiden. Sie wählten verschiedenste Bezeichnungen für ihre Haltung. »Neutralität« war der rechtliche Begriff für die Position von Ländern wie der Schweiz(6), die versprachen, sich nicht an internationalen Kriegen zu beteiligen, während sich andere als »unbeteiligt«, »bündnisfrei«, »blockfrei«, »progressiv neutral« usw. bezeichneten.3
Diese Länder hofften, sich aus dem Kalten Krieg(21) heraushalten zu können, aber letzten Endes gerieten sie lediglich in eine Vielzahl anderer politischer, wirtschaftlicher und moralischer Dilemmata: Bedeutete die Bündnisfreiheit, dass sie auf die dringend benötigten Investitionen der einen oder anderen Seite verzichten mussten, um ihre Unparteilichkeit zu wahren? Konnten sie als blockfreie Staaten Verstöße der Supermächte(297)(223) nicht kritisieren – und würde irgendjemand zuhören, wenn sie es taten? Wer würde ihnen im Fall einer Invasion beistehen, wenn sie auf Militärbündnisse verzichteten? Welchen Einfluss konnten sie ohne formale Verbündete in der Welt geltend machen? Und vor allem: Was konnten sie tun, wenn sie jemals unter beträchtlichen Druck einer der beiden Seiten gerieten?
DIE UNMÖGLICHKEIT DER NEUTRALITÄT Der britische(109) Pazifist(1) Anthony Curwen(1) wusste, wie schwierig es war, neutral zu bleiben. Es war stets eine schreckliche Vorstellung für ihn gewesen, »mit einer Waffe auf ein menschliches Wesen zu zielen und es zu töten«. Daher wählte Curwen einen anderen Weg, als im Jahr 1939 die ganze Welt in den Krieg zog: Er verweigerte aus Gewissensgründen den Kriegsdienst. Er schloss sich der Friends Ambulance Unit (FAU) an, einer Organisation der Quäker, die an den Prinzipien des Pazifismus und der Neutralität festhielt. Zwischen 1943 und 1946 kümmerte Curwen(2) sich um Kranke und Verwundete – anfangs in britischen Krankenhäusern, später in abgelegenen Gebieten Syriens(1). Es war eine konstruktive und vollkommen neutrale Aktivität, die er im Nachhinein als »sehr befriedigend« bezeichnete.4
Curwen(3) setzte sein pazifistisches(2) Engagement auch nach dem Krieg fort und ging im Auftrag der Friends Ambulance Unit nach China(49), um beim Wiederaufbau des Landes nach dem verheerenden Krieg mit Japan(133) zu helfen.
Doch in China(50) war ein neuer Konflikt ausgebrochen, in dem die nationalistische Kuomintang(1)-Regierung den Kommunisten(94) gegenüberstand. Die FAU wollte ihre Neutralität wahren, aber Curwen(4) hatte eine klare Meinung zu dem Konflikt. »Als ich nach China ging, war ich politisch sehr naiv«, gestand er später. »Ich dachte, wie dumm dieser Bürgerkrieg so kurz nach einem Krieg war, der das Land ins Chaos gestürzt hatte. Wie dumm es war, einen Bürgerkrieg zu führen!«
Am 14. März 1946 – es war sein 21. Geburtstag – brach Curwen(5) nach Shanghai(2) auf. Er wusste eigentlich nicht, worauf er sich einließ. China(51) war vollkommen anders als die Welt, die er kannte. Nach acht Jahren der Gewalt war es ein Land voller »Schmutz und Unordnung und Zerstörung und Flüchtlingen«. Curwens(6) Bestimmungsort war Zhongmu(1) im östlichen Zentralchina. Die Hälfte der Stadt war durch japanische(134) Bombenangriffe, die andere Hälfte von der Kuomintang(2) zerstört worden, die im Jahr 1938 die Dämme am Gelben Fluss zerstört und die ganze Region überflutet hatte, um den japanischen(135) Vormarsch aufzuhalten. »Als wir dort ankamen, stand nur noch ein halbes Dutzend Häuser«, erinnert sich Curwen(7). Seine erste Aufgabe bestand darin, den Bau einer Klinik und einer Schule zu leiten, die mit Steinen aus der zerstörten Stadtmauer errichtet wurde. Er gründete auch mehrere Kooperativen, um den Einheimischen dabei zu helfen, wieder auf die Füße zu kommen. Aber nicht weit entfernt tobte der Bürgerkrieg, und Hunderttausende mittellose Flüchtlinge kehrten in das Gebiet zurück. Bald fühlte er sich von dem ausufernden Chaos überwältigt(8).
Zu den größten Hindernissen für den Wiederaufbau zählte die Einstellung der Beamten, mit denen er zu tun hatte. Curwen(9) lernte rasch, die Soldaten und Polizisten der Kuomintang(3)-Regierung zu hassen. Er sah empört, wie diese »stümperhaften und unterdrückerischen Halbkriminellen« Menschen, die ihnen im Weg standen, mit Fußtritten malträtierten oder Passagiere, die sich keinen Fahrschein leisten konnten, aus den Zügen warfen. In seinen Augen waren die Regierungsbeamten der Kuomintang »vollkommen inkompetent«, »gleichgültig« und durch und durch korrupt. Manche waren höflich zu Ausländern wie ihm oder begegneten ihm(10) sogar mit Ergebenheit, »aber du spürtest, dass sie dich im Grunde ihres Herzens hassten«.
Sogar die chinesischen(52) Mitarbeiter der Hilfsorganisationen waren korrupt, und die Hilfssendungen der Vereinten Nationen erreichten nur selten die Menschen, für die sie bestimmt waren: »Die Hilfsgüter, welche die UNRRA [die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen] nach China(53) schickte, wurden dort samt und sonders zu Geld gemacht. Man konnte alles kaufen. Milchpulver von der UNRRA bekam man auf jedem Markt im Land. Wenn man die richtigen Leute kannte, konnte man einen Fischkutter kaufen, der geschickt worden war, um die Fischerei wieder aufzubauen.«
Zu Curwens(11) Verzweiflung waren die Personen, die den Schwarzmarkt betrieben, dieselben, denen die Aufgabe anvertraut worden war, das Leid der Ärmsten und Schwächsten zu lindern.
Es dauerte nicht lange, bis sich Curwen(12) zu fragen begann, warum er überhaupt an diesen Ort gekommen war. Seine Versuche, den Menschen zu helfen, fruchteten so wenig, dass sie eigentlich sinnlos schienen. Er hatte den Eindruck, dass seine Arbeit lediglich »Schönfärberei« inmitten einer nationalen Tragödie war. Es schien ihm, als sei die Ursache von Chinas Problemen »die völlige Gleichgültigkeit der Regierung«, ihr »umfassender Mangel an Effizienz« und ihre gewalttätige Haltung gegenüber der eigenen Bevölkerung. »Ich(13) entwickelte rasch einen Hass auf das Regime.«
Sein Glaube(14) an die Notwendigkeit strikter Neutralität schwand. Er wusste nichts über den Kommunismus(95) und war mit den für Angehörige seiner Gesellschaftsschicht typischen Vorurteilen gegen diese Ideologie aufgewachsen. Aber seine Abneigung gegen die Kuomintang(4) war so stark, dass er zu der Überzeugung gelangte, China(54) könne nur gerettet werden, indem das nationalistische Regime gestürzt wurde – selbst wenn das für ihn bedeutete, seine Neutralität aufzugeben. »Da ich(15) das nationalistische Kuomintang-Regime zu hassen gelernt hatte und nichts über die Kommunisten wusste, suchte ich nach einem Mittelweg, stellte jedoch fest, dass es keinen gab.«
Im Sommer 1948 kam Curwen(16) erstmals in Kontakt mit den chinesischen(55) Kommunisten(96), die Zhongmu(2) vorübergehend unter ihre Kontrolle brachten. Anfang fürchtete er sich vor ihnen, aber im Gegensatz zu fast allen nationalistischen Soldaten, denen er begegnet war, schienen sie höflich, ehrlich und wohlerzogen. In der Stadt, in der er stationiert war, kam es weder zu Gräueltaten noch zu Plünderungen, im Gegenteil: Als einem von Curwens(17) Kollegen sein Pullover gestohlen wurde, gab sich einer der kommunistischen Offiziere große Mühe, den Schuldigen aufzuspüren und das Kleidungsstück zurückzubringen. Die Getreidevorräte der Reichen wurden beschlagnahmt und unter den Armen verteilt. Curwen(18) geriet in eine gefährliche Situation, als sich die Kommunisten zum Rückzug entschlossen und ihn gefangen nahmen, aber sie erklärten ihm, dass sie ihn lediglich als Zeugen mitnehmen wollten für den Fall, dass die Nationalisten bei ihrer Rückkehr in Zhongmu(3) ein Massaker an den Ausländern verüben und versuchen würden, ihnen die Schuld zuzuschieben.
In den folgenden Monaten wogte der Bürgerkrieg hin und her, und Curwen(19) hatte Gelegenheit, das Verhalten beider Seiten zu studieren. Er fand den Vergleich aufschlussreich: »Ich war tief beeindruckt vom Verhalten der Kommunisten(97) als Menschen, als Individuen, von der allgemeinen Aufbruchsstimmung und Begeisterung, vom immensen Ansehen, das die Kommunistische Partei zweifellos verdientermaßen rasch erwarb. Was in Peking(1) oder Shanghai(3) geschah, weiß ich nicht …. Aber auf dem Land und im Hinterland sicherten sich die Kommunisten in kürzester Zeit überwältigende Unterstützung dadurch, wie sie sich verhielten, wie sie die Armen unterstützten …«
Am meisten imponierte ihm(20), dass die Kommunisten(98) eine Kultur der Selbstkritik förderten. In den Gebieten unter kommunistischer Herrschaft wurde von der Bevölkerung erwartet, ihr Verhalten zu prüfen, vergangene Fehler einzugestehen und Besserung zu geloben. Das galt noch mehr für die Parteiführer, die mit gutem Beispiel vorangehen sollten. Curwen(21) erinnert sich daran, dass in einer Veranstaltung zur Stärkung der Frauenrechte der lokale KP-Chef vortrat und zugab, seine Frau zu schlagen. Er gab zu, dass dieses Verhalten vollkommen inakzeptabel sei, und versprach eine gründliche Selbstprüfung, die er schriftlich festhalten wollte. Unter den Kuomintang(5) wären eine solche Aufrichtigkeit und eine solche Bereitschaft zur Veränderung undenkbar gewesen.
Als sich die Kommunisten(99) 1949 im Bürgerkrieg durchsetzten, führte dies in Curwens(22) Augen zu einer »moralischen Wiedergeburt des Volkes und zu einer Revolution in den persönlichen Beziehungen«. Der Bürgerkrieg und der Sieg der Kommunisten hatten China(56) keineswegs zerstört, sondern das Land zum Besseren verändert.
Auch Curwen(23) hatte sich verändert. Die Stärke seiner Gefühle überraschte ihn und stellte alle seine bisherigen Überzeugungen infrage – nicht nur in Bezug auf die Neutralität, sondern auch was die Vermeidung von Gewalt anbelangte: »Ich kann nicht sagen, wann ich aufhörte, ein Pazifist(3) zu sein, denn ich weiß es nicht. Aber irgendwann wurde mir klar, dass man manchmal kämpfen muss … Ich sah keine Möglichkeit, wie die Armen, die auf dem Land die Mehrheit der chinesischen(57) Bevölkerung stellten, ohne eine Revolution eine Chance haben sollten. Und offenkundig gab es keine Revolution ohne Gewalt … Also hörte ich auf, ein Pazifist zu sein, und begann, meinen Pazifismus zu kritisieren. Ich gelangte zu dem Ergebnis, dass ich(24) im Irrtum gewesen war.«
Wann immer Curwen(25) von nun an auf den Zweiten Weltkrieg(140) zurückblickte, bedauerte er es zutiefst, den Kriegsdienst verweigert zu haben. Er begann, sich zu wünschen, er hätte den Pazifismus(4) früher aufgegeben, damit er aktiv gegen den Faschismus hätte kämpfen können. Obwohl er in der Friends Ambulance Unit(3) viel Gutes getan hatte, wünschte er(26) sich, stattdessen zur Waffe gegriffen zu haben.
Als er(27) 1954 nach Großbritannien(111) zurückkehrte, war er fest entschlossen, nie wieder ein unbeteiligter Zuschauer zu sein. Er trat in die Kommunistische Partei ein und kämpfte sein Leben(28) lang für den Sozialismus.
Es gab viele gute Gründe, im Zweiten Weltkrieg(141) und darüber hinaus neutral zu bleiben. Manche Menschen waren aktiv unparteiisch, weil sie mit keiner der beiden Seiten sympathisierten, während andere passiv neutral waren und lediglich vermeiden wollten, in eine Auseinandersetzung hineingezogen zu werden, die ihrer Meinung nach nicht ihre war. Viele Menschen und viele Länder wollten sich nicht beteiligen, da sie befürchteten, sich für die falsche Seite zu entscheiden. Für einige wenige war die Neutralität ein moralisches Ideal. In Curwens(29) Fall war die pazifistische(5) Haltung eine Kombination von Prinzipien und »reiner Lust zur Rebellion«. Aber früher oder später sah sich fast jedermann gezwungen, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Und wer diese Entscheidung verweigerte, musste oft feststellen, dass andere sie für ihn fällten.
Geschichten wie die Anthony Curwens(30) sind selten, weil er zumindest selbst entscheiden konnte, ob er am Zweiten Weltkrieg(142) teilnehmen wollte. Er hatte das Glück, in einer Gesellschaft zu leben, die ihm die Chance gab, die Teilnahme am Krieg zu verweigern – aber auch er musste sich zwei Tribunalen stellen und beweisen, dass er es nicht aus Feigheit, sondern aus Gewissensgründen ablehnte, in den Kampf zu ziehen. In den meisten anderen Ländern wäre diese pazifistische(6) Haltung vollkommen undenkbar gewesen – entweder weil der soziale Druck zu groß gewesen wäre oder weil die Gesellschaft ein solches Verhalten einfach nicht erlaubt hätte. In der Geschichte des Krieges wimmelt es von Berichten über Menschen in besetzten Ländern, die versuchten, sich nicht an der Gewalt zu beteiligen, aber von ihrem Gewissen, von ihren Nachbarn oder von den verschiedenen Streitkräften oder Milizen, die im Krieg das Geschehen bestimmten, dazu gezwungen wurden.
Nicht nur einzelne Menschen versuchten vergeblich, im Krieg eine neutrale Haltung zu bewahren: Auch Nationen scheiterten mit diesem Vorhaben. Norwegen(8), Dänemark(2), Belgien(7), die Niederlande(12) und Luxemburg(1) bezeichneten sich vor dem Krieg als neutrale Länder, was sie jedoch nicht davor bewahrte, im Jahr 1940 von deutschen(109) Truppen besetzt zu werden. Die neutralen Länder Estland(2), Lettland(2) und Litauen(4) wurden von der Sowjetunion(224) überfallen. In Südostasien(4) hielt Thailands(1) Neutralität die Japaner(136) nicht davon ab, in dem Land einzumarschieren, um sein Territorium für ihre Truppentransporte zu nutzen; die autoritäre Regierung Thailands verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, und das Land verbrachte den Rest des Krieges in einem unfreiwilligen Bündnis mit Japan(137). In Lateinamerika(14) pochten Argentinien(6) und Chile(2) im Zweiten Weltkrieg(143) lange Zeit auf ihre Neutralität, sahen sich jedoch unter dem Druck der Vereinigten Staaten(299) schließlich 1944 beziehungsweise 1945 gezwungen, diese Haltung aufzugeben. Die Länder, die unter einer Kolonialherrschaft standen, hatten nie eine Wahl: Indien(26), Korea(8), der Nahe Osten(10) und ganz Afrika(26) wurden gezwungen, sich auf der einen oder anderen Seite am Kampf zu beteiligen.
Nur eine Handvoll Länder durfte seinen neutralen Status während des gesamten Krieges aufrechterhalten, darunter insbesondere Irland(1), Schweden(2), die Schweiz(7), Spanien(2), Portugal(3) und der Vatikan(3). Aber sogar diese Staaten wurden oft zu Maßnahmen gezwungen, die der einen oder anderen Seite zugutekamen. Beispielsweise musste sich Schweden damit abfinden, dass die Deutschen(110) sein Territorium als Korridor für Truppentransporte an die Ostfront nutzten. Portugal wurde gedrängt, seine Überseehäfen für alliierte Schiffe und Flugzeuge zu öffnen, und die von Achsenmächten umringte Schweiz musste die Waffenlieferungen an Großbritannien(112) einstellen, während ihr Handel mit Deutschland(111) deutlich wuchs.5
In den seltenen Fällen, in denen Länder ihre Neutralität aus Überzeugung aufgaben, kam ihre wahre politische Ausrichtung zum Vorschein. Schweden(3) stellte dem norwegischen(9) Widerstand insgeheim Stützpunkte zur Verfügung. Die faschistische Regierung Spaniens(3) duldete – so wie die argentinische – bereitwillig deutsche(112) Spione auf ihrem Territorium, und der Vatikan(4) ignorierte die Sünden all derer, die den Kommunismus(100) bekämpften, selbst wenn sich herausstellte, dass einige dieser Personen gesuchte Kriegsverbrecher(21) waren. Am Ende war die Neutralität im Krieg bestenfalls ein kaum erreichbares Ziel. Im schlimmsten Fall war sie einfach Heuchelei.6
Nachdem sie im Krieg eine schmerzhafte Lektion gelernt hatten, gaben viele Länder ihren Anspruch auf Neutralität auf. Die Niederlande(13), die seit 1839 neutral waren, zählten zu Beginn des Kalten Kriegs(23) zu den Gründungsmitgliedern der NATO, jenes Militärbündnisses, das angesichts der Bedrohung durch die Sowjetunion(225) die kollektive Sicherheit Westeuropas(14) und Nordamerikas garantierte. Dasselbe galt für Norwegen(10), Dänemark(3), Belgien(8), Luxemburg(2) und Portugal(4). Die Türkei(5), die im Krieg ebenfalls neutral gewesen war, schlug sich nun auf die Seite des Westens und trat 1952 der NATO bei. Das bis dahin neutrale Spanien(4) ging ein Bündnis mit den USA ein.7 (Auf der anderen Seite wurden zwei europäische(121) Länder nach dem Krieg neutral – Österreich(6) 1955 und Finnland(2) 1956 –, wobei dies jedoch in beiden Fällen von der Sowjetunion(226) erzwungen wurde, welche die Neutralität dieser Länder zur Vorbedingung des Abzugs ihrer Truppen machte).
Andere Teile der Welt folgten diesem Beispiel. Thailand(2) gab die Bemühungen um Neutralität auf und wurde ein Gründungsmitglied der SEATO, des südostasiatischen(5) Gegenstücks zur NATO. 1947 festigten in Lateinamerika(15) Länder wie Chile(3) und Argentinien(7), die im Zweiten Weltkrieg(144) genötigt worden waren, die USA zu unterstützen, mit dem Vertrag von Rio freiwillig ihre Bindung an die Supermacht(302) – vielleicht nicht aus wirklicher Liebe, aber zumindest aus gemeinsamer Furcht vor dem Kommunismus(101). Nach Beginn des Kalten Kriegs(24) war es für Lateinamerika(16) praktisch unmöglich, neutral zu bleiben. Jene Länder, die kein Lippenbekenntnis zum antikommunistischen Weltbild der USA ablegten, wurden wie Guatemala(2) im Jahr 1954 zu einem Regimewechsel gezwungen oder von Washington(12) so hartnäckig – und unbeholfen – bedrängt, dass sie sich wie Kuba(4) im Jahr 1961 gezwungen sahen, sich in die offenen Arme der Sowjetunion(227) zu flüchten.8
Einmal mehr verhielten sich selbst jene Nationen, die im Kalten Krieg(25) an ihrer Neutralität festhielten, nicht immer wirklich neutral. Schweden(4) beispielsweise wurde wirtschaftlich in den Westen integriert, kaufte regelmäßig Waffen von Großbritannien(113) und den USA (jedoch nie von der Sowjetunion(228)) und führte sogar im Auftrag der NATO Luftaufklärungsmaßnahmen über sowjetischem(229) Territorium durch.9 Die Schweiz(8) war ein zutiefst konservatives Land, das in seiner pathologischen Furcht vor dem Kommunismus(102) geheime Abkommen mit der NATO schloss, große Mengen an Waffen im Westen kaufte und sogar mit dem Bau einer eigenen Atombombe(61) liebäugelte.10 Zudem startete die schweizerische(9) Bundespolizei ein groteskes und illegales Programm zur Überwachung ihrer eigenen Bevölkerung, das erst nach dem Ende des Kalten Kriegs(26) aufgedeckt wurde. Dabei erhielt sie Unterstützung von Tausenden Geschäftsleuten, Politikern, Militärangehörigen, Mitarbeitern von Denkfabriken und »besorgten Bürgern«, die bereitwillig ihre Nachbarn bespitzelten und den Behörden jede linksgerichtete Aktivität meldeten.11 Die Denkweise dieser Bürger war ein wichtiger Bestandteil des nationalen Unterbewusstseins. So wie Curwen(31) unfähig war, seine Neutralität angesichts eines korrupten und bankrotten chinesischen(58) Systems aufrechtzuerhalten, waren diese »besorgten Bürger« nicht imstande, ihr Misstrauen gegenüber dem Kommunismus(103) zu unterdrücken, gleichgültig, wie neutral ihr Land zu sein vorgab.
DIE BEWEGUNG DER BLOCKFREIEN Die Idee der Neutralität erwies sich sowohl für individuelle Menschen als auch für einzelne Nationen oft als Illusion, aber wie sah es in der Staatengemeinschaft aus? In der Nachkriegszeit gab es zwei große internationale Organisationen, die sich als neutral bezeichneten, genauer gesagt als »blockfrei« (da der Terminus »neutral« eine spezifische rechtliche Bedeutung hatte). Dies waren zum einen die Vereinten Nationen(37) selbst und zum anderen eine Gruppe von Ländern, die als »Bewegung der blockfreien Staaten« bezeichnet wurde. Gelang es diesen internationalen Einrichtungen besser, ihre Neutralität zu wahren?
Die Fehltritte der Vereinten Nationen sind allgemein bekannt. In den vierziger und fünfziger Jahren wurde die Organisation von den USA dominiert, die den Sitz der UNO beherbergten, das meiste Geld für die Arbeit der Organisation bereitstellten und die nahezu bedingungslose Unterstützung der großen Mehrheit der Gründungsmitglieder genossen. In der Frühzeit der Organisation verhinderten nur der Sicherheitsrat und insbesondere das sowjetische(230) Vetorecht, dass sich die UNO praktisch in ein Instrument der amerikanischen Außenpolitik verwandelte.12
Die Blockfreien-Bewegung hatte andere Probleme. Offiziell gegründet wurde die Organisation 1961, aber ihren Ursprung hatte sie in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg(145), als zahlreiche asiatische(42) Länder kurz vor der Unabhängigkeit standen. Dem neuen indischen(27) Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru(7) schien es angesichts der Zerstörungen im Weltkrieg nur vernünftig, sich »aus der Machtpolitik der gegeneinander verbündeten Gruppen herauszuhalten, die in der Vergangenheit zu Weltkriegen geführt hat und in Zukunft zu noch größeren Katastrophen führen kann«.13 Noch wichtiger war, dass Nehru(8) nach dem langen Unabhängigkeitskampf keinen Grund sah, die Außenpolitik Indiens den Interessen äußerer Mächte unterzuordnen. »Indem man sich mit einer Macht verbündet«, erklärte er(9) 1951 im indischen Parlament, »gibt man seine Meinung und die Politik auf, die man normalerweise verfolgen würde, weil jemand anders will, dass man eine andere Politik betreibt.«14 Die Folge war, dass Indien sein neues Leben als unabhängiges Land mit einer strikt neutralen Außenpolitik begann.
Denselben Weg wählten andere asiatische(43) Länder, als sie die Unabhängigkeit erlangten, darunter Indonesien(9), dessen Präsident Sukarno(3) den Kalten Krieg(27) als weitere Manifestation desselben Imperialismus betrachtete, von dem sich sein Volk gerade erst befreit hatte.15 Ähnlich verhielten sich arabische Länder wie Ägypten(8), das eine »positive Neutralität« als »die einzige weise Politik« betrachtete, sowie afrikanische(27) Länder, deren Regierungen teilweise forderten, den ganzen afrikanischen(28) Kontinent in eine neutrale Zone zu verwandeln. Der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser(2) ging so weit, die Politik der Nichteinmischung als »Ausdruck des Gewissens der Menschheit« zu bezeichnen, denn es sei eine Politik »gegen Dominanz und Ungleichheit, gegen Militarismus, gegen Atomexperimente, für den Frieden und die Unabhängigkeit der Nationen«. So wie sich Anthony Curwen(32) zum Wohl seines Gewissens für den Kommunismus(104) entschied, entschied sich Nasser zum Wohl seines Landes für die Bündnisfreiheit.16
In den ersten anderthalb Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg(146) gewann die Bewegung der blockfreien Länder rasch an Bedeutung. 1955 versammelten sich Vertreter von 29 afrikanischen(29) und asiatischen(44) Ländern in Bandung(2) zu einer Konferenz und stellten klar, dass sie die Einmischung der Großmächte in ihre Angelegenheiten nicht länger dulden wollten. Der »Geist von Bandung« breitete sich rasch in der kolonialen Welt aus, und auf der Gründungskonferenz der Bewegung der blockfreien Staaten in Belgrad(1) im Jahr 1961 erfasste er auch Europa(122) und Lateinamerika(17). Am Ende des 20. Jahrhunderts hatte die Bewegung 114 Mitglieder, darunter 37 asiatische(45), über 20 lateinamerikanische(18) und sämtliche afrikanischen(30) Länder. Seitdem ist sie weiter gewachsen: Kurz nach der Jahrtausendwende traten ihr mehrere karibische Staaten(3) bei, und Fidschi(1) sowie Aserbaidschan(1) wurden 2011 in die Gruppe aufgenommen.17
Es gibt jedoch seit jeher Zweifel an der tatsächlichen »Blockfreiheit« dieser Organisation. Viele ihrer Mitgliedstaaten waren offenkundig mit dem einen oder anderen Bündnisblock verbunden. So wurde die Volksrepublik China(59) zur Konferenz in Bandung(3) eingeladen, obwohl sie ein kommunistischer(105) Staat war und sich zum Bündnis mit der Sowjetunion(231) bekannte. Kuba(5) gehörte sechs Jahre später zu den Gründungsmitgliedern der Organisation, obwohl es nur sechs Monate später der Sowjetunion gestattete, Atomraketen auf seinem Territorium zu stationieren. Zypern(2), ein weiteres Gründungsmitglied, beherbergte britische(114) Militärstützpunkte, und Saudi-Arabien(2) und Pakistan(5) unterhielten enge Beziehungen zu den USA. Mehrere frankophone afrikanische(31) Länder, darunter Senegal(1) und Gabun(1), hielten an der militärischen Zusammenarbeit mit Frankreich(86) fest. Viele dieser angeblich blockfreien Staaten gingen Militärbündnisse mit wichtigen Mächten ein und halten bis heute daran fest. All das steht in klarem Widerspruch zu den Prinzipien, welche die Bewegung in ihren Dokumenten festgehalten hat.18
Darüber hinaus hat die Bewegung als Ganze sehr viel häufiger gegen die Vereinigten Staaten(307) Stellung bezogen als gegen die Sowjetunion(232). Insbesondere in den siebziger Jahren schlug sie sich in den meisten Fragen auf die Seite der Sowjetunion und warf dem Westen, insbesondere den Vereinigten Staaten(308), Wirtschaftsimperialismus, Gräueltaten in Vietnam(6) und politische und militärische Einmischung in Lateinamerika(19) vor. An die Spitze der Kritiker setzte sich Kuba(6), das enge Beziehungen zur Sowjetunion(233) pflegte und dessen Haltung von einer wachsenden Zahl blockfreier Länder geteilt wurde, die sich vielfach ebenfalls dem Marxismus zuwandten.19
Am Ende erwies sich die »Blockfreiheit« ebenso als Illusion wie die »Neutralität«. In einer Welt, in der fast jeder politische Schritt von der einen oder anderen Seite gutgeheißen oder abgelehnt wurde, war es praktisch unmöglich, einen Mittelweg zu finden. Das vielleicht einzige Land, dem das weitgehend gelang, war Birma, das so weit ging, sich von der übrigen Welt abzuschotten; dieses Land nahm eine beinahe pazifistische Position ein und zog sich 1979 sogar für einige Jahre aus der Blockfreien-Bewegung zurück, weil ihm die zunehmende Voreingenommenheit der Organisation Sorgen machte.20 Aber ein Land, das Teil der Welt sein wollte, hatte eigentlich keine andere Wahl, als sich für eine Seite zu entscheiden. Und bei der Wahl der Seite konnte es wie Anthony Curwen(33) nur seinem Gewissen folgen, welchen Weg auch immer dieses ihm weisen mochte.
Doch das ist nicht die ganze Geschichte. Die Versuchung ist groß, Konzepte wie »Neutralität« und »Blockfreiheit« ausschließlich als Reaktionen auf die Blockbildung der Supermächte(309)(234) nach dem Zweiten Weltkrieg(147) zu betrachten, aber die Situation war natürlich sehr viel komplexer. Es war noch eine Vielzahl weiterer, ebenso starker Kräfte am Werk. Es war nicht der Kalte Krieg(28), der Anthony Curwen(34) dazu bewegte, sich dem Kommunismus(106) zuzuwenden; der Grund waren vielmehr die ganz spezifischen örtlichen Umstände, mit denen er konfrontiert wurde. Andere Menschen mit anderem Hintergrund entschieden sich unter anderen Umständen für die andere Seite und wandten sich den chinesischen(60) Nationalisten zu. Auch Länder orientierten sich bei der Wahl ihres außenpolitischen Kurses nicht immer am internationalen Umfeld – oft hatten ihre eigene Geschichte und ihre heimischen Probleme den größten Einfluss auf ihre Entscheidungen. Dass sich die Schweiz(10) nach 1945 entschloss, neutral zu bleiben, hatte beispielsweise weniger mit dem Kalten Krieg als mit Nationalstolz zu tun. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Neutralität zu einem definierenden Merkmal der schweizerischen Identität, mit dem sich das Land von seinen Nachbarn abgrenzte. Paradoxerweise war dieser Nationalstolz auch der Grund dafür, dass das Land seine Neutralität insgeheim aufgab, da die schweizerische Elite den klassischen Irrtum beging, die Bedeutung ihres Landes für die europäische(123) und globale Politik erheblich zu überschätzen.21
Ähnliche Kräfte wirkten auf die Bewegung der blockfreien Staaten. Wie der jamaikanische(1) Ministerpräsident Michael Manley(1) im Jahr 1979 erklärte, entstand die Bewegung der Blockfreien »nicht einfach, weil es Blöcke gab«: Andere Gründe spielten eine sehr viel größere Rolle als der Kalte Krieg(29).22 In ihrer Frühzeit war der Gegensatz zwischen den USA und der Sowjetunion(235) für diese Länder zweitrangig – es ging ihnen um den Kampf gegen den europäischen(124) Kolonialismus. »Der ideologische Konflikt ist nicht, ich wiederhole, nicht das Hauptproblem unserer Zeit«, erklärte Sukarno(4) auf der Konferenz von Belgrad(2). »In jedem einzelnen Fall sind die Ursachen, die Wurzeln der internationalen Spannung der Imperialismus und Kolonialismus und die erzwungene Teilung von Nationen.«23 Die höchste Priorität für die Blockfreien-Bewegung und insbesondere für die asiatischen(46) und afrikanischen(32) Länder, die den Großteil ihrer Mitglieder stellten, hatte daher der Kampf um ihre Unabhängigkeit von den alten Kolonialreichen Großbritannien(115), Frankreich(87), Belgien(9), Portugal(5) und Niederlande(14). Mit dem Kalten Krieg beschäftigten sich die blockfreien Länder eigentlich nur, weil er ihrem Streben nach Unabhängigkeit im Weg stand.
Ihre große Kraft schöpfte die Blockfreien-Bewegung aus dem Gefühl des historischen Unrechts, das weiße, vorwiegend europäische(125) Kolonialherren den Völkern Asiens(47), Afrikas(33) und letzten Endes auch Lateinamerikas(20) zugefügt hatten. In dieser Situation kamen die wirksamsten Mythen der Nachkriegszeit zum Einsatz: Die Völker Afrikas(34) und Asiens(48) wurden als Opfer der Geschichte, aber auch als Helden der nationalen Befreiung porträtiert. Sie erhoben sich aus den Trümmern der zusammengebrochenen europäischen Großreiche. Der Krieg hatte nicht nur die alte Welt zerstört, sondern der Menschheit auch die Chance eröffnet, »die Welt neu aufzubauen«, wie es Sukarno(5) ausdrückte.24
Hinter all der Rhetorik von Freiheit, Gerechtigkeit und Weltfrieden verbarg sich dieselbe Kraft, welche die Vereinigten Staaten(311), die Sowjetunion(236) und die meisten anderen Länder der Welt antrieb: der Nationalismus. Der Nationalismus hatte sämtliche Unabhängigkeitsbewegungen gespeist, und der Nationalismus inspirierte die blockfreien Staaten, sich zusammenzutun, um größeren Einfluss auf die Weltpolitik zu erlangen. »Im Grunde«, erklärte Habib Bourguiba(1), der erste Präsident Tunesiens(2), 1961 auf der Belgrader(3) Konferenz, »ist der Nationalismus für unsere ehemals kolonisierten Völker ein Kampf für die Würde des Menschen in all ihren Aspekten gewesen.«25