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Die Geburt einer asiatischen(49) Nation

Was ist eine Nation? Definiert sie sich als das Land, das ein Volk sich erwählt und als seine Heimat bezeichnet? Oder sind es andere, schwerer greifbare Merkmale wie eine gemeinsame Sprache oder Religion(17) oder ein gemeinsames kulturelles Erbe, die eine Nation ausmachen? Kann eine Nation sich über ihre politischen Überzeugungen definieren, und, wenn dem so ist, hat sie das Recht, besagte Überzeugungen direkt oder indirekt anderen aufzuzwingen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg(148) riefen Dutzende Nationen ihre Unabhängigkeit aus und mussten sich gleich danach mit derartigen Fragen herumschlagen. Fast ausnahmslos fanden sie schnell heraus, dass es keine allgemeingültige Definition dafür gibt, was eine Nation ist. Eine Nation ist eine »vorgestellte Gemeinschaft«, das ist auch schon alles – und diese Gemeinschaft wandelt sich, je nachdem, wer sie sich vorstellt. Sie definiert sich gleichermaßen über die Nichtzugehörigkeit wie über die Zugehörigkeit zu ihr; aber ihre Feinde können wechseln, desgleichen politische Überzeugungen, religiöse(18) Glaubensrichtungen und sämtliche anderen kulturellen Referenzpunkte. Auch Ländergrenzen können sich verändern: Wenn die Demarkationslinie zwischen zwei Nationen lediglich aus einer Linie auf einer Landkarte besteht, wie können wir dann hundertprozentig sagen, wer »wir« und wer »sie« sind?

Eine der ersten neuen Nationen, die sich 1945 mit dieser Herausforderung konfrontiert sah, war Indonesien(10); der Prozess, den dieses Land durchlief, zeigt, wie schier unerträglich es war, vor einem unbeschriebenen Blatt zu stehen. Die Menschen, die im August 1945 ihre Unabhängigkeit erklärten, hatten die Freiheit, sich so zu definieren, wie sie es wollten, doch es fiel ihnen schwer, irgendeine Gemeinsamkeit zu finden. Das Territorium, das sie für sich beanspruchten, umfasste 19000 Inseln, manche davon lediglich Sandbänke und Atolle, andere groß und dicht besiedelt. Die dort lebenden Menschen gehörten mehr als 200 verschiedenen kulturellen und ethnischen Gruppen an. Sie sprachen mehr als dreißig verschiedene Sprachen und Dialekte, hatten unterschiedliche Sitten und Gebräuche, unterschiedliche Religionen(19) und sehr unterschiedliche Beziehungen zur Moderne. Die hinduistischen(5) Bauern in Bali(1) hatten praktisch nichts mit den muslimischen(4) Ölarbeitern in Aceh(1) oder mit den christlichen(9) Plantagenarbeitern in Ambon(1) gemeinsam. Die urbane Elite Jakartas(1) war Welten entfernt von der indigenen Dayak-Bevölkerung in Kalimantan(1), die sich aus Jägern und Sammlern zusammensetzte. Die nahezu einzige Verbindung zwischen all diesen Gruppen bestand darin, dass sie von den Niederländern(15) erobert worden waren, und einige von ihnen erst vor Kurzem. Doch abgesehen von dem allen gemeinsamen Hass auf den Kolonialismus gab es keinen besonderen Grund, weshalb sie sich zu einer gemeinsamen Nation zusammenfinden sollten.1

Und doch schlossen sie sich zusammen. Wie dies geschah, sagt einiges darüber aus, was es nach dem Zweiten Weltkrieg(149) bedeutete, eine neue Nation zu sein, und auch viel über die Tücken und Fallstricke der »Freiheit«.

Vor dem Zweiten Weltkrieg(150) wurde Indonesien(11) von den Niederländern(16) beherrscht und trug den Namen »Niederländisch-Ostindien(2)«. Doch während der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts war in dem Land eine kleine, entschlossene nationalistische Bewegung entstanden, speziell auf der Insel Java(1). Zu den Aktivisten gehörte eine junge Lehrerin und Journalistin namens Trimurti(1); sie trat 1933 in die Indonesische Nationalpartei ein. Trimurti war bis zu Kriegsbeginn viele Male mit der niederländischen Obrigkeit in Konflikt geraten. Nachdem sie ihre Grundschulklasse ausdrücklich instruiert hatte, »sich zu weigern, von einem anderen Land beherrscht zu werden«, durfte sie nicht mehr unterrichten. Später verbüßte sie(2) eine neunmonatige Gefängnisstrafe, weil sie subversive Flugblätter verteilt hatte. Als 1942 die Japaner(138) angriffen, saß sie erneut im Gefängnis, diesmal, weil sie einen von ihrem Mann Sayuti Melik(1), ebenfalls Mitglied der Nationalisten, verfassten Artikel veröffentlicht hatte, in welchem er schrieb, die Niederländer(17) und die Japaner seien gleich schlimm. »Die Niederlande(18) und Japan(139) sind wie der Tiger und das Krokodil«, hieß es in dem Artikel. »Beide sind gefährlich. Die Indonesier(12) täten besser daran, zu erstarken und sich auf die Unabhängigkeit vorzubereiten.«2

Als die japanische(140) Armee Java(2) spornstreichs eroberte, feierten viele von Trimurtis(3) Landsleuten, weil sie glaubten, sie würden nun endlich befreit. Trimurti(4) selbst wurde kurz nach dem Eintreffen der Japaner aus dem Gefängnis entlassen. Doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass weder sie noch ihr Land wirklich frei waren: An die Stelle eines Imperiums war lediglich ein anderes getreten. Trimurtis Verdacht bestätigte sich im August desselben Jahres, als sie(5) erneut verhaftet wurde, diesmal von den Kempeitai(5).

Sie(6) sollte alsbald erfahren, dass die Niederländer(19) und die Japaner(141) einander doch nicht so ähnlich waren. Unter den Niederländern(20), erinnerte sie sich, »war es nicht so schlimm. Wir wussten, was wir zu erwarten hatten, wir saßen unsere Zeit ab und wurden dann freigelassen. Im Gefängnis mussten wir arbeiten. Das war es auch schon. In japanischer Haft war es ganz anders.«3 Diesmal zeigten die Vernehmenden keine Gnade. Sie schlugen Trimurti(7) wiederholt, bis sie halb gelähmt auf dem Boden lag, und führten dann ihren Mann(2) herein, damit er sah, was man ihr angetan hatte. Es stellte sich heraus, dass sie sich in Wirklichkeit gar nicht für sie interessierten – sie wollten nur ein Geständnis aus ihrem Mann herauspressen, den man beschuldigte, eine antijapanische Widerstandszelle zu gründen. Er warf nur einen kurzen Blick auf die am Boden Liegende und unterschrieb dann das Geständnis. »Es war das erste Mal, dass ich(8) meinen Mann(3) Tränen vergießen sah.«4

Darauf folgte eine körperlich und emotional ungeheuer harte Zeit. Trimurtis(9) Mann(4) wurde bis zum Kriegsende ins Gefängnis gesteckt, während man sie in Semarang unter Hausarrest stellte. Sie konnte nicht arbeiten und brachte sich und ihre Kinder durch, indem sie nacheinander ihre Habseligkeiten verkaufte, bis so gut wie nichts mehr übrig war.

1943 wurde sie dann von Sukarno(6) gerettet, einem der wichtigsten politischen Führer Indonesiens, der Trimurti(10) seit ihrer frühen Aktivistenzeit kannte. Die Japaner(142) hatten Sukarno zugestanden, eine von ihnen streng beaufsichtigte nationalistische Regierung zu bilden – nicht etwa weil sie die indonesische(13) Unabhängigkeit befürworteten, sondern weil sie hofften, eine solche Regierung als ihre Marionette benutzen zu können. Als Sukarno(7) von Trimurtis misslicher Lage erfahren hatte, hatte er gefordert, sie(11) müsse nach Jakarta(2) kommen und für ihn arbeiten.

Im Lauf der nächsten beiden Jahre erlebte Trimurti(12), wie sich ihr Land veränderte. »Fast jeden Tag sah ich in Jakarta(3) erst vor Kurzem zwangsverpflichtete Sklavenarbeiter(19) tot am Straßenrand oder in halbtotem Zustand in Seitenstraßen liegen«, erinnerte sie sich später. Zum ersten Mal hatte sie(13) das Gefühl, nichts dagegen unternehmen zu können. »Ich konnte diese Vorfälle nicht in einer Zeitung publik machen. Damals gab es keine unabhängigen Zeitungen, die hätten schildern können, was sich gerade im Land zutrug. Alle Zeitungen gehörten den Japanern(143) und wurden streng kontrolliert.«5 Ihr(14) blieb nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben und abzuwarten, wie der Krieg weiterging.

Abb. 33: S. K. Trimurti(15) einige Jahre nach dem Krieg.

Dann änderte sich endlich etwas. Als sich 1944 das Blatt zuungunsten Japans(144) wendete, machte die Militärregierung allmählich einige Zugeständnisse. Die Indonesier(14) durften wieder ihre Nationalflagge hissen und ihre Nationalhymne singen, die »Indonesia Raya«. 1945 wurde Trimurti(16) zu einer Konferenz eingeladen, auf der über die Frage diskutiert wurde, wie man sich am besten auf die Unabhängigkeit vorbereite. Die Japaner begannen sogar, einige politische Gefangene freizulassen, darunter auch Trimurtis Mann(5). Dann sickerten im August Nachrichten durch, über Japan(145) sei eine Art Wunderbombe explodiert. Etwa eine Woche später kapitulierten die Japaner bedingungslos. Plötzlich war der Krieg vorbei.

Ab diesem Zeitpunkt überschlugen sich die Ereignisse. Anstatt abzuwarten, dass man ihnen die Unabhängigkeit gewährte, dachten einige der radikaleren Nationalisten, es würde eine positive Botschaft aussenden, wenn sie dies selbst in die Hand nähmen. Sukarno(8) und der neben ihm wichtigste politische Führer, Mohammad Hatta(1), waren zunächst dagegen, da sie befürchteten, ein solcher Schritt könne die Japaner(146) provozieren; doch nach einigen heftigen Auseinandersetzungen mit dem jungen Flügel der Bewegung stimmten sie schließlich zu. Und so schrieb Trimurtis(17) Ehemann(6) auf der Schreibmaschine eine kurze Erklärung. Trimurti selbst brach mit einer anderen Gruppe auf, die den japanischen(147) Rundfunksender unter ihre Kontrolle brachte.

Am 17. August 1945, zwei Tage nach der japanischen(148) Kapitulation, verlas Sukarno(9) die Unabhängigkeitserklärung. Es war eine kurze Erklärung, weder poetisch noch in irgendeiner Weise pathetisch – es wurden lediglich die Tatsachen genannt: Der Kolonialismus sei zu Ende und die indonesische(15) Nation geboren.

Heute erinnert man sich an S. K. Trimurti(18) als eine von einer Handvoll Personen, die bei der Unterzeichnung der Erklärung persönlich zugegen waren. Es war ein Augenblick des Triumphs, der Trimurti mit der gesamten Nation verband: Nach den vielen Jahren, in denen sie von fremden Mächten verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und unterjocht worden war, hatten sie(19) und ihre Landsleute endlich die Hand ausgestreckt und nach der Freiheit gegriffen.

MERDEKA! Trimurtis(20) Geschichte ist ein inspirierender Bericht vom Triumph allen Widrigkeiten zum Trotz, und es ist verlockend, diesen als gelungenes Beispiel für einen friedlichen Protest zu betrachten, der über Unterdrückung und Gewalt siegte. Leider endet die Geschichte hier nicht. Indonesien(16) nach dem Krieg war ein Land, in dem Chaos herrschte. Viele der kolonialen Machtstrukturen, welche die Niederländer(21) im Lauf des vorangegangenen Jahrhunderts aufgebaut hatten, wurden während des Krieges von den Japanern(149) weggefegt. Nun wurden die Japaner(150) selbst weggefegt, und Sukarnos(10) frischgebackene nationale Regierung erfreute sich zwar im Prinzip massiver Unterstützung seitens des Volks, hatte praktisch jedoch noch keine wirkliche Macht. Es würde dauern, einen nationalen Polizei- und Justizapparat sowie eine nationale Armee auf die Beine zu stellen – ganz zu schweigen von einer angemessenen demokratischen(12) Ordnung, mit der alle zufrieden wären. Bis dahin gab es niemanden, der in der Lage war, Kontrolle über ein Volk auszuüben, das bei dem Gedanken an Freiheit in wilde Begeisterung ausgebrochen und durch den Gedanken an Rache in höchstem Maße unberechenbar geworden war.

So stürzte die ganze Nation eine Zeit lang in Anarchie, als alle möglichen lokalen Bürgerwehren, Kriegsherren, revolutionären Jugendgruppen und Verbrechergangs das Machtvakuum für sich nutzten. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen all diesen Gruppen war die Furcht, die Niederländer(22) könnten zurückkehren und ihre Kolonie zurückfordern – doch darüber hinaus hatten sie sehr wenig gemeinsam. An der Nordküste Javas(3) beispielsweise, in dem Gebiet der sogenannten ›Drei Regionen‹, schlossen ›Kampfhähne‹ genannte Schlägerbanden sich mit örtlichen Kommunisten(107) zusammen und begannen mit einer umfassenden Säuberung der örtlichen Machtstrukturen. Örtliche Funktionäre und Dorfvorsteher wurden vor ihren Gemeinden öffentlich gedemütigt, und Eurasier und andere Menschen, die man als Niederländer(23)-Sympathisanten im Verdacht hatte, wurden umgebracht. In Zentral- und Ostjava(4) dagegen gaben muslimische(5) Bürgerwehren die Richtung vor und kämpften im Namen ihrer traditionellen religiösen(20) Werte gegen Linksgerichtete. An den Küsten Sumatras(1) und Kalimantans(2) erfolgten brutale Angriffe auf malaiische Sultane, die sowohl unter den Niederländern(24) als auch unter den Japanern(151) geherrscht hatten. Die Herrscher von Aceh(2) wurden ebenfalls alle von linksorientierten Gruppen exekutiert oder abgesetzt. Chinesische(61) Kaufleute wurden überall auf dem Archipel attackiert, weil sie kollaboriert oder das Volk »ausgebeutet« hatten oder einfach, weil sie Chinesen(62) waren: In einer Gegend unweit von Jakarta(4) wurden so viele Leichen ermordeter Chinesen in Brunnen geworfen, dass die örtliche Bevölkerung kaum mehr an frisches Wasser kam. Zwischenzeitlich riet man Europäern, die seit 1942 in höllischen Gefangenenlagern interniert waren, sich nicht in die Freiheit hinauszuwagen, auch wenn der Krieg angeblich vorbei war. Angesichts der rachelüsternen Atmosphäre draußen war es sicherer, unter japanischer(152) Bewachung zu verbleiben.6

Trimurti(21) erlebte diese chaotische Atmosphäre hautnah mit. Im Oktober 1945 schickte man sie nach Semarang, wo sie dazu beitragen sollte, die Nachricht von der merdeka – »Freiheit« auf Indonesisch – zu verbreiten, und sie wurde in Kämpfe zwischen revolutionären indonesischen Jugendgruppen und japanischen(153) Soldaten hineingezogen. Kurz darauf sandte man sie und ihren Mann während der Drei-Regionen-Revolte nach Tegal(1), wo ihr Mann(7) gefangen genommen und beinahe von kommunistischen(108) Rebellen getötet wurde. Als sie(22) sich nach Yogyakarta(1) aufmachte, um Sukarno(11) um Verstärkung zu bitten, wurde sie als »holländische Spionin« verhaftet. Sie kam nur deshalb mit dem Leben davon, weil sie zufällig den Rebellenführer kannte, der seinen Männern befahl, sie gehen zu lassen. Dies war weit entfernt von dem glücklichen Ausgang, um den sie(23) und ihre Mitnationalisten so hart gekämpft hatten.

Das war also die Situation, die sich den Alliierten(33) bot, als sie schließlich im September und Oktober auf den Inseln eintrafen. Die Briten(116), die Erfahrung darin besaßen, koloniale Unruhen einzudämmen, wussten, dass sie als Erstes die Ordnung wiederherstellen mussten, doch gingen sie stets davon aus, dies würde relativ unkompliziert vonstattengehen. Die Niederländer(25) hatten ihnen versichert, sie würden vom Großteil des Volks als Befreier begrüßt werden und wären nach einer kurzen, geordneten Machtübergabe in der Lage, sich elegant zurückzuziehen und ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Kolonien in der Region zu richten.7

Die Niederländer(26) gingen davon aus, sie würden es schaffen, ihre Kolonialherrschaft über das Land ohne große Probleme wiederherstellen zu können, doch sie schätzten nicht richtig ein, wie sehr sich Indonesien(17) in den vergangenen vier Jahren verändert hatte. Die Aussage, der Zweite Weltkrieg(151) habe das Land tiefgreifend gewandelt, ist noch stark untertrieben. Auch wenn in Indonesien keine der großen Schlachten des Kriegs stattgefunden hatte, so hatte das Land doch eine brutale Besatzung erlebt, die bei der Bevölkerung Bitterkeit und Wut hervorgerufen hatte. Die Japaner(154) verpflichteten Hunderttausende Zivilisten zu Zwangsarbeit. Zehntausende Frauen waren Opfer sexueller Übergriffe durch japanische(155) Soldaten geworden. Überall kam es zu Hungersnöten(24): Allein auf Java(5) fielen während der Kriegsjahre wohl etwa 2,4 Millionen Menschen dem Hungertod zum Opfer, während auf den anderen Inseln womöglich eine weitere Million verhungerte, größtenteils als Folge der japanischen(156) Kolonialpolitik. Nach dieser Erfahrung schlimmster Ausbeutung waren die Indonesier(18) nicht länger gewillt, irgendjemandes Vasallenstaat zu sein.8

Der Krieg hatte die Indonesier(19) auch anderweitig verändert. Nach zwei Jahren Sukarno(12) und Hatta(2) hatten sich die Indonesier(20) an den Gedanken gewöhnt, sich selbst zu regieren: Die Regierung während des Kriegs mochte eine Marionette der Japaner(157) gewesen sein, doch das war immer noch mehr als alles, was die Niederländer(27) den Indonesiern je zugestanden hatten. Neben ihrer frischgebackenen Regierung hatten sie auch eine frischgebackene Armee. Die Japaner hatten mehr als 35000 indonesische(21) Soldaten sowie 900 Offiziere zu »Heimatverteidigern« ausgebildet. »Ohne Ausbildung durch die Japaner wäre keiner unserer Soldaten ein Soldat geworden«, erinnerte sich ein indonesischer Nationalist Jahre später. »Auf diese Art halfen uns die Japaner; sie waren wirklich grausam, doch sie waren es, die die Soldaten ausbildeten.«9

Nach jahrelanger Propaganda »Asien(50) den Asiaten« waren die Indonesier(22) nicht länger gewillt, Lippenbekenntnisse zur angeblichen Überlegenheit der Europäer(126) abzulegen. Sie hatten gezeigt, dass sie die Niederländer(28) nicht mehr wollten und sich absolut dazu in der Lage fühlten, sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Wenn die Niederländer(29) dachten, sie könnten einfach so ins Land spazieren und ungehindert wieder die Kontrolle übernehmen, dann lagen sie falsch.

Das erste größere Anzeichen dafür, dass sich das Leben nicht so bald wieder normalisieren würde, zeigte sich in Surabaya(1). Am 13. September 1945 war eine kleine Gruppe alliierter Offiziere in der Stadt gelandet, um Verhandlungen mit den Japanern(158) zu beginnen. Ein paar Tage später feierten niederländische und eurasische Männer deren Eintreffen, indem sie an deren Hotel die niederländische Flagge hissten. Erbost formierte sich eine Gruppe aus Schülern und einheimischen Schlägertypen; einer von ihnen kletterte auf das Hoteldach und riss den blauen Streifen von der niederländischen Flagge ab, sodass diese nun aussah wie die rot-weiße indonesische(23) Nationalfahne. Es kam zu einem größeren Handgemenge, das von japanischen(159) Soldaten aufgelöst werden musste; ein Niederländer(30) erlitt tödliche Verletzungen.10

In den nächsten Tagen eskalierten die Spannungen in der ganzen Stadt. Freiheitskämpfer, örtliche Gangster und idealistische Studenten rotteten sich zusammen, gingen auf die Straße und griffen chinesische(63) Ladenbesitzer, Europäer(127), Eurasier und überhaupt alle an, die sie verdächtigten, mit den Niederländern(31) zu sympathisieren. Mehrere Tausend Europäer(128) und Eurasier wurden zusammengetrieben und ins Gefängnis von Kalisosok verfrachtet. Währenddessen begannen die Auseinandersetzungen mit japanischen(160) Soldaten ebenfalls zu eskalieren. Das Hauptquartier der Kempeitai(6) wurde belagert, und in japanischen(161) Geschäften wurden Waffen und Vorräte geplündert. Plötzlich waren die indonesischen(24) Kämpfer selbst im Besitz eines Arsenals.11

Als die Briten(117) am 25. Oktober in großer Zahl eintrafen, hatte sich eine aus indonesischen Jugendlichen und ehemaligen Heimatschutzmitgliedern bunt zusammengewürfelte Armee gebildet, die gut bewaffnet und darauf vorbereitet war, ihre Stadt gegen die Rückkehr der Niederländer(32) zu verteidigen. »Wir, die wir aufbegehren«, verkündete Sutomo(1), einer ihrer Führer, »würden Indonesien(25) lieber im Blut ertrinken und auf den Meeresgrund sinken sehen, als noch einmal kolonisiert zu werden!« Es begann sich das Gerücht zu verbreiten, dass die britischen Streitkräfte, die größtenteils aus Indern(28) und nepalesischen Gurkhas bestanden, in Wirklichkeit Niederländer(33) mit geschwärzten Gesichtern waren.12

Die Briten(118), die auf einen routinemäßigen friedenserhaltenden Einsatz eingestellt waren, hatten Mühe, die Wogen zu glätten. Überall in der Stadt brachen Scharmützel aus, die in einem massiven Angriff einheimischer Kämpfer auf britische Stellungen gipfelten. Hunderte indische(29) Soldaten wurden von den Indonesiern(26) getötet und weitere Hunderte gefangen genommen. In ihrer Verzweiflung baten die Briten Sukarno(13) und Mohammad Hatta(3), in die Stadt zu kommen und einen Waffenstillstand zu vermitteln. Die beiden taten dies, doch es dauerte nicht lange, bis erneut Kämpfe ausbrachen. Die Gemüter waren zu erhitzt, als dass man sie hätte in Schach halten können.

Als der britische(119) Befehlshaber, Brigadegeneral Mallaby(1), bei seinem Versuch, den Mob zu beruhigen, getötet wurde, verloren die Briten schließlich die Beherrschung. Im November griffen sie Surabaya(2) drei Wochen lang mit massiven Bombardements und Artilleriebeschuss an. Britische Soldaten kämpften sich von Haus zu Haus, und als verängstigte Zivilisten aufs Land flohen, wurden sie von britischen Flugzeugen bombardiert. Die Stadt konnte schließlich befriedet werden, doch dabei wurden große Teile von ihr in Schutt und Asche gelegt. Schätzungen über die Zahl der Todesopfer schwanken zwischen 2500 und 15000, zum Großteil unschuldige Zivilisten. Bis zu 90 Prozent der Einwohner flohen.13

Der gewaltige Blutzoll, den diese Auseinandersetzungen forderten, war vollkommen sinnlos. Die indonesischen(27) Kämpfer hatten gegen die geballte Feuerkraft der Alliierten(34) keinerlei Chance und weigerten sich dennoch aufzugeben, bis man sie aus der Umgebung der Stadt vertrieben hatte. Ihren Schlachtruf merdeka atau mati – »Freiheit oder Tod« – schienen sie ziemlich wörtlich zu nehmen: Es gibt zahlreiche Berichte über junge Kämpfer, die sich selbstmörderisch britischen(120) Panzern entgegenwarfen. Doch trotz der sinnlosen Verluste an Menschenleben hatten die Indonesier(28) der Welt zumindest gezeigt, dass sie ihre Unabhängigkeit nicht kampflos aufgeben würden. Die Schlacht von Surabaya(3) stand symbolisch dafür, dass merdeka etwas war, für das es sich zu kämpfen lohnte. Noch heute gedenkt man jedes Jahr am 10. November, dem indonesischen »Heldentag«, der Schlacht von Surabaya.14

Ähnliche Vorfälle ereigneten sich in den darauffolgenden Monaten und Jahren überall im Land(29). Während die Alliierten(35) versuchten, eine Zivilregierung zu installieren, brachen in Jakarta(5) jede Nacht Kämpfe zwischen proniederländischen Bürgerwehren und indonesischen(30) Nationalisten aus. In Sumatra(2), Bali(2) und Sulawesi(1) schlugen sich Tausende junger Männer und Frauen in die Wälder, lediglich mit Speeren, Messern und Handwaffen bewaffnet, die sie den Japanern(162) abgenommen hatten. Als man die nationalistischen Milizen 1946 aufforderte, die Stadt Bandung(1) aufzugeben, steckten sie sie in Brand. Im Karo-Hochland oberhalb von Medan in Sumatra folgte man diesem Beispiel, brannte 53 Dörfer nieder und verwandelte das Gebiet in ein »Feuermeer«.15

Die nachfolgenden Jahre waren eine einzige sinnlose Vergeudung von Kräften. Die Briten(121) zogen sich ein gutes Jahr nach ihrem Eintreffen aus Indonesien(31) zurück, geschlagen, müde und desillusioniert von dem ganzen Unterfangen. Die von ihnen zurückgelassene niederländische Regierung war entschlossen, mit allen Mitteln die Kontrolle über ihre Kolonie zurückzuerlangen. 1946 entsandte sie Todesschwadronen nach Sulawesi(2), die einen brutalen Feldzug gegen die Aufständischen führten. Doch obwohl schätzungsweise 6000 Personen hingerichtet wurden, widersetzten sich die Republikaner einer Befriedung. Zwischen 1947 und 1949 erfolgte seitens der Niederländer(34) eine Reihe von »Polizeieinsätzen«, vordergründig zur Wiederherstellung der Ordnung, doch auch, um ihre eigene Machtstellung zu festigen. Es gelang ihnen, weite Gebiete auf Java(6) und Sumatra(3) zu erobern, doch zu dem Preis der Vertreibung einer großen Zahl von Menschen. Diese Vorfälle waren genauso verheerend wie alles, was im Zweiten Weltkrieg(152) geschah: Zwischen 45000 und 100000 indonesische(32) Kämpfer wurden getötet, und mindestens 25000 Zivilisten verloren im Kreuzfeuer ihr Leben. Allein auf Sumatra und Java wurden mehr als 7 Millionen Menschen vertrieben.16

1949 dämmerte sogar den Niederländern(35), dass eine derartige Vergeudung unhaltbar war. Wie hart sie auch kämpften, sie konnten keine Bewegung niederschlagen, die sich nicht einschüchtern ließ und bei großen Teilen der Bevölkerung Rückhalt genoss. Auch konnten die Niederlande(36) es sich nicht leisten, die Meinung der Welt zu ignorieren. Australien(12) hatte sich schon längst lautstark zur indonesischen(33) Unabhängigkeit bekannt, es folgten Indien(30) und weitere Nationen; doch es war schließlich das Eingreifen der Amerikaner(312), das den niederländischen Ambitionen ein Ende setzte. Als Amerika damit drohte, den Niederlanden keine Unterstützung aus dem Marshallplan(7) mehr zu gewähren, rangen sich die Niederländer(37) endlich dazu durch, der Sache ein Ende zu setzen und abzuziehen. Im Dezember 1949, mehr als vier Jahre nachdem Indonesien(34) erstmals seine Unabhängigkeit erklärt hatte, war es eine freie und souveräne Nation.17

DAS ENDE DER KOLONIALREICHE Leider war Indonesien(35) nicht die einzige asiatische(51) Nation, die nach 1945 um ihre Unabhängigkeit kämpfen musste, und die Niederländer(38) waren nicht die einzige westliche Macht, die ihre Ohren vor den »merdeka!«-Schreien verschloss. Nach dem Zweiten Weltkrieg(153) spielten sich überall auf dem Kontinent ähnliche Geschehnisse ab. Das Zeitalter des europäischen(129) Kolonialismus, der Asien in den letzten beiden Jahrhunderten geprägt hatte, ging endlich zu Ende.

Das Land, dessen Erfahrungen denen Indonesiens am meisten ähnelten, war die französische(88) Kolonie (2)Indochina(1), die Vietnam(7), Kambodscha(2) und Laos(1) umfasste. Wie in Niederländisch-Ostindien(3) waren kurz vor dem Zweiten Weltkrieg(154) auch in Französisch-Indochina(3) die Japaner(163) einmarschiert. Beide Länder hatten ihre europäischen(130) Oberherren internieren lassen. Und beiden Ländern war Unabhängigkeit zugesichert worden, als der Zweite Weltkrieg langsam zu Ende ging. Die Japaner hatten in Vietnam eine Marionettenregierung installiert (unter Kaiser Bao Dai), desgleichen in Kambodscha (unter König Norodom Sihanouk(1)) und Laos (unter der Lao Issarak, der Bewegung »Freies Laos«). In allen drei Ländern hatte man die Marionetten angespornt, sämtliche Verbindungen nach Frankreich(89) zu kappen, und ihnen für irgendwann später die vollständige Unabhängigkeit zugesagt.18

Von den drei Nationen in Indochina(2) verschrieb sich Vietnam(8) am leidenschaftlichsten der Idee der Unabhängigkeit. Während des Krieges hatte sich eine Widerstandsbewegung namens Vietminh (Vietnamesische Liga für Unabhängigkeit) gebildet; deren Führer war der kommunistische(109) Nationalist Ho Chi Minh(1). Zwei Wochen nachdem Sukarno(14) die Unabhängigkeit Indonesiens ausgerufen hatte, trat Ho(2) in Hanoi vor 300000 Menschen und tat das Gleiche. In einer eloquenten Rede, in der er sowohl aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten(313) als auch aus der französischen(90) Erklärung der Menschenrechte(14) zitierte, verkündete er, das »gesamte vietnamesische Volk« sei bereit, »sein Leben und seinen Besitz zu opfern, um seine Unabhängigkeit und seine Freiheit zu schützen«.19

Ähnlich wie die Niederländer(39) in Indonesien(36) waren auch die Franzosen(91) nicht bereit, ihre Kolonie kampflos aufzugeben. Deren Rückkehr nach Vietnam(9) erfolgte mehr oder weniger nach demselben Muster. Erneut übernahmen die Briten(122) die Vorreiterrolle, diesmal, indem sie in Saigon(1) in einer blutigen Schlacht gegen die Vietminh kämpften. Auch hier zogen sich die Briten zurück, sobald die Franzosen(92) sich wieder im Land eingerichtet hatten. Es gab reihenweise Verhandlungen, Waffenstillstände wurden vereinbart und gebrochen; alles gipfelte in einem totalen Krieg zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten. Wie die Niederländer(40) in Indonesien verfügten auch die Franzosen(93) über eine überlegene Feuerkraft, eine überlegene Organisation und eine überlegene Ausbildung, konnten es aber trotzdem nicht mit einer mobilen Guerillaarmee aufnehmen, hinter der ein erheblicher Teil der Bevölkerung stand. Als die Franzosen(94) 1954 endlich den Kampf aufgaben, waren etwa 90000 französische(95) Kolonialsoldaten und womöglich bis zu 200000 Vietnamesen(10) getötet worden.20

Dieser Kolonialkrieg hinterließ ein vergiftetes Erbe. Das Land war nun zweigeteilt: die Vietminh im Norden und eine Reihe autoritärer Regierungen im Süden. Die beiden Seiten sollten die nächsten zwanzig Jahre Krieg gegeneinander führen, schlimmer noch: Die Supermächte(314)(237) wurden in ihren Konflikt hineingezogen. Der einzige gewichtige Unterschied zwischen Indonesien(37) und Vietnam(11) bestand darin, dass sich die Unabhängigkeitsbewegung in Vietnam aus selbst ernannten Kommunisten(110) zusammensetzte. Da die USA gelobt hatten, die Ausbreitung des Kommunismus mit allen notwendigen Mitteln zu unterbinden, setzten sie den Kampf mehr oder weniger dort fort, wo ihn die Franzosen(96) aufgegeben hatten. Doch ihre Bemühungen verliefen auch nicht viel erfolgreicher. Der amerikanische Krieg in Vietnam sollte schließlich als eines der größten Desaster in der Geschichte beider Nationen enden: Bis 1975 forderte er mehr als 58000 amerikanische und etwa 1,3 Millionen vietnamesische Todesopfer. Wenn das der Preis für die »Freiheit« war, dann war er fürwahr hoch und sehr blutig.21

Den anderen Teilen Französisch-Indochinas(4) erging es geringfügig besser, doch nicht für lange Zeit. Kambodscha(3) und Laos(2) wurden 1953 unabhängig, doch sollten beide Länder von dem Bürgerkrieg im benachbarten Vietnam(12), der häufig auf ihre eigenen Territorien überschwappte, stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Außerdem sollten beide bald selbst in Bürgerkriege verstrickt werden, und 1975 herrschten in beiden kommunistische(111) Regime. In Kambodscha sollte dies tragische Folgen haben: In den siebziger Jahren errichteten die Roten Khmer(1) unter Pol Pot(1) eine Terrorherrschaft(14), unter der sowohl Gesinnungs- wie auch Klassenfeinde systematisch abgeschlachtet oder dem Hungertod(25) preisgegeben wurden. Niemand weiß, wie viele Menschen die Roten Khmer genau ermordeten, doch die Schätzungen reichen von 1,6 bis 2 Millionen.22

Es lässt sich nicht sagen, ob all dies auch geschehen wäre, wenn die Franzosen(97) nicht den Versuch unternommen hätten, an ihrem dahinsiechenden Kolonialreich festzuhalten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre angesichts des ideologischen Eifers, der durch den Krieg entfesselt worden war, ein gewisses Maß an Gewalt und Chaos unabwendbar gewesen. Doch die Franzosen(98) taten sich auf der internationalen Bühne keinen Gefallen: Es war schwierig, sich als Hüter von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auszugeben, wenn man gleichzeitig die UN-Charta missachtete und den Menschen in Indochina(3) das Recht auf Selbstbestimmung verwehrte.

Im Unterschied zu den Franzosen(99) und Niederländern(41) gaben die Briten(123) nicht der Versuchung nach, an ihren asiatischen(52) Kolonien festzuhalten. Bei all ihren Fehlern schienen sie zumindest zu begreifen, dass die Welt insgesamt und damit auch Asien sich verändert hatte. Auch Großbritannien(124) hatte sich gewandelt. Es war nicht mehr dieselbe Macht wie einst und es war auf finanzielle Hilfe seitens der Amerikaner(316) angewiesen, die darauf bestanden, dass sich die Briten endgültig von ihrem Kolonialreich verabschiedeten.

In den folgenden Jahren verzichteten die Briten(125) nach und nach auf ihre asiatischen(53) Kolonien. Die erste, von der sie abließen, war das Juwel in der britischen Reichskrone, Indien(31), das 1947 unabhängig wurde. Man muss dazu anmerken, dass einer der Gründe, weshalb die Briten so danach strebten, aus dem Chaos in Indonesien(38) herauszukommen, darin bestand, dass so viele Soldaten unter ihrem Kommando Inder waren. Von indischen Soldaten zu erwarten, eine Unabhängigkeitsbewegung zu unterdrücken, während sie ihrerseits in ihrer Heimat das Gleiche anstrebten, forderte geradezu Unannehmlichkeiten heraus. Und tatsächlich desertierten etwa 600 indische Soldaten allein nach der Schlacht von Surabaya(4): Viele heirateten Indonesierinnen und blieben bis an ihr Lebensende in der Stadt.23

Birma und Ceylon(2) folgten kurz darauf und erlangten 1948 die Unabhängigkeit. Malaysia(5) wurde erst 1957 unabhängig, aber nur weil die Briten(126) zunächst unbedingt einen Aufstand kommunistischer(112) chinesischer Rebellen niederschlagen wollten; jedenfalls stellten sie schon früh unmissverständlich klar, dass sie die politische Kontrolle vollständig übergeben würden, sobald die Kommunisten besiegt seien. 1963 wurden auch Nordborneo(1) und Sarawak(1) unabhängig von Großbritannien(127) und vereinigten sich mit Malaya; daraus ging der neue Staat Malaysia(6) hervor. Singapur(4) tat das Gleiche, spaltete sich dann jedoch ab und wurde 1965 ein eigener Staat. Brunei(1), ein britisches Protektorat, wurde 1967 vollständig unabhängig. Für die nächsten dreißig Jahre war Hongkong(2) die einzige Kolonie, welche die Briten in Asien(54) behielten; 1997 wurde sie schließlich an China(64) übergeben.

Keine dieser Kolonien musste einen langwierigen Kampf um die Unabhängigkeit durchstehen. Allerdings bedeutete das nicht, dass sie von Gewalt verschont blieben. Viel von dem politischen, ethnischen und religiösen(21) Chaos, das Indonesien(39) heimsuchte, trug sich auch in Großbritanniens(128) Kolonien zu. Hongkong(3) und Singapur(5) erlebten unmittelbar nach dem Krieg, wie japanische(164) Kollaborateure gelyncht wurden. Eine Serie von Racheakten erschütterte Malaysia(7), gefolgt nicht nur von dem kommunistischen(113) Aufstand, der als Malayan Emergency bekannt wurde, sondern auch von der Verfolgung der chinesischen(65) Minderheit im Land. Im Falle von Ceylon(3), dem heutigen Sri Lanka(1), führte der Weg in die Unabhängigkeit durch Unruhen und Generalstreiks, und anschließend kam es zu wachsenden Spannungen zwischen der singhalesischen Bevölkerung und der tamilischen(1) Minderheit. Birma sah sich nur zwei Monate nach Erlangung der Freiheit mit einem kommunistischen Aufstand konfrontiert – und zehn Monate danach mit einem weiteren Aufstand seitens des Volks der Karen im Süden und Südwesten des Landes, wo diese einen eigenen, unabhängigen Staat anstrebten. Die durch den Wunsch nach Unabhängigkeit entfesselten Kräfte waren oft schwer in Schach zu halten: Alle waren sich über das Prinzip der Selbstbestimmung einig, doch wo endete diese?24

Indien(32) erlebte das größte Blutvergießen. Dort war es die religiöse(22) Gewalt, die das Land schließlich ins Chaos stürzte. Unüberbrückbare Differenzen zwischen Hindus(6) und Muslimen(6) während des Krieges und danach hatten die Briten(129) dazu gebracht, eine Trennung zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften zu erwägen: Bei der Unabhängigkeit sollte die Nation in drei Teile aufgeteilt werden – einen überwiegend hinduistischen Staat im Süden und einen zweigeteilten, überwiegend muslimischen Staat im Nordwesten und Nordosten. Doch während des Aufteilungsprozesses brach die öffentliche Ordnung vollständig zusammen. Muslime flohen aus Indien in das neu geschaffene Ost- und Westpakistan(6) (heute Pakistan und Bangladesch(4)); Hindus und Sikhs flohen in die entgegengesetzte Richtung. Auf beiden Seiten kam es zu Massakern in großem Stil. Insgesamt wurden etwa 15 Millionen Menschen vertrieben und zwischen 200000 und 1 Million Menschen getötet – die genauen Zahlen wird man nie wissen, sie sind heftig umstritten. Familien wurden auseinandergerissen und beinahe 100000 Frauen entführt und entweder vergewaltigt oder nach ihrer Entführung zur religiösen Konversion gezwungen. Das Vermächtnis aus Bitterkeit und Hass, das aus dieser humanitären Katastrophe resultierte, vergiftet seitdem das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan.25

Die letzten europäischen(131) Kolonien in Asien(55) waren die von Portugal(6). Womöglich ist es kein Zufall, dass die einzige Kolonialmacht, die nicht direkt in den Zweiten Weltkrieg(155) involviert war, auch diejenige sein sollte, die am längsten an ihren asiatischen(56) Kolonien festhielt. Osttimor(1) erklärte erst 1975 seine Unabhängigkeit von Portugal, und Macau(1) wurde erst am Ende des Jahrhunderts an China(66) übergeben. Doch auch die portugiesischen Kolonien entgingen der mit der Unabhängigkeit verbundenen Gewalt nicht. Osttimor war erst seit wenigen Tagen unabhängig, als die benachbarten Indonesier(40) dort einfielen und eine brutale Besatzung begann. Das Land musste weitere 25 Jahre Gewalt und Schrecken erdulden, bis es endlich dauerhaft unabhängig wurde.

DIE NEUE ORDNUNG Der Zweite Weltkrieg(156) verursachte die meisten dieser Ereignisse nicht direkt, aber dennoch wäre ohne ihn keines davon passiert. Der Krieg war es, der die europäischen(132) Mächte so geschwächt hatte, dass sie ihre Kolonien nicht länger beherrschen konnten. Der Krieg war es auch, der das richtige Umfeld für die nationalistischen Bewegungen in Asien(57) geschaffen hatte, sodass sie expandieren und florieren konnten. Und der Krieg war es, der ihnen die Waffen lieferte und sie in Machtpositionen katapultierte.

Doch die vielleicht größten Veränderungen, die der Krieg mit sich brachte, waren psychologischer Art. Eine ganze Generation hatte Gewalt erfahren und gesehen, dass mit Gewalt ein tiefgreifender Wandel erreicht werden konnte. Die durch den Krieg hervorgerufenen Nöte – Besatzung, Kriegsrecht, Inflation, Unterversorgung, Hunger(26) – hinterließen bei vielen Menschen das Gefühl, sie hätten nichts mehr zu verlieren. Doch die optimistische Stimmung, die mit dem Kriegsende aufkam, führte zu der Überzeugung, dass nach all den Missständen etwas Neues und Gutes in der Luft liegen musste. 

Was all die Hoffnung und Verzweiflung untermauerte, war der Glaube an die Idee der »Freiheit«. Das war den gesamten Krieg hindurch das Schlagwort gewesen, und es war nun die Parole jedes Politikers und Widerstandskämpfers in Asien(58). Laut ehemaligen Revolutionären in Sumatra(4) führte jedermann das Wort merdeka im Mund, »doch was merdeka tatsächlich war, wussten wir noch nicht, wir begriffen nicht, was Unabhängigkeit bedeutete«. Alles, was man wusste, war, dass das, »was unabhängig war, nicht kolonisiert war«.26

Unglücklicherweise hatten die diversen Gruppierungen unterschiedliche Definitionen von »Freiheit«. Für religiöse(23) und ethnische Minderheiten bedeutete sie Freiheit von Verfolgung, doch für manche ihrer Nachbarn bedeutete sie Freiheit von Ausländern und Fremden. Für Kommunisten(114) wie Ho Chi Minh(3) bedeutete sie die Befreiung von imperialistischer und kapitalistischer Ausbeutung, während sie für die Imperialisten und Kapitalisten selbst die Freiheit bedeutete, wiederherzustellen, was sie vor dem Krieg gehabt hatten, und wieder damit anzufangen, Geld zu verdienen.

In Wirklichkeit sprach keine dieser Gruppierungen von echter Freiheit im existentiellen Sinn. Was sie wirklich wollten, war nicht »Freiheit«, sondern eine Neuordnung der Macht: von Fremden auf nationale Gruppen, von den Kapitalisten auf das gemeine Volk, von »denen« auf »uns«. Dabei ging das Konzept der wahren »Freiheit« verloren. Oder, noch schlimmer, es begann, mit etwas ziemlich Erschreckendem assoziiert zu werden: mit schrankenlosem Chaos. Als der alte Imperialismus zerbrach und nichts an dessen Stelle zu treten schien als eine Atmosphäre der Gewalt und des Aufruhrs, hörten desillusionierte Menschen auf, von Freiheit zu sprechen, und begannen, sich nach einer Rückkehr zur Ordnung zu sehnen.

Was sie nicht unbedingt begrüßten, war die Tatsache, dass auch dies seinen Preis haben würde.

Abb. 34: Chittaprosads(24) Zeichnung von 1950 bringt eine nach dem Zweiten Weltkrieg(157) in Asien(59) weit verbreitete Einstellung auf den Punkt.

Die Wiederherstellung der »Ordnung« in Indonesien(41) dauerte zwanzig Jahre. Sie begann ernsthaft, als Sukarno(15) die neu gegründete indonesische(42) Nationalarmee einsetzte, um 1948 den kommunistischen(115) Aufstand in Madiun(1) niederzuschlagen. In einer leidenschaftlichen Radioansprache teilte er der Nation mit, dass sie vor einer gewichtigen Wahl stehe: den Kommunisten zu folgen, »die die Idee der indonesischen Unabhängigkeit zerstören werden«, oder Sukarno und Hatta(4) zu folgen, die »Freiheit von jeglicher Unterdrückung« bringen würden. Der Aufstand wurde unter hohen Verlusten an Menschenleben – etwa 8000 Tote allein in der Umgebung von Madiun – sowie Zehntausenden von Verhaftungen niedergeschlagen.27

Wie gewohnt stand Trimurti(24) im Mittelpunkt des Geschehens, als sie erneut verhaftet wurde. Sie wurde als potentielle Kommunistin ins Gefängnis gesteckt und befürchtete eine Zeit lang, man würde sie hinrichten. Die Anschuldigung stimmte nicht – sie war nie Kommunistin gewesen und war zum damaligen Zeitpunkt in Wirklichkeit Mitglied der gemäßigteren Labour Party. Dennoch sollte ihr dieses Stigma bis an ihr Lebensende anhaften.

Die Zerschlagung der Kommunisten(116) in Madiun(2) war aus mehreren Gründen bedeutsam. Erstens zeigte sie zweifelsfrei, dass Sukarno(16) und Hatta(5) selbst keine Kommunisten waren, und beschwichtigte damit die Ängste der Amerikaner(317), die diese bezüglich gewisser sozialistischer Maßnahmen hegten, die von Sukarno und Hatta umgesetzt wurden. Die Unterstützung der USA sollte von zentraler Bedeutung in dem diplomatischen Ringen um den Abzug der Niederländer(42) sein. Zweitens demonstrierte sie die wachsende Macht der indonesischen Armee, die inzwischen die einzige Einrichtung darstellte, die in der Lage war, dem Land irgendeine Art von Ordnung aufzuerlegen. Und zu guter Letzt schuf sie eine Art Präzedenzfall für die Zukunft: Von nun an würde die Armee unbarmherzig ihre Feinde unterdrücken, insbesondere wenn diese Feinde Kommunisten waren.

In den folgenden Jahren sollte es jede Menge weiterer Aufstände geben. 1951 versuchten die Inseln rund um Ambon(2), sich abzuspalten, desgleichen die Region Aceh(3) auf Nordsumatra in den Jahren danach. Eine Gruppe regimekritischer Oberster versuchte, einen Alternativstaat auf Sumatra(5) zu etablieren, dasselbe tat eine andere Gruppe von Dissidenten in Sulawesi(3). In Westjava(7) weigerten sich radikale Muslime(7), das Konzept eines multireligiösen(24) Indonesien zu akzeptieren, und riefen einen islamischen(3) Staat namens Darul Islam aus. Sie gewannen rasch Anhänger in anderen Teilen Indonesiens: In den fünfziger und sechziger Jahren führte Darul Islam einen terroristischen(15) Kampf, der mehr als 40000 Menschenleben forderte und zu millionenfacher Vertreibung führte. Die Fernwirkungen dieser Bewegung sind noch heute in Indonesien(43) zu spüren.28

Sämtliche Aufstände wurden von der Armee niedergeschlagen, die allmählich an Macht gewann. In den fünfziger Jahren gaben Armeeführer sich schamlos als »Verteidiger der nationalen Einheit« aus und machten jedem klar, dass es nur aufgrund ihrer Interventionen überhaupt eine Art Recht und Ordnung gebe. 1957 wurde über das ganze Land das Kriegsrecht verhängt, was der Armee die Möglichkeit verschaffte, praktisch ungestraft zu agieren. Örtliche Führer wurden abgesetzt, weil sie korrupt waren – viele von ihnen waren es tatsächlich –, und durch Offiziere der Armee ersetzt. Allmählich übernahm die Armee die Herrschaft.29

Sukarno(17) versuchte, die Macht des Militärs zu begrenzen, indem er die einzige andere Kraft im Land förderte, die in der Lage war, sich dem Militär entgegenzustellen – die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI), die fast überall eine massive Anhängerschaft hatte. Doch in der Atmosphäre des Kalten Kriegs(30) in den fünfziger und sechziger Jahren war das ein gefährliches Spiel. In erster Linie verstimmte es die USA, die bald begannen, rechtsstehende Opponenten Sukarnos zu unterstützen: Ende der fünfziger Jahre wurde die CIA auf frischer Tat ertappt, als sie diversen regierungsfeindlichen Rebellen Waffen, Training und sogar Flugzeuge zukommen ließ.30 Zweitens verärgerte es die Armee, die es übel nahm, gegen einen alten Feind ausgespielt zu werden.

Die Lage spitzte sich zu, als die Kommunisten(117) 1965 auf einem Luftwaffenstützpunkt bei Jakarta(6) mehrere Armeegeneräle entführten und töteten. Die Armee reagierte prompt und brutal. Sie erklärte die Entführungen zu einem versuchten Putsch und begann, landesweit massiv gegen Kommunisten durchzugreifen. Der PKI-Vorsitzende D. N. Aidit wurde verhaftet und hingerichtet, desgleichen die meisten anderen Kommunistenführer. Eine Hetzkampagne wurde angezettelt, dabei beschuldigte man Mitglieder der Frauenbewegung, an einer wilden Sexorgie teilgenommen zu haben, während die entführten Generäle vor ihnen von kommunistischen Genossen gefoltert und verstümmelt wurden.

Unvermittelt kam es überall im Land zu Übergriffen auf Kommunisten(118). Doch nicht nur diese selbst wurden angegriffen, sondern auch deren Freunde und Familien und überhaupt jeder mit verdächtigen linksgerichteten Ansichten. Die Frauenbewegung war eigentlich gar nicht kommunistisch – doch aufgrund der Verleumdungen wurden ihre Mitglieder zu einer bevorzugten Zielscheibe. Einige dieser Übergriffe arteten in regelrechte Massaker aus. Auf Ostjava(8) wurden Kommunisten von islamistischen(4) Jugendgruppen in einer Reihe aufgestellt, man schnitt ihnen die Kehle durch und warf ihre Leichen in die Flüsse. Auf Sumatra(6) wurden Plantagenarbeiter, die für bessere Arbeitsbedingungen agitiert hatten, zu Tausenden niedergemetzelt. Auf Bali(3) brachen bürgerkriegsartige Zustände aus; ganze Dorfbevölkerungen wurden abgeschlachtet und die Dörfer anschließend niedergebrannt.

Orchestriert wurde das alles von Armeegenerälen, die bei den Massakern tatenlos zusahen und in einigen Fällen sogar Namenslisten an örtliche Milizen aushändigten. Wenn der Mordeifer nachließ, wie es auf Java(9) der Fall war, oder wenn er außer Kontrolle geriet wie auf Bali(4), übernahmen Armeefunktionäre schließlich die Macht und führten geordnete Säuberungen durch: Kommunisten(119) wurden zusammengetrieben und in Gefängnissen vor Gericht gestellt; dann wurden sie in Bussen aufs Land gefahren, wo man sie hinrichtete und in Massengräbern verscharrte.31

Die massiven Säuberungen, die zwischen 1965 und 1967 in Indonesien(44) stattfanden, waren vermutlich das traumatischste Ereignis in der Geschichte des Landes. Ihnen fiel mindestens eine halbe Million Menschen zum Opfer. Hunderttausende, vielleicht sogar anderthalb Millionen wurden im Lauf der nächsten fünfzehn Jahre verhaftet. Die Kommunistische(120) Partei wurde verboten. Zeitungen, die das Militär kritisierten, wurden dichtgemacht. Als die Armee erst einmal die vollständige Kontrolle über das Land hatte, wurde Sukarno(18) schrittweise entmachtet. Sein Platz wurde von dem für die Säuberungen durch das Militär verantwortlichen Offizier eingenommen, Suharto(1), der allmählich seine Position festigte, bis er praktisch über eine unumschränkte Machtfülle gebot.32

In den nächsten dreißig Jahren gab es in Indonesien(45) keine nennenswerte Opposition. Vereinzelte Unruhen – beispielsweise in Aceh(4) oder auf Osttimor(2) – wurden mit brutaler Grausamkeit niedergeschlagen. So erreichte Suharto(2), was zwanzig Jahre Aufruhr und Auseinandersetzungen bisher nicht bewirkt hatten: Er einte die Nation. Tatsächlich hatte er in mancher Hinsicht sogar definiert, was in der Zeit nach dem Kalten Krieg(31) eine neue Nation ausmachte: Es waren weder eine gemeinsame Sprache oder ein gemeinsames Ziel, noch waren es Werte oder Ideale, die ein vereintes Indonesien schufen – es war Autorität. Indonesien war ganz einfach das, was die Armee sagte, dass es sei, denn es gab niemanden mehr, der in der Lage gewesen wäre, sich mit der Armee anzulegen.

In gewisser Weise war das eine Erleichterung. Nun würde zumindest eine Art Ordnung in öffentlichen Angelegenheiten herrschen; in der Tat nannte Suhartos neues Regime sich »Neue Ordnung«. Die Idee, welche die Nation 1945 so inspiriert hatte – merdeka oder »Freiheit« –, war stillschweigend zur Seite geschoben worden.