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Europäischer Nationalismus

Wenn eine Nation lediglich eine vorgestellte Gemeinschaft ist, was hindert uns dann daran, eine neue Vorstellung davon zu entwickeln? Könnten wir uns, anstatt Loyalität nur gegenüber denjenigen zu zeigen, die in unserer eigenen Gruppe oder unserem eigenen Land leben, nicht mit der gesamten Menschheit verbünden? Dies war nach dem Krieg das Argument der Weltföderalisten-Bewegung. Aktivisten wie Garry Davis(34) und Cord Meyer(40) sowie einflussreiche Denker wie Emery Reves(10) und Albert Einstein(7) behaupteten, durch einen reinen Vorstellungsakt könne der Weltfrieden endlich Wirklichkeit werden. Wir müssten dazu lediglich unsere emotionale Bindung an Nationalstaaten aufgeben und beginnen, die gesamte Menschheit als ein einheitliches Ganzes zu behandeln.

Doch wie wir gesehen haben, fanden nur wenige Teile der Welt Gefallen an dieser neuen Vorstellung. Für die Supermächte(350)(245) schien es keinen Grund zu geben, den Nationalismus aufzugeben: Er hatte ihnen den gesamten Krieg hindurch gute Dienste geleistet und ihnen den Sieg gebracht. In Ländern wie Indonesien(56), Kenia(38) und Venezuela(34) begannen sich Menschen im Jahr 1945 mit dem Nationalismus als einer neuen Kraft für Freiheit und Demokratie(52) zu identifizieren. Unterdessen wurde in Israel(46) der Zionismus(9) als der einzige Weg propagiert, um die verbliebenen Juden(79) der Welt vor dem Antisemitismus zu retten. Überall auf der Welt schien die Idee des Nationalstaates durch den Krieg nicht geschwächt, sondern – im Gegenteil – gestärkt worden zu sein.

Wenn es eine mögliche Ausnahme von dieser Regel gab, dann war es Europa(182). Es war die einzige Region der Welt, in der eine beträchtliche Zahl von Menschen aktiv die Idee unterstützte, den Nationalismus als Ideal aufzugeben. Die Menschen hier hatten mit eigenen Augen gesehen, welche Verwüstungen der Nationalismus anrichten konnte, wenn er außer Kontrolle geriet; und aus diesem Grund sehnten sich viele von ihnen nach einer neuen Ideologie, die sie von dem endlosen Kreislauf der Kriege befreien würde, der den Kontinent jahrhundertelang in seiner Gewalt gehabt hatte.

Daher machte sich dieser Traum zuerst in Europa(183) und nicht in einem anderen Teil der Welt breit. Die Idee dessen, was einmal das »europäische(184) Projekt« genannt werden sollte, war sehr viel praktikabler als die des Weltföderalismus. Anders als sein größerer Cousin musste sich das europäische(185) Projekt nie mit der Idee herumschlagen, die Sowjetunion(246) einzubeziehen. Außerdem kam ihm zugute, dass es als eine kleine Bewegung – mit nur einer Handvoll Ländern – begann und dann mit der Zeit größer wurde. Es war daher weit erfolgreicher, als es der Weltföderalismus je gewesen ist: Im Verlauf der kommenden Jahrzehnte sollte daraus die größte, mächtigste supranationale Organisation der Welt werden.

Einer der wichtigsten Architekten dieses Traums von einem föderalen Europa(186) war ein italienischer Journalist namens Altiero Spinelli(1). In Europa(187) ist seine Lebensgeschichte weithin bekannt; da er jedoch die politische Entwicklung des Kontinents in den Jahrzehnten nach dem Krieg mitgeprägt hat, wollen wir sie hier kurz nacherzählen.1

Spinelli(2) erlebte den Beginn des Zweiten Weltkriegs(186) als politischer Gefangener; er war auf der Insel Ventotene interniert, die 40 Kilometer vor der italienischen(29) Küste liegt. Er war Ende der zwanziger Jahre unter dem Vorwurf, sich gegen das faschistische Regime Mussolinis(4) verschworen zu haben, verhaftet worden, und er hatte die letzten zwölf Jahre in verschiedenen Gefängnissen und Internierungslagern gesessen, in denen er seine Tage damit verbrachte, Bücher über politische Philosophie zu lesen und sich neue Pläne und Agenden für die Befreiung der Menschheit auszudenken.

1941 begannen er und ein Mitgefangener, Ernesto Rossi(1), einen Entwurf für ein neues Europa(188) zu erarbeiten. Darin sagten sie voraus, dass die Alliierten(38) schließlich den Krieg gewinnen würden, dass es jedoch ein Scheinsieg wäre, wenn nichts getan würde, um die politische Struktur des Kontinents zu verändern. »Das Volk hat wohl einige grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen, weiß aber nicht, welche und wie«, schrieben sie. »Tausend Glocken tönen an seine Ohren. Soviel Köpfe, so viele Meinungen, die nicht unter einen Hut zu bringen sind; so verliert das Volk die Orientierung und zersplittert sich in zahllosen Tendenzen, die sich gegenseitig bekämpfen.« Spinelli(3) und Rossi waren davon überzeugt, dass die Völker Europas unweigerlich wieder in ihre alten nationalen Rivalitäten und Eifersüchteleien zurückfallen würden, wenn sie keine neue Sache hätten, die sie nach dem Krieg einen würde, und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis ganz Europa(189) erneut durch Konflikte zerstört würde.2

Der Schlüssel, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, bestünde darin, den Menschen ein höheres Ziel zu geben. Der Nationalismus habe es ermöglicht, dass die Völker Europas(190) ausgebeutet, entzweit, erobert und letztlich gegeneinander ausgespielt worden seien. Tatsächlich sei der Nationalstaat der »grundlegende Feind der Freiheit«. Einzig dadurch, dass die Völker Europas ihren nationalen Regierungen Machtbefugnisse wegnähmen und diese auf eine neu zu gründende eigenständige, höherrangige Körperschaft übertrügen, könnten daher Krieg und anderen Formen der Ausbeutung ein Ende gesetzt werden. In diesem Fall könnten Kriege endgültig überwunden und der Kontinent endlich »ein freies und vereinigtes Europa(191)« werden.3 

Sie schrieben ihr Manifest auf Zigarettenpapier – während des Kriegs war es, insbesondere in einem Internierungslager, schwer, an Schreibpapier zu kommen – und schmuggelten es in einer Handtasche, die der Ehefrau eines anderen Gefangenen gehörte, aufs Festland. Nach der Invasion der Alliierten(39) 1943 in Süditalien(30) wurde Spinelli(4) schließlich freigelassen. Er begann sofort damit, sein Manifest unter den Widerstandsbewegungen in Italien und anderen Teilen Europas(192) zu verteilen. Aber seine Ideen fanden zunächst nur wenig Anklang. 1945 zeigte sich dann sehr schnell, dass seine Vision Europas nicht in der Form Wirklichkeit werden würde, wie er(5) es sich im revolutionären Rausch des Optimismus, der das Ende des Kriegs begleitet hatte, spontan erhoffte. Und sie würde auch nach einer Friedenskonferenz(1) von den Alliierten nicht systematisch umgesetzt. Die Alliierten in Westeuropa(15) waren nach dem Krieg nicht an neuen politischen Ideen interessiert – die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung war alles, was sie tun konnten.

Also musste Spinelli seine Pläne überarbeiten. Statt ein neues, föderales Europa(193) auf einen Schlag zu schaffen, müssten er und seine internationalistischen Mitstreiter es durch mühsame Verhandlungen und Kompromisse Schritt für Schritt realisieren. In den kommenden vierzig Jahre sollte er(6) unermüdlich für seine europäische(194) Vision werben, während sich Nationen Paragraph für Paragraph um internationale Abkommen stritten. Obwohl er im Herzen immer ein Kommunist(131) blieb, hatte er keine Bedenken, mit Sozialisten, Liberalen und Christdemokraten zusammenzuarbeiten – tatsächlich hielt er die ideologische Spaltung zwischen Links und Rechts mittlerweile für irrelevant. Für ihn zählte allein die Spaltung zwischen denjenigen, die weiterhin ihr Heil im Nationalismus suchten, und denjenigen, die bereit waren, an einen supranationalen Staat zu glauben.

Abb. 39: Gefängnisakte Altiero Spinellis(7) aus dem Jahr 1937, nachdem er aus politischen Gründen interniert worden war.

Der erste Durchbruch war die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahr 1951. Sechs Jahre später wurde mit den Römischen Verträgen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ins Leben gerufen – also ein gemeinsamer Markt und eine Zollunion zwischen Belgien(10), Frankreich(104), Italien(31), Luxemburg(3), den Niederlanden(43) und der Bundesrepublik Deutschland(2). Diese wurde schrittweise erweitert: 1973 um Dänemark(4), Irland(2) und Großbritannien(152), 1981 um Griechenland(21) und 1986 um Portugal(8) und Spanien(6). Das endgültige Ziel sollte immer die vollständige Integration der Staaten sein: nicht nur ökonomisch, sondern auch mit einer gemeinsamen gesetzgebenden Körperschaft und einer einheitlichen Außenpolitik.

Abb. 40: Der europäische(195) Traum: Reijn Dirksens(1) Plakat von 1950, das ursprünglich für den Marshallplan(8) werben sollte.

1979 hatten Europäer(196) erstmals die Gelegenheit, an Direktwahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen, und Spinelli(8) wurde als Repräsentant Mittelitaliens(32) gewählt. Er nutzte seine neue Position, um sich für offene Grenzen ohne Passkontrolle einzusetzen, und er war maßgeblich daran beteiligt, das Europäische Parlament dazu zu bewegen, für den nächsten Schritt in dem Prozess zu stimmen: die vollständige europäische(197) Einigung. Spinelli starb 1986, nur Monate nachdem in Den Haag(2) die Einheitliche Europäische Akte unterzeichnet wurde. Den Fall der Berliner Mauer und den anschließenden zügigen Beitritt osteuropäischer(43) Länder zur Europäischen Union(10) (EU) erlebte er nicht mehr – ebenso wenig den Vertrag von Maastricht(1) und die Einführung der europäischen Einheitswährung oder den Vertrag von Lissabon(1), der die Rolle des Europäischen Parlaments stärkte. Aber er ist in Erinnerung geblieben als ein Mensch, der entscheidenden Anteil daran hatte, dass all dies erreicht worden ist. In Anerkennung seiner Leistungen wurde 1993 das größte Gebäude des Komplexes des Europäischen Parlaments in Brüssel(1) nach ihm benannt.

DER NATIONALISMUS LEBT WEITER Die Europäische Union(12) ist wahrscheinlich die erfolgreichste supranationale Institution in der Welt und die einzige, der es jemals gelungen ist, ihren Mitgliedstaaten bedeutende Souveränitätsrechte zu entreißen. Das hat sie dem Zweiten Weltkrieg(187) zu verdanken. Dieser hatte in Europa(198) so verheerende Zerstörungen angerichtet und so viele Menschenleben gefordert, dass seine Staatsmänner gegenüber den Ideen von Visionären wie Spinelli(9) jetzt viel aufgeschlossener waren. Außerdem waren sie bereit, nationale Souveränitätsrechte in einem Ausmaß zu übertragen, das in anderen Teilen der Welt undenkbar gewesen wäre.

Oberflächlich betrachtet, scheint dieser Einigungsprozess sehr erfolgreich gewesen zu sein: 2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis, weil es ihr gelungen sei, Europa(199) »von einem Kontinent des Kriegs in einen Kontinent des Friedens« zu verwandeln.4 Aber eine Reihe von Dingen steht im Widerspruch zu dieser rosigen Sicht der Nachkriegsgeschichte. Nehmen wir die Behauptung, in Europa(200) habe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs(188) Frieden geherrscht. Das geteilte Europa(201) lebte bekanntlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht in Frieden, sondern unter der fortwährenden Bedrohung eines dritten Weltkriegs. Der Ausbruch eines Konflikts wurde nicht von der EU und ihren Vorläuferorganisationen verhindert, sondern durch die Aussicht auf die beiderseitige Bereitschaft zum nuklearen(30) Gegenschlag. Viele Historiker behaupten, nicht die EU habe den Frieden in Europa(202) aufrechterhalten, sondern das umfassendere westliche Verteidigungsbündnis, das mit der Gründung der NATO geschaffen wurde.5

Unzutreffend ist auch die Vorstellung, ganz Europa(203) sei in dem Bestreben geeint gewesen, den Nationalstaat zu überwinden. Neben den vielen, die den Zusammenschluss der Nationen begrüßten, gab es auch zahlreiche andere, die dieses Vorhaben entschieden ablehnten. Sie hatten im Zweiten Weltkrieg(189) nicht für ein internationalistisches Ideal gekämpft, sondern dafür, ihre Länder von den Nazis(66) zu befreien. Ihnen ging es um ihre eigene nationale Unabhängigkeit – in dieser Hinsicht unterschieden sie sich kaum von der Bevölkerung Indonesiens oder Kenias(39) nach 1945. Der Gedanke, dass sie jetzt freiwillig die Unabhängigkeit aufgeben würden, die sie unter so großen Opfern errungen hatten, schien absurd: Es bedürfte viel mehr als eines auf Zigarettenpapier geschriebenen Manifests, um sie von den Ideen abzubringen, die ihnen in den dunkelsten Stunden des Kriegs Kraft gegeben hatten.

Tatsächlich ist es so, dass der Zweite Weltkrieg(190) die Idee des Nationalstaates weltweit stärkte – auch in Europa(204). Die siegreichen Briten(153) sahen ebenso wenig wie die Supermächte(351)(247) einen Grund, eigene Souveränitätsrechte mit denen anderer Nationen zusammenzulegen. Großbritannien(154) stand dem europäischen Traum von Anfang an skeptisch gegenüber und weigerte sich demgemäß, 1951 der EGKS beizutreten. Die Franzosen(105), die nach dem Krieg unbedingt ihren Nationalstolz wiederherstellen wollten, waren oftmals genauso skeptisch. Manchmal kooperierten sie nur auf Druck der Amerikaner(352), die mit der Einstellung von Finanzhilfen drohten, falls sie sich nicht kooperativer zeigen sollten.6 Selbst die Italiener(33) standen keineswegs geschlossen hinter Spinellis Forderungen. Für die Anhänger der Rechten war die Nation weiterhin ihr höchstes Ideal; und die Anhänger der Linken betrachteten den Internationalismus als einen Zustand, der erst dann verwirklicht werden würde, wenn die Kommunisten(132) auf dem gesamten Kontinent an die Macht gekommen wären: Spinellis Vision gefiel keiner der beiden Gruppen. Im übrigen Europa(205) verhielt es sich ganz ähnlich.

Es dauerte nicht lange, bis Altiero Spinellis(10) Projekt seinen ersten größeren Rückschlag erlitt. Im Jahr 1954 hatten sich er und andere Europhile für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen(206) Armee ausgesprochen; aber trotz einer grundsätzlichen Einigung weigerte sich das französische(106) Parlament, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu ratifizieren. Dies geschah aus vielerlei Gründen – der wichtigste davon war eine dunkle Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg(191). Wie Charles de Gaulle(2) sarkastisch bemerkte: »Da das siegreiche Frankreich(107) eine Armee hat und das besiegte Deutschland(121) nicht, wollen wir die französische(108) Armee abschaffen.«7 Das französische(109) Parlament konnte nichts gutheißen, was beim Wahlvolk den Eindruck erwecken könnte, als würde es Westdeutschland(3) die Wiederbewaffnung erlauben. In den Jahren, die seither vergangen sind, gab es viele nationalistisch motivierte Ablehnungen europäischer Pläne und Verträge, selbst in jenen Ländern, die sich dem europäischen Projekt mit der größten Begeisterung verschrieben haben. 1984 votierte das dänische(5) Parlament gegen die Einheitliche Europäische Akte, und acht Jahre später stimmten die Dänen gegen den Vertrag von Maastricht(2). In den neunziger Jahren lehnten die Briten(155) ohne viel Federlesens die Einführung einer europäischen Einheitswährung ab, unter anderem weil sie sich von Behauptungen beeinflussen ließen, die Geldpolitik hinter der neuen Währung sei »eine deutsche(122) Finte, die darauf abzielt, die Kontrolle über ganz Europa(207) zu übernehmen«.8 Bei Volksbefragungen im Jahr 2005 in Frankreich(110) und in den Niederlanden(44) wurde eine europäische(208) Verfassung abgelehnt. 2009 weigerte sich die Tschechische Republik(21), den Vertrag von Lissabon(2) zu unterzeichnen, ebenfalls wegen nationalistischer Befürchtungen bezüglich der Absichten Deutschlands. Bei jeder Gelegenheit mussten Europhile einzelnen betroffenen Ländern erhebliche Zugeständnisse machen. Und wie einige dieser Beispiele zeigen, lag die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg immer dicht unter der Oberfläche. 2016 lehnten die Briten das europäische(209) Projekt dann endgültig ab, indem sie für den EU-Austritt stimmten.

Während der Nationalismus in Westeuropa(16) niemals verschwand, wurde er in Osteuropa(44) nie auch nur infrage gestellt. Anders als der Westen hatten die Ostblockländer(45) nie die Chance, über die Auswüchse ihres eigenen Nationalismus während des Kriegs nachzudenken, weil für viele von ihnen der Krieg nie wirklich endete: Die Besetzung durch Nazideutschland wurde 1945 lediglich durch die sowjetische(248) Besatzung abgelöst.9 Folglich haben die Ukraine(13) und die baltischen(6) Staaten bis weit in die fünfziger Jahre hinein nationale Befreiungskriege gekämpft, und der passive Widerstand gegen die Sowjets(249) dauerte durch die sechziger, siebziger und achtziger Jahre hindurch an. Weitere nationalistische Erhebungen gegen die Sowjetmacht ereigneten sich in der DDR (1953), Ungarn(17) (1956), der Tschechoslowakei(22) (1968) und Polen(28) (Anfang der achtziger Jahre).

Als schließlich Anfang der neunziger Jahre der Eiserne Vorhang(3) fiel, strömten die osteuropäischen(46) Länder in die EU – aber dies bedeutete nicht, dass sie ihren Nationalismus ablegen wollten, ganz im Gegenteil: Der EU-Beitritt wurde von vielen als eine Rückversicherung gegen zukünftige Angriffe auf ihre neu errungene Unabhängigkeit durch Moskau(16) angesehen. So sagte der polnische(29) Präsident Aleksander Kwaśniewski(1), die EU-Mitgliedschaft würde »Polen Sicherheit [bieten], jeder Stadt und jedem Dorf in Polen, jeder polnischen Familie«. Der lettische(3) Präsident ging so weit, Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg(192) zu beschwören; er behauptete, der Beitritt zur EU habe die Totenglocke für den Hitler(21)-Stalin-Pakt(1) von 1939 geläutet.10

In einer solchen Atmosphäre hat das internationalistische Ethos des europäischen(210) Projekts nie richtig Fuß gefasst. Wie in Westeuropa(17) weckte die Vorstellung, dass osteuropäische(47) Nationen vielleicht einen Teil ihrer neu errungenen Souveränität auf eine supranationale Körperschaft übertragen müssten, unangenehme Erinnerungen an die Vergangenheit. Man muss nur einige der Slogans betrachten, die Euroskeptiker während der verschiedenen Referendumskampagnen benutzten, um zu erkennen, welche Ängste das europäische(211) Projekt hervorrief. »Gestern Moskau(17), morgen Brüssel(2)«, warnten Konservative in Polen(30); »EU = Sowjetunion(250)«, war auf Postern in Lettland(4) zu lesen, und Euroskeptiker in der Tschechischen Republik entwarfen ein von Hammer und Sichel umranktes EU-Symbol. Neben Erinnerungen an die Sowjets haben Nationalisten auch Erinnerungen an die Nazis(67) heraufbeschworen. Im Januar 2016 veröffentlichte das polnische Nachrichtenmagazin Wprost ein Heft, dessen Titelseite eine Fotografie schmückte, die Angela Merkel(3) als einen neuen Hitler(22) darstellt, der auf allen Seiten von führenden EU-Politikern in Naziuniformen umgeben ist. Für Menschen, die solche Gedanken hegen, ist die EU kein leuchtendes Vorbild an Demokratie(53) und Freiheit, sondern eine Erinnerung an Unterdrückung und Versklavung(22).11

DER NATIONALISMUS SCHLÄGT ZURÜCK In der immerwährenden Debatte um Souveränität haben sich weder Europhile noch Euroskeptiker immer vollkommen rational verhalten. Auf beiden Seiten verbergen sich hinter wohldurchdachten Argumenten tiefe kollektive Ängste. Europhile präsentieren sich gern als hoffnungsvoll, aufgeschlossen und multikulturell; aber sie haben tief im Innern auch große Angst davor, aus einem Klub ausgeschlossen zu werden, wieder miteinander konkurrieren und vielleicht sogar kämpfen zu müssen. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg(193) verfolgt sie so sehr, dass sie auf die bloße Erwähnung der Möglichkeit, die EU könnte auseinanderbrechen, mit Warnungen vor einer Rückkehr des Kriegs »innerhalb einer Generation« reagieren.12 Euroskeptiker dagegen präsentieren sich gern als Libertäre, die für die individuellen Rechte kämpfen. Aber auch sie sind von der Angst getrieben, ihnen könnten Fremde ihre Arbeitsplätze, ihre Rechte und ihre Freiheiten wegnehmen. Würden die Euroskeptiker dem Assimilationsdruck nachgeben, verlören sie sich höchstwahrscheinlich in der undifferenzierten Masse. An diesen Ängsten ist nichts Neues: Sie sind universelle und zeitlose Symptome des menschlichen Daseins. Aber Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit geben Europhilen und Euroskeptikern gleichermaßen einen Bezugspunkt für diese Ängste und erlauben ihnen, diesen einen gewissen Sinn beizulegen.

Das vielleicht deutlichste Beispiel für die Instrumentalisierung des Zweiten Weltkriegs(194) in diesem Sinne ist der Sommer 2016, als in Großbritannien(156) ein Referendum über die Frage abgehalten wurde, ob das Land in der Europäischen Union(26) bleiben solle. Das Referendum beendete eine fünfundzwanzigjährige Kampagne britischer Nationalisten, die darauf abzielte, die europäische(212) Frage ganz oben auf die politische Agenda zu setzen. Während dieser Zeit hatten die Nationalisten den Sieg im Zweiten Weltkrieg immer als Beweis dafür hingestellt, dass Großbritannien(157) eine Nation von Helden sei, die von Europa(213) gebremst werde. Dieses Narrativ stand in direktem Widerspruch zu europäischen Mythen, die immer hervorgehoben hatten, der Krieg sei eine Tragödie gewesen und kein Triumph. Als Großbritannien(158) daher über seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union abstimmte, prallten diese beiden Lesarten der Geschichte mit ungebremster Wucht aufeinander.

Mit einem Mal schien der Zweite Weltkrieg(195) ein regelmäßiges Thema in den Nachrichten zu sein. So erwähnte etwa Premierminister David Cameron(1) in einer Ansprache an die Nation die Soldatenfriedhöfe des Zweiten Weltkriegs und deutete damit an, dass es mit dem Frieden im Nachkriegseuropa vorbei wäre, wenn Großbritannien(159) die EU verließe.13 US-Präsident Barack Obama(1), der Großbritannien(160) während des Wahlkampfs besuchte, riet den Briten ebenfalls eindringlich, für »Verbleib« zu stimmen, indem er auf eine Zeit verwies, als Briten und Amerikaner(354) »gemeinsam ihr Blut auf dem Schlachtfeld vergossen hatten«.14 Derweil beschworen die Anhänger der »Vote-Leave«-Kampagne den »Geist von Dünkirchen« im Jahr 1940, als wäre die Schlacht um den Austritt aus der EU mit dieser Schlacht vergleichbar, die den Briten einen sicheren Abzug ihrer Expeditionsstreitmacht ermöglichen sollte. Nigel Farage(1), der Vorsitzende der UK Independence Party (UKIP), machte es sich sogar zur Gewohnheit, die Titelmelodie des Kriegsfilms Gesprengte Ketten von seinem Kampagnenbus aus zu spielen.15

In dieser seltsamen Kontroverse um die »richtige« Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg(196) ging jegliche Differenzierung verloren. Ein perfektes Beispiel für die ganze Absurdität der Auseinandersetzung war der öffentlich ausgetragene Streit in der Presse darüber, wofür der britische(161) Premierminister der Kriegszeit stimmen würde, wenn er noch lebte. Vertreter der »Leave«-Kampagne nahmen ihn umgehend für sich in Anspruch und sagten, seine Tatkraft würde die Briten wieder zu den »Helden Europas(214)« machen. »Remain«-Aktivisten wiesen ihrerseits darauf hin, dass sich Churchill(10) nach dem Krieg für die Idee der »Vereinigten Staaten(355) von Europa(215)« eingesetzt habe. Worauf die »Leavers« ihrerseits behaupteten, sie hätten »Beweise« aus den fünfziger Jahren dafür, dass Churchill die Idee der europäischen Integration verabscheut habe, was die »Remainer« mit der Bemerkung konterten, er habe 1962 die EWG öffentlich unterstützt. Niemand hielt inne, um zu überlegen, ob dieses Argument überhaupt relevant ist für die Frage, wie sich Großbritannien(162) im 21. Jahrhundert selbst sehen sollte.16 Der absehbare, traurige Höhepunkt wurde schließlich erreicht, als beide Lager(20) der Kampagne sich gegenseitig als Nazis(68) verunglimpften. Nachdem UKIP ein Kampagnenposter, das Einwanderer dämonisierte, enthüllt hatte, verglichen »Remain«-Aktivisten dieses sogleich mit Propagandafilmen der Nazis aus den dreißiger Jahren. Um sich nicht ausstechen zu lassen, verglichen prominente »Leavers« ihre Rivalen mit Hitlers(23) Propagandaminister Joseph Goebbels(3) und deren Wirtschaftsexperten mit Naziwissenschaftlern.17 Der ehemalige Bürgermeister von London(12), Boris Johnson(1), war lediglich einer von vielen, die EU-Mythen der Solidarität in der Nachkriegszeit auf den Kopf stellten, indem sie behaupteten, das gesamte europäische(216) Projekt sei lediglich eine moderne Spielart von Naziplänen für ein geeintes Europa(217).18

Auch der Kommunismus(133) wurde erwähnt – wenn auch erst, nachdem das Referendum vorbei war. Als die Staats- und Regierungschefs der EU sich nach der Abstimmung in Großbritannien(163) auf der Insel Ventotene trafen, einem Konferenzort, der absichtlich gewählt worden war, um sie an Altiero Spinelli(11) und sein Manifest zu erinnern, erschien im Daily Telegraph ein Artikel, der Spinelli als einen Kommunisten hinstellte, der eine »heimliche« Machtübernahme in Europa(218) geplant habe. Unerwähnt blieb die Tatsache, dass Spinelli ein ganz und gar untypischer Kommunist(134) war – einer, der den Stalinismus(26) von Anfang an abgelehnt hat, während des Kalten Kriegs(39) auf der Seite der USA stand und sich sein ganzes Leben lang für die Rechte des Individuums einsetzte. Wieder einmal ging jegliche Differenzierung verloren.19

Als britischer(164) Staatsbürger habe ich diese Ereignisse mit zunehmender Fassungslosigkeit verfolgt. Am meisten irritierte mich die Atmosphäre, in der die Debatte stattfand. Die berechtigten Sorgen beider Seiten in Bezug auf Demokratie(54), Arbeitsplätze, wirtschaftliche Entwicklung und EU-Bürokratie gingen schnell in einem Tsunami von Übertreibungen, Verschleierungen und unverhohlenen Lügen beider Seiten unter. Am bekanntesten ist die Behauptung der »Leave«-Kampagne, der Brexit(1) würde Großbritannien(165) 350 Millionen Pfund pro Woche sparen – eine Zahl, die auch dann noch in großen Lettern auf ihrem Kampagnenbus prangte, als die britische Statistikbehörde sie als falsch bezeichnete. Aber auch die »Remain«-Seite stellte übertriebene, emotional aufgeladene Behauptungen auf – insbesondere, dass bei einem Austrittsvotum eine Rezession unvermeidlich wäre. In einer solchen Atmosphäre wurde eine vernünftige Debatte praktisch unmöglich.20

(2)Meine Historiker-Kollegen waren nicht immun gegen diese Atmosphäre. Eine Gruppe von ihnen – 380 der bedeutendsten und bekanntesten britischen(166) Historiker – schrieb einen offenen Brief an die Nation, in dem sie ebenfalls Bezug auf die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg(197) nahm. Durch den Austritt aus der Europäischen Union(32) würde Großbritannien(167) andere Nationen dazu ermuntern, den Rest Europas(219) zu erpressen, um ihre egoistischen Interessen durchzusetzen. Der Separatismus werde unweigerlich gestärkt – nicht nur der nationale Separatismus, sondern auch der regionale Separatismus in Gebieten wie Schottland und Katalonien –, und der gesamte Kontinent würde destabilisiert. »Angesichts der Gefahren, denen Europa(220) gegenwärtig ausgesetzt ist, kann es sich diese Art von Zersplitterung und die damit einhergehenden Gefahren nationaler Rivalitäten und Unsicherheit, die die Geschichte Europas vor 1945 überschatteten, nicht leisten.«21 Eine Zeit lang zog ich in Erwägung, mich dieser Gruppe anzuschließen. Ich war fest davon überzeugt, dass Großbritannien(168) in der EU bleiben sollte, ungeachtet ihrer offenkundigen Mängel; aber dann machte ich doch nicht mit, weil der manichäische Tonfall des Briefs allem zuwiderlief, wofür ich von jeher eingetreten bin: Die Botschaft, die diese Historiker propagierten, war einer der Hauptgründe, warum die »Remain«-Kampagne weithin »Projekt Angst« genannt wurde.

(3)Am 23. Juni 2016 stimmten die Briten(169) mit einer knappen Mehrheit von rund 52 zu 48 Prozent für den Austritt aus der EU. In den folgenden Tagen durchlebte ich eine breite Palette von Gefühlen: Schock, Fassungslosigkeit, Enttäuschung, Angst. Ich war schließlich der gleichen emotionalen Aufwallung erlegen, die seit Monaten alle Briten erfasst zu haben schien, und ich habe mich stundenlang mit Freunden und Nachbarn über die Dummheit meiner Landsleute echauffiert. Da die meisten von ihnen ebenfalls für den Verbleib in der EU gestimmt hatten, standen sie auch unter Schock. Eine regelrechte Untergangsstimmung erfüllte uns. Ich schalt mich selbst dafür, dass ich mich nicht den anderen Pro-EU-Historikern angeschlossen hatte – nicht weil ich so vermessen gewesen wäre, zu glauben, dies hätte etwas bewirkt, sondern weil ich mich dafür schämte, dass ich nicht alles in meiner Macht Stehende getan hatte, um das abzuwenden, was ich als ein Desaster ansah.

(4)Erst nach einigen Tagen hatte ich mich wieder im Griff. Ich sagte mir, dass ich mich töricht verhalten hatte. Als Historiker weiß ich, dass sich die historische Dynamik nur selten in einem einzigen Moment wie diesem umkehrt. Ich weiß auch, dass sich die Zukunft nicht vorhersagen lässt: Die Geschichte kennt jede Menge Untergangsprophezeiungen, die nie eingetreten sind (und genauso falsche Vorhersagen von Frieden und Eintracht). Es gab keinen Grund anzunehmen, die Euroskeptiker lägen falsch: Vielleicht wären Großbritannien(170) und Europa(221) tatsächlich besser dran, wenn sie getrennte Wege gingen. Ich setzte mich hin und tat etwas, was ich schon Wochen zuvor hätte tun sollen: Ich nahm einen Kugelschreiber und Papier und versuchte, eine Liste unumstößlicher Tatsachen über das Für und Wider eines Austritts(5) aus der EU zusammenzustellen. Mir wurde schnell klar, dass das eine unmögliche Aufgabe war. Ohne zu wissen, wie die zukünftigen Beziehungen zu Europa(222) aussehen würden, ließ sich nicht abschätzen, ob Großbritannien(171) nach einem Austritt besser oder schlechter dastehen würde. Was hatte mich dann veranlasst, so heftig zu reagieren? Überschätzte ich die Bedeutung Großbritanniens? Glaubte ich wirklich, das gesamte europäische(223) Gebäude würde ohne mein Land zusammenbrechen(6)? Oder reagierte ich lediglich verspätet auf die monatelange Spaltung und Feindseligkeit, die ich gerade erlebt hatte, und stellte mir vor, dass die Gräben noch tiefer würden?

Meine Gedanken drehten sich jetzt zunehmend um das Jahr 1945 und den von den Pro-EU-Historikern geschriebenen Brief. Mir dämmerte allmählich, dass der Brexit(7) an sich nicht das Problem war: Besorgt hatte mich vielmehr das, wofür der Brexit stand. Der Kontext der Abstimmung war so wichtig wie die Abstimmung selbst. In den Jahren im Vorfeld des Referendums hatte ich eine Wirtschaftskrise, den Aufstieg des radikalen Populismus in ganz Europa(224), ein wiedererstarkendes Russland(251)(19), das seine geopolitischen Muskeln spielen ließ und die wachsende Ohnmacht internationaler Organisationen wie der UN und der EU erlebt. Jeder Historiker, der keine Parallelen zwischen diesen Ereignissen und jenen, die zum Zweiten Weltkrieg(198) führten, sah, musste blind sein. Verglichen mit solchen Entwicklungen war das Brexit(8)-Votum im Grunde nicht so schlimm; da es jedoch eine Politik rückgängig machte, die fast fünfzig Jahre lang in Großbritannien(172) fest verankert gewesen war, wirkte es zugleich wie ein Schritt zurück in die Vergangenheit. In Anbetracht eines solchen Kontexts ist es vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass ich negativ reagierte. Auch wenn wir uns um rationale Distanz bemühen, sind Historiker doch wie alle Menschen emotionale Wesen.

DER MISSBRAUCH DER GESCHICHTE Es ist eine Sache, von Ereignissen betroffen zu sein, die uns an die Vergangenheit erinnern; etwas ganz anderes ist es, die Vergangenheit gezielt mit der ausdrücklichen Absicht zu beschwören, die Reaktionen anderer zu beeinflussen. Die politische Instrumentalisierung von Symbolen des Zweiten Weltkriegs(199) ist keine britische(173) Besonderheit. In diesem Buch habe ich anhand vieler Beispiele gezeigt, wie die Erinnerung an den Krieg für fragwürdige Zwecke manipuliert worden ist, aber lassen Sie mich ein weiteres Beispiel geben, das verdeutlicht, wohin uns dieser schleichende Prozess führt. Es ist ein Beispiel, das fast nichts mit der EU zu tun hat – abgesehen davon, dass es zeigt, wie wenig die Ziele der EU den meisten Nationalisten bedeuten.

2008 gab die polnische(31) Regierung den Bau eines neuen Museums, das dem Zweiten Weltkrieg(200) gewidmet sein sollte, in Auftrag. Sie ernannte einen Professor für Geschichte zu seinem Direktor und wies ihn an, eine Ausstellung zu gestalten, in deren Mittelpunkt die polnische Kriegserfahrung stehen sollte. Das taten sie aus gutem Grund: Ungeachtet der Tatsache, dass Polen das wichtigste Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs in Europa(225) war, erhielten polnische Sichtweisen nie das Gewicht, das sie in einer Geschichtsschreibung, die im Allgemeinen von sowjetischen(252), amerikanischen(357) und britischen(174) Narrativen bestimmt wird, verdienten.

Der von der Regierung eingesetzte Direktor, Paweł Machcewicz(1), war ein stolzer Pole; aber zuallererst war er ein stolzer Historiker. Er wusste, dass das Museum nur dann sinnvoll wäre, wenn es sich nicht ausschließlich auf polnische(32) Erfahrungen konzentrierte, denn schließlich war sein Thema ein Weltkrieg, nicht bloß ein polnischer Krieg. Und so legte er ein Konzept vor, das vergleichbar war mit dem Ansatz, den ich in diesem Buch ausprobiert habe: Er nutzte die Erfahrungen polnischer Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs(201) als einen Mikrokosmos von etwas viel Größerem, und er verglich und kontrastierte Ereignisse in Polen jeweils mit Ereignissen in anderen Teilen Europas(226) und der Welt. Polnische Sichtweisen sollten im Mittelpunkt der Ausstellung stehen, aber er wollte zugleich dafür sorgen, dass Besuchern aus aller Welt auch die Kriegserfahrungen ihrer jeweiligen Nationen nahegebracht würden. Zu diesem Zweck setzte er einen Beirat aus Historikern ein, die nicht nur aus Polen, sondern auch von Einrichtungen in den USA, Russland(253)(20), Großbritannien(175), Frankreich(111), Deutschland(123) und Israel(47) kamen. Die polnische Regierung unterstützte sein Konzept uneingeschränkt.22 Aber 2015 wurde eine neue Regierung gewählt. Die radikal-nationalistische Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) gelangte an die Macht, indem sie Polen als ein edelmütiges Opfer darstellte, das von Feinden belagert wurde und noch immer wird. Der neue Kulturminister, Piotr Gliński(1), wollte, dass die Ausstellung die Weltsicht seiner Partei widerspiegelt, und daher sollte sie den Heroismus und das Martyrium der Nation während des Kriegs stärker betonen. Das Museum sei »nicht polnisch genug«, wie er sagte.

Im Herbst 2016, nur wenige Monate vor dem geplanten Eröffnungstermin, verkündete Gliński(2), das Museum würde mit einem anderen Museum zusammengelegt, das dem Heldenmut der polnischen(33) Truppen beim Kampf um die Westerplatte im Jahr 1939 gedenken sollte. Die Zusammenlegung war offensichtlich eine Finte: Da sich das Westerplatte-Museum noch in einem frühen Planungsstadium befand, war es ein bloßer Vorwand, um eine neue Institution zu schaffen. Dies würde es Gliński erlauben, Machcewicz(2) und dessen Team loszuwerden und ihre achtjährige Arbeit zu verwerfen. In den folgenden Tagen schrieben Dutzende von Historikern aus der ganzen Welt, unter anderem auch ich, an Gliński und baten ihn eindringlich, seine Entscheidung zu überdenken. Dann zog der polnische Bürgerbeauftragte die Rechtmäßigkeit der Zusammenlegung in Zweifel, und die Sache wurde den Gerichten übergeben.

Ich besuchte die Ausstellung am 22. Januar 2017, als Mitglied einer ausgewählten Gruppe von Historikern und Journalisten. Machcewicz(3) und sein Team wollten uns an diesem Tag eine Vorschau ihrer Arbeit präsentieren, weil sie nicht sicher waren, ob sie jemals die Gelegenheit erhalten würden, dies wieder zu tun: Das Oberste Gericht Polens(34) sollte am nächsten Tag sein Urteil über die geplante Zusammenlegung verkünden. Die ganze Veranstaltung war auf eine fast unerträgliche Weise ergreifend. Nicht nur die Ausstellung selbst war eine recht emotionale Erfahrung – nie habe ich in einem Museum ein wirksameres Gegengift gegen die Vorstellung gesehen, Krieg sei etwas Großartiges –, die Ungewissheit bezüglich der Zukunft der Ausstellung verstärkte noch die emotionale Ergriffenheit.

Am Tag nach meinem Besuch hat das Oberste Gericht die Entscheidung der Regierung gebilligt, den thematischen Schwerpunkt des Museums zu ändern. Paweł Machcewicz(4) verlor kurz darauf seinen Job, und noch im selben Jahr begann ein neuer Direktor, Änderungen an der Hauptausstellung vorzunehmen. Einige dieser Änderungen machten das Museum »polnischer«(35), wie es den Vorstellungen der Regierung entsprach. Beispielsweise wurde ein Film über die langfristigen internationalen Folgen des Krieges durch eine Animation ersetzt, die ausschließlich die polnischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt.

Diese Anekdote verdeutlicht ebenso wie die Kontroverse um den Brexit(9), dass es entscheidend auf historische Deutungshoheit ankommt – gemäß dem Diktum des Schriftstellers George Orwell(1) aus dem Jahr 1949: »Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft.« Und als Grundstein der europäischen(227) Nachkriegskultur ist die historische Deutung des Zweiten Weltkriegs(202) am wichtigsten. Politiker in ganz Europa(228) wissen instinktiv, dass derjenige, der unser Verständnis des Kriegs kontrolliert, über ein mächtiges politisches Werkzeug gebietet.

Historiker wie Paweł Machcewicz(5) haben versucht, den Krieg als eine gemeinsame Erfahrung darzustellen, eine globale Tragödie, die zwar verschiedene Teile der Welt in unterschiedlichem Maße in Mitleidenschaft zog, aber dennoch jeden Menschen irgendwie betraf. Es ist eine inklusive Lesart der Geschichte, die von Institutionen wie der EU geteilt und gefördert wird und die Raum für die gedankliche Auseinandersetzung mit der Tatsache lässt, dass niemand gänzlich unversehrt oder makellos aus einem Weltkrieg hervorgeht. Radikale Nationalisten dagegen wollen lediglich das Leiden und den Heroismus eines kleinen Teils des Ganzen herausstreichen, als wäre ihre Erfahrung die einzige, die zählte. Sie schieben die ganze Schuld auf Fremde und propagieren ein mythologisches Narrativ, das sicherstellt, dass die makellose Unantastbarkeit der Nation aufrechterhalten werden kann. In einer solchen Weltanschauung ist die Nation die einzige Gruppe, die zählt. Der nationalen Einheit zuliebe werden die größeren Zusammenhänge ebenso bereitwillig geopfert wie Chancen zur Aussöhnung mit ehemaligen Feinden.

Dabei verkennen diese Ideologen oftmals die Tatsache, dass »nationale Einheit« selbst ein Mythos ist. Polen(36) spricht nicht mehr mit einer Stimme – ebenso wenig wie Großbritannien(176), Frankreich(112) oder eine andere Nation in Europa(229). Das Einzige, was ihnen erlaubt, sich selbst als eine homogene Gemeinschaft vorzustellen, ist eine gewisse Flexibilität bei der Definition dessen, was einen Polen, einen Briten oder einen Franzosen(113) ausmacht. Jegliches Bestreben, eine einheitliche Sichtweise durchzusetzen, führt unweigerlich zu Konflikten.

Hierin liegt eine Gefahr, denn wenn eine Nation nichts anderes als eine vorgestellte Gemeinschaft ist, dann kann man eine neue Vorstellung von ihr entwickeln – nicht nur als eine größere Gruppe wie die EU, sondern auch als eine Reihe kleinerer Gruppen, die sich von dem Ganzen abspalten. Wie Altiero Spinelli(12) in seinem Ventotene-Manifest schrieb: Wenn an den Ohren der Europäer(230) tausend Glocken tönen, was kann sie dann davon abhalten, »sich in zahllose Tendenzen zu zersplittern, die sich gegenseitig bekämpfen«?

Wie im Jahr 1945 ist nicht nur Europa(231) in einer gefährlichen Weise gespalten, auch einzelne Nationen wie Großbritannien(177) und Polen(37) sind dies. Der Zweite Weltkrieg(203), der ehedem die Nationen Europa(232) dazu beflügelte, sich zu einen, ist mittlerweile genauso sehr zu einer Inspirationsquelle für Nationalisten und regionale Separatisten geworden – ja für jeden anderen, der sein eigenes Süppchen kochen will. Das europäische(233) Projekt der Nachkriegszeit beginnt nach über siebzig Jahren zu zerfallen.