Im letzten Abschnitt bin ich einigen der Ideale und Träume nachgegangen, die Nationen dazu beflügelten, sich von Imperien und anderen supranationalen Körperschaften abzuspalten. Dies war oftmals ein gewaltsamer Prozess. Viele Kolonien mussten nicht nur für ihre Unabhängigkeit kämpfen, sondern wurden anschließend auch von Bürgerkriegen heimgesucht, weil verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Ideologien die Regierungsgewalt an sich reißen wollten. Und dennoch würden nur wenige Menschen, die heute in diesen Nationen leben, bestreiten, dass sich die Mühen letztlich gelohnt haben. Die Freiheit sei es wert, dass man für sie kämpft, sagen sie.
Was aber geschieht, wenn die Abspaltung eines Volkes von einem anderen etwas ist, was sie sich nicht ausgesucht haben? Was ist, wenn sie gegen ihren Willen durchgeführt wird? Im Gefolge des Zweiten Weltkriegs(204) zerfielen nicht nur Imperien, sondern auch Nationen, Gemeinschaften und Familien, und diese Teilung haben sie oftmals nicht selbst herbeigeführt, sondern sie wurde ihnen aufgezwungen.
Eine Nation, die in dieser Hinsicht besonders schwer gelitten hat, ist Korea(9). Nachdem es vor dem Zweiten Weltkrieg(205) von Japan(166) kolonisiert und erbarmungslos ausgebeutet worden war, wurde es schließlich 1945 von den Alliierten(40) befreit. Aber die Befreiung von den Japanern(167) brachte dem Land keinen Frieden. Vielmehr führten die gegensätzlichen Zukunftsvisionen, die seine Befreier für das Land hegten – die Sowjets(254) im Norden und die Amerikaner(359) im Süden –, dazu, dass es gewaltsam und dauerhaft in zwei Teile aufgespalten wurde.
Als junge Frau erlebte Choi(1) Myeong-sun viele dieser Ereignisse selbst mit und war in der Folge auch persönlich von schmerzlichen Spaltungen betroffen. Ihre Lebensgeschichte steht beispielhaft dafür, was es bedeutete, den unmenschlichen Kräften, die ihr Land ausbeuteten und aufteilten, ohnmächtig ausgeliefert zu sein.
Choi(2) wurde 1926 geboren, in einem armen Vorort von Seoul(1). Schon vor dem Zweiten Weltkrieg(206) wuchs sie in namenlosem Schrecken auf. Als sie acht oder neun Jahre alt war, verschwand urplötzlich ihre große Schwester, die sehr schön war. Während der nächsten zwei, drei Jahre wusste niemand, was ihr zugestoßen war, und Chois Mutter weinte oft tagelang. Eines Tages dann tauchte ihre Schwester unvermittelt wieder auf. Sie sah schrecklich aus, »wie eine Bettlerin … nichts als Haut und Knochen«. Niemand sagte Choi(3), was geschehen war, doch sie wusste, dass die japanische(168) Polizei irgendwie in die Sache verwickelt war, und sie hörte zufällig die Nachbarn sagen, es sei das Schicksal jeder attraktiven Frau, »Ungemach zu erleiden«. Im Lauf der folgenden Monate musste Choi(4) mit ansehen, wie ihre Schwester an einer geheimnisvollen Krankheit dahinsiechte. Sie starb innerhalb eines Jahres.1
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs(207) wurde die Familie auseinandergerissen, wie sich Choi(5) später erinnerte: »Meinem zweitältesten Bruder stand ich besonders nahe, aber er wurde zum Wehrdienst eingezogen, als ich knapp über zwanzig war. Bald darauf übersiedelte mein ältester Bruder mit seiner Frau und seinen Kindern auf der Suche nach Arbeit in die Mandschurei(2), und ich blieb mit meinen Eltern allein zurück. Ich vermisste meinen zweitältesten Bruder sehr, auch wenn er uns aus Hiroshima(23) schrieb. Ich hatte unser Leben in Armut allmählich satt.« Von Januar 1945 an lebten sie und ihre Mutter allein, und sie mussten mit dem auskommen, was ihre Mutter verdiente(6).
Eines Tages sprach ein Beamter des Stadtteilzentrums Choi(7) an und fragte sie, ob sie sich vorstellen könne, in Japan(169) zu arbeiten. Wenn sie in Korea(10) bliebe, liefe sie Gefahr, zum Frauen-Freiwilligenkorps eingezogen zu werden, sagte er – einem japanischen(170) Programm, das koreanische Frauen zu unbezahlter Arbeit in kriegswichtigen Industrien zwang. Wenn sie dagegen aus freien Stücken nach Japan(171) ginge, bekäme sie einen gut bezahlten Arbeitsplatz.
Choi(8) dachte ein paar Tage darüber nach, und je länger sie dies tat, umso besser gefiel ihr die Idee. Sie wollte einen Beitrag zu den Finanzen ihrer Familie leisten; und wenn sie nach Japan(172) ginge, könnte sie vielleicht sogar ihren Bruder sehen. Sie erzählte ihrer Mutter, was der Beamte gesagt hatte, aber ihre Mutter flehte sie an, nicht zu gehen. Sie schien vor irgendetwas Angst zu haben, aber sie sagte nicht, wovor. Jedenfalls beschloss Choi(9), sich über die Ängste ihrer Mutter hinwegzusetzen. Als ihre Mutter am nächsten Tag bei der Arbeit war, packte sie einen Koffer und meldete sich beim Stadtteilzentrum. Vierundzwanzig Stunden später befand sie sich an Bord eines Schiffs, das sie nach Japan(173) brachte.
Der Arbeitsplatz entsprach in keiner Weise ihren Erwartungen. Choi(10) wurde nicht in eine Fabrik oder ein Büro gebracht, sondern in das Haus eines hohen Offiziers. Sie wusste nicht, welche Arbeiten sie hier erledigen sollte, da die Familie bereits ein Dienstmädchen und einen Koch hatte. Sie wurde in ein Zimmer geführt, bekam etwas zu essen, und man sagte ihr, sie solle warten. Ihre Aufgabe wurde ihr erst in dieser Nacht klar, als der Offizier in ihr Zimmer kam und sie vergewaltigte. Es stellte sich heraus, dass die Ehefrau des Offiziers krank und bettlägerig war: Choi(11) war bloß hierhergebracht worden, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.
Während der nächsten beiden Monate musste Choi(12) fast jede Nacht die gleiche Tortur über sich ergehen lassen. Tagsüber, wenn der Offizier bei der Arbeit war, verbrachte sie lange Stunden mit seiner Familie. Sie flehte sie an, sie gehen zu lassen, aber sie nahmen keine Notiz von ihr. Sie wandte sich direkt an die Ehefrau des Offiziers und sagte ihr, ihr Ehemann würde sie mehr lieben, wenn keine Konkubine im Haus wäre. »Rund zwei Monate lang habe ich sie unentwegt bedrängt, und die Ehefrau hatte mich allmählich satt. Sie wurde unangenehm, aber ich bedrängte sie weiterhin von früh bis spät.«
Schließlich schien die Frau des Offiziers weich zu werden, und sie sagte Choi(13), sie solle ihre Sachen packen. Überglücklich suchte sie ihre Habseligkeiten zusammen und folgte dem Sohn des Offiziers zu einem Bahnhof, wo sie zwei fremden Männern übergeben wurde. Sie dachte, sie brächten sie auf ein Schiff, das nach Korea(11) fahren würde, aber tatsächlich setzten sie sie in einem Militärbordell ab. Einmal mehr war sie betrogen worden.
In den nächsten fünf Monaten erlebte Choi(14) »die Hölle auf Erden«, wie sie sagte. Sie wurde in eine kleine Zelle in einer Art Lagerhaus gesperrt und von bewaffneten Aufsehern bewacht. Sie musste über zwanzig Soldaten pro Tag bedienen und oft weit mehr; diese durften sie behandeln, wie es ihnen gefiel. Menschlichen Kontakt hatte sie nur zu den Männern, die sie bediente, den Wachen und den japanischen(174) Frauen, die ihr gelegentlich Lebensmittel brachten. Mit den anderen Frauen, die in diesem Bordell arbeiteten, durfte sie nicht sprechen: Sie alle waren in getrennten Räumen untergebracht, und die seltenen Male, da sie einander begegneten, schwiegen sie aus Angst vor Bestrafung.
»(15)Weil ich nicht das tat, was man mir befahl, wurde ich häufig geschlagen. Ich wurde ohnmächtig, und wenn dies geschah, bekam ich Spritzen, die mich wieder auf die Beine bringen sollten … Ich wurde so oft geschlagen, weil ich im Liegen mein Gesicht mit meinem Rock bedeckte, weil ich ihnen keinen blasen wollte, wenn sie es von mir verlangten, weil ich Koreanisch(12), nicht Japanisch(175) sprach und so weiter. Ich wurde so oft und so sehr geschlagen, dass ich fürchtete, den Verstand zu verlieren. Ich lag da wie eine Leiche, mit offenen Augen, aber abwesend.«
(16)Schließlich forderte der monatelange, ununterbrochene Missbrauch seinen Tribut. Ihre Vagina wurde wund, schwoll an und begann, schlecht zu riechen; dennoch musste sie weiterarbeiten. Ein Chirurg untersuchte sie und gab ihr diverse Tabletten und Spritzen, trotzdem baute sie weiter ab. Schließlich wurde sie so krank, dass sie für das Bordell nutzlos wurde. Man verfrachtete sie auf ein Boot und schickte sie(17) zurück nach Korea(13).
Als Choi(18) im Juli in Seoul(2) eintraf, war sie bettelarm und so krank, dass sie kaum gehen konnte. Als sie torkelnd die Wohnung ihrer Mutter betrat, brach diese in Tränen aus. Ihre Mutter fragte sie nie, wo sie gewesen war, aber es schien, dass sie alles wusste. Sie weinte oft und beklagte bitterlich, dass man ihre beiden Töchter auf die gleiche Weise zugrunde gerichtet hatte. Choi(19) wurde ins Krankenhaus geschickt, wo man herausfand, dass sie schwanger gewesen war. Die Leibesfrucht war allerdings abgestorben. Sie fühlte sich deshalb so krank, weil der Fötus in ihr verfaulte.
In jenem Sommer wurde Korea(14) von Japan(176) befreit. Während sich ihr Land bemühte, wieder auf die Beine zu kommen, tat Choi(20) das Gleiche. Sie heiratete einen Nachbarn und gebar ihm einen Sohn; aber ihr neuer Ehemann begann, sie zu schlagen, und schließlich warf er sie aus dem Haus. Er sagte, er habe sich bei ihr mit Syphilis angesteckt. Später heiratete sie erneut und bekam vier weitere Kinder, aber ihr Familienleben stand unter keinem guten Stern: »Als ich dreißig wurde, überkam mich eine starke innere Unruhe, und ich wurde geistig verwirrt. Ich hasste plötzlich meinen Mann, mir wurde heiß und kalt. Ich bekam einen Wutanfall und schrie ihn an, er solle verschwinden … Ich erschrak, wenn ich Menschen begegnete, und bei jedem lauten Geräusch zuckte ich zusammen. Ich ging kaum aus dem Haus und kroch auf Händen und Knien.« Sie(21) wagte es nicht, mit irgendjemandem über ihre Vergangenheit zu sprechen, aus Furcht, was man dann von ihr und ihren Kindern denken würde.
Mitte der achtziger Jahre lebte Choi(22) Myeong-sun(23) bei ihrem ältesten Sohn, der mittlerweile über vierzig Jahre alt war. Er zeigte plötzlich psychische Auffälligkeiten, und man wies ihn zur Untersuchung in eine psychiatrische Klinik ein. Choi(24), die erst in jüngster Zeit gelernt hatte, wieder aufrecht zu gehen, wurde ins Krankenhaus gebeten, um mit seinen Ärzten zu sprechen. Sie fragten sie, ob sie je eine Syphilis gehabt habe: Ihr Sohn habe sich anscheinend bereits im Mutterleib bei ihr angesteckt, und die Infektion habe jetzt sein Gehirn befallen. Sie senkte den Kopf, brachte kein Wort heraus und fing an zu weinen(25).
Laut der psychoanalytischen Theorie sind wir psychisch nicht in der Lage, ein so schweres Trauma, wie es Choi(26) Myeong-sun erlebte, zu verarbeiten. Choi(27) Myeong-sun war dem Schock schutzlos ausgeliefert. Die normale Reaktion auf eine schwerwiegende Bedrohung besteht darin, entweder zu fliehen oder zu kämpfen, aber wenn uns beides verwehrt ist – wenn wir wehrlos einer möglichen Vergewaltigung oder Folter ausgesetzt sind –, überflutet uns Existenzangst. Dieses Erlebnis stört die empfindlichen psychischen Selbstregulationsmechanismen. Die mentalen Schutzschilde, die uns in unserem Alltagsleben vor übermäßig starken Stimuli schützen, brechen plötzlich zusammen. Unsere fein abgestimmte Selbstkontrolle, die sorgfältige Balance zwischen unserer Ratio und unseren unbewussten Wünschen oder das trennscharfe Abspeichern von angenehmen und unangenehmen Erlebnissen in unserem Gedächtnis – all dies funktioniert plötzlich nicht mehr, wenn wir einer Bedrohung ausgesetzt sind.2
Manchmal kann ein Trauma wie dieses gravierende langfristige Folgen haben, insbesondere wenn es längere Zeit andauert oder wiederholt erlebt wird, wie es bei Choi(28) Myeong-sun der Fall war. Überlebende können nicht mehr zwischen Realität und Erinnerung, Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden – sie leiden an Flashbacks, in denen sie das Trauma als gegenwärtiges Ereignis noch einmal durchleben. In den schlimmsten Fällen kann es zu einem völligen Zusammenbruch der Persönlichkeit kommen, verbunden mit der Unfähigkeit, noch irgendwie zu funktionieren.
Choi(29) Myeong-sun zeigte viele der klassischen Symptome dessen, was heute posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) genannt wird. Nach ihrer Rückkehr aus Japan(177) sprach sie jahrzehntelang nicht über ihre dortigen Erlebnisse – vermutlich zum Teil weil sie es nicht ertrug, sich ihrem ganzen Grauen zu stellen, aber auch weil sie nicht davon ausgehen konnte, dass es irgendjemand verstehen würde. Ihre Unfähigkeit, mit der Außenwelt zurechtzukommen, manifestierte sich in einer schweren Agoraphobie. All ihre Beziehungen zu anderen Menschen waren durch das, was sie durchgemacht hatte, vergiftet. Sie(30) versuchte, die Schmerzen durch Einnahme von Beruhigungsmitteln auszuschalten, nach denen sie süchtig wurde, aber da dies nichts brachte, entwickelte sie extreme Aggressionen gegen sich selbst. Da sie glaubte, sie verdiene nichts Besseres, blieb sie jahrelang in einer Beziehung mit ihrem Ehemann, der sie missbrauchte, und die psychosomatischen Symptome, die sie entwickelte, sorgten dafür, dass sie sich jahrzehntelang buchstäblich nur auf Händen und Knien fortbewegen konnte. Dies war eine Manifestation dessen, was Anna Freud(1) »Identifikation mit dem Aggressor« nannte: Sie bestrafte sich selbst, so wie sie andere während des Kriegs bestraft hatten.
Der vielleicht herzzerreißendste Teil ihrer Lebensgeschichte war deren Coda: die Erkenntnis, dass sie(31) ihren Sohn bereits im Mutterleib mit Syphilis angesteckt hatte. Als sie Ende der achtziger Jahre von einer koreanischen(15) Nichtregierungsorganisation bei deren Recherchen über Zwangsprostitution während des Kriegs interviewt wurde, konnte sie über ihren Sohn lediglich sagen: »Es ist meine Schuld. Ich habe das Leben meines Sohns ruiniert.« Sie selbst war überzeugt davon, dass sie ihm das Gleiche angetan hatte, was ihr angetan worden war – sie hatte ihn angesteckt und so sein Leben zerstört. Sie(32) war zur Täterin geworden.
TRAUMA UND OHNMACHT Choi(33) Myeong-sun hätte ihr Trauma womöglich leichter verwunden, wenn das Umfeld, in das sie zurückkehrte, stabil gewesen wäre, aber Korea(16) hatte seine eigenen Traumata durchgemacht. Zwischen 1939 und 1945 wurden mindestens 750000 koreanische Männer zur Arbeit in japanischen(178) Fabriken zwangsverpflichtet, und eine weitere Dreiviertelmillion wurde »freiwillig« mobilisiert. Choi(34) Myeong-suns mittlerer Bruder war einer davon. Auch Frauen wurden regelmäßig für verschiedenste Arbeiten zwangsverpflichtet. Gemäß dem japanischen(179) Kolonialgesetz waren alle Frauen im Alter zwischen 14 und 45 Jahren verpflichtet, jedes Jahr zwei Monate lang im Nationalen Arbeitsdienstkorps mitzuarbeiten. Gegen Ende des Kriegs wurden sie auch zum »Freiwilligenkorps« eingezogen, wo sie länger dienen mussten – und dem Choi(35) Myeong-sun durch den Weggang nach Japan(180) zu entgehen hoffte. Die Zwangsverpflichtung von ›Trostfrauen‹, wie sie euphemistisch genannt wurden, war nur die Spitze des Eisbergs: Es war lediglich der grausamste Teil eines viel ausgedehnteren Systems kolonialer Sklaverei(23).3
Leider haben das Ende des Kriegs und das Ende der japanischen(181) Herrschaft das koreanische(17) Gefühl der Ohnmacht nicht beendet. Anders als die Indonesier(57) oder Vietnamesen(13) – oder, auf der anderen Seite der Welt, Italiener(34) oder Franzosen(114) – hatten die Koreaner(18) nie die Genugtuung, eine aktive Rolle bei ihrer Befreiung gespielt zu haben. Ihre Unterjochung durch die Japaner dauerte bis in die letzten Momente des Zweiten Weltkriegs(208), als eine andere Gruppe von Fremden kam und die Macht ergriff: die Sowjets(255) von Norden und die Amerikaner(360) von Süden. Die Koreaner(19) selbst schienen nicht Herren ihres Schicksals zu sein.
Im Norden verhieß die Ankunft der Sowjets(256) nichts Gutes für die Zukunft. Laut Zeitungsberichten und diplomatischen Dokumenten aus der Zeit war die erste Welle sowjetischer(257) Truppen gewalttätig und undiszipliniert: Sie stießen plündernd Richtung Süden vor, räumten alle Geschäfte und Warenlager leer, zerlegten Fabriken und transportierten die Teile in die UDSSR und fielen unterwegs wahllos über einheimische Frauen her. Einmal mehr schien das Schicksal der Trostfrauen symbolträchtig zu sein. Mun Pilgi(1), eine Koreanerin, die zur Arbeit in einem Bordell in der Mandschurei(3) gezwungen worden war, beschrieb ihre Befreiung als eine weitere Episode in einem langjährigen Trauma: »Jetzt, wo die Japaner(182) abgezogen waren, versuchten uns die Russen(21) zu vergewaltigen.« Sie musste vor den Sowjets fliehen, wobei sie sich zu Fuß nach Seoul(3) durchschlug.4
Die Erfahrung von Koreanern(20) im Süden des Landes war genauso demoralisierend, und auch hier sprach die Behandlung von ›Trostfrauen‹ Bände. Pak Duri(1), eine Koreanerin, die in einem Sexlager auf Formosa(1) (dem heutigen Taiwan(3)) eingesperrt worden war, behauptete, sie sei nach ihrer vorgeblichen Befreiung drei weitere Monate von den Amerikanern(361) festgehalten worden. Der einzige wirkliche Unterschied zwischen japanischen(183) und amerikanischen Soldaten sei die Tatsache gewesen, dass die Amerikaner mehr Trinkgeld gaben: Wenn dies »Freiheit« war, dann verhieß sie nichts Gutes für das Land.5 Als die US-Truppen im Jahr 1945 in Südkorea(4) eintrafen, säuberten sie den Staat nicht sofort von den Japanern(184) und deren Kollaborateuren, sondern beließen im Interesse der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung die Dinge zunächst mehr oder minder so, wie sie waren. Kollaborateure wurden nie vor Gericht gestellt, und der Polizeiapparat wurde überhaupt nicht gesäubert. Das freundliche, ja geradezu herzliche Verhalten der Amerikaner gegenüber den besiegten Japanern(185) stieß auf einhellige, aber weitgehend ohnmächtige Empörung.6
Historiker haben vielfach verglichen, was die Sowjets(259) und die Amerikaner(363) in ihren jeweiligen Zonen in Korea(21) vollbracht haben. Im Ganzen gesehen, waren die Sowjets brutal, aber effizient, während die Amerikaner mit guten Absichten, aber ohne klaren Aktionsplan kamen, sodass in einem Großteil ihrer Zone recht chaotische Zustände herrschten. Solche Vergleiche übersehen jedoch einen ganz zentralen Punkt: Entscheidend für die meisten Koreaner(22) war die Tatsache, dass sie nach wie vor von Fremden regiert wurden. Dies wurde Ende 1945 deutlich, als die Alliierten(41) den Plan bekannt gaben, das Land unter Treuhandverwaltung Großbritanniens(178), Chinas, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten zu stellen. Unmittelbar nach Veröffentlichung dieser Nachricht kam es auf beiden Seiten des 38. Breitengrads zu Protesten. Im Norden traten die gemäßigten und nationalistischen Politiker, die bislang mit den Sowjets kooperiert hatten, in großer Zahl zurück. Darauf wurden sie alle von den Sowjets verhaftet, einschließlich eines der populärsten Anführer im gesamten Land, Cho Man-sik(1), dessen unerschütterliche Integrität ihm den Beinamen »Gandhi(2) Koreas« eingebracht hatte. Er verschwand spurlos, und es wird gemunkelt, er sei zu Beginn des Koreakriegs(4) hingerichtet worden. Unterdessen kam es im Süden zu turbulenten Demonstrationen und Streiks: Schulen wurden ebenso geschlossen wie Fabriken, Geschäfte und Eisenbahnen. Einige dieser Proteste schlugen in Gewalt um. Als die Amerikaner zum Beispiel einen lokalen Politiker unter Druck setzten, den Plan für eine Treuhandverwaltung zu unterstützen, wurde er am nächsten Morgen tot aufgefunden: Jemand hatte ihm vor seinem Haus in den Kopf geschossen.7
Was die Koreaner(23) so aufbrachte, war die Tatsache, dass beide Supermächte(364)(260) fest entschlossen zu sein schienen, dem Land ihre jeweiligen Macht- und Herrschaftssysteme aufzuerlegen, so wie es die Japaner(186) Jahrzehnte zuvor getan hatten.
Im Norden installierten die Sowjets(261) unter ihrer Marionette Kim Il-sung(1) eine stalinistische(27), prosowjetische Regierung(262). All diejenigen, die sich diesem neuen Regime widersetzten oder die auch nur moderat antisowjetische(263) Meinungen äußerten, wurden verhaftet oder von ihren Posten entfernt. Ende 1945 hatten viele im Norden bereits jede Hoffnung verloren: Mittlerweile strömten jeden Tag 6000 Flüchtlinge nach Süden. Bis Juli 1947 waren laut New York Times(5) fast 2 Millionen Menschen in die amerikanische(365) Zone geflohen.8
Derweil unterstützten die Amerikaner(366) im Süden eine konservative Koalition aus Auslandskoreanern, rechtsgerichteten Nationalisten und wohlhabenden Grundbesitzern, von denen einige sehr eng mit den Japanern(187) kollaboriert hatten. Als Führungsfigur schälte sich schließlich der ebenso brutale wie autoritäre Rhee Syng-man(1) heraus, der die massive Unterdrückung von Kommunisten(135) und – moderaten ebenso wie radikalen – Sozialisten betrieb und dessen Regierungszeit von wiederholten Massakern an unschuldigen Zivilisten überschattet war. Als die Amerikaner und Sowjets(264) ihre Streitkräfte 1948 schließlich zurückzogen, war das Land zutiefst gespalten und blieb in der Mitte geteilt. Sämtliche Versuche, einen gemeinsamen Nenner zwischen dem kommunistischen Norden und dem nationalistischen Süden zu finden, waren gescheitert, und beide provisorischen Regierungen lehnten jegliche Machtaufteilungsvereinbarung ab. Eine Wiedervereinigung ohne Anwendung von Gewalt schien jetzt unmöglich zu sein. Damit war der Weg für den Koreakrieg(5) bereitet, einen der brutalsten Konflikte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
BÜRGERKRIEG Historiker sehen im Koreakrieg(6) üblicherweise den ersten offenen Konflikt in der neuen Ära des Kalten Kriegs(40) zwischen den Supermächten(367)(265), und ohne die Beteiligung der Supermächte hätte er zweifellos einen anderen Verlauf genommen. Nordkorea(3) nahm von Anfang an die Dienste sowjetischer(266) Berater in Anspruch, und nach der ersten Phase des Kriegs kämpften auch rund 200000 Soldaten der Volksrepublik China(67) aufseiten Nordkoreas(4). Die Südkoreaner(5) stützten sich auf eine beispiellose Koalition von 57 anderen Ländern, von denen die USA selbstverständlich am wichtigsten waren.9 In gewisser Weise bündelte der Koreakrieg(7) die Spannungen, die nach 1945 die ganze Welt durchzogen. Die gleiche ideologische Kluft, die Korea teilte, teilte auch Europa(234) und sollte fast bis ans Ende des Jahrhunderts die gesamte Welt spalten. Aber eine solche Interpretation übersieht die Tatsache, dass es auch ein Bürgerkrieg war, in dem hauptsächlich Koreaner(24) gegeneinander kämpften. Ebenso wenig erklärt sie die extreme Gewalttätigkeit, deren Opfer vielfach keine Soldaten, sondern Zivilisten waren.
Der Hass, der während des Kriegs entfesselt wurde, ging weit über das hinaus, was sich rational erklären lässt; und er hat genauso viel mit dem Zweiten Weltkrieg(209) wie mit dem Kalten Krieg(41) zu tun. Viele der Offiziere auf beiden Seiten waren vom japanischen(188) Militär ausgebildet worden und hatten dessen aggressives nationalistisches Ethos verinnerlicht. Einige hatten vor 1945 in Korea(25) als Polizisten gedient und in der Vergangenheit bereits mehrfach ungestraft Gewalttaten begangen. Andere hatten aufseiten der Japaner an der Unterwerfung von Teilen Chinas(68) und Südostasiens(7) teilgenommen und waren dort an Gräueltaten beteiligt gewesen. Selbst diejenigen, die nicht von den Japanern(189) gedrillt worden waren, hatten im Hinterkopf Erinnerungen an die japanische(190) Besatzung. In Nordkorea(5) kam hinzu, dass eine Reihe führender Politiker in den zurückliegenden dreißig Jahren in der Sowjetunion(267) gelebt hatte, wo sie unmittelbare Erfahrungen mit dem stalinistischen(28) Terror(20) gemacht hatten. Auf die eine oder andere Weise hatte die Erfahrung gnadenloser Unterjochung die meisten Koreaner(26) psychologisch nachhaltig geprägt, und nicht zuletzt die Furcht, Opfer einer solchen Unterjochung zu werden, trieb sie zu brutalen Gewaltakten.
Von Anfang bis Ende war der Koreakrieg(8) durch außerordentliche Grausamkeit gekennzeichnet. Beim ersten Vorstoß nordkoreanischer(6) Truppen in Richtung Süden reagierte das südkoreanische(6) Regime mit der Ermordung von über 100000 mutmaßlichen Linken, die fast alle unschuldige Zivilisten waren. Als sich das Blatt wendete und die Südkoreaner(7) nach Norden marschierten, reagierte der Norden in gleicher Weise. Das berüchtigtste Massaker der zurückweichenden Kommunisten(136) fand im Gefängnis von Daejeon statt, wo zwischen 5000 und 7000 Menschen Massenhinrichtungen zum Opfer fielen – aber derartige Vorfälle ereigneten sich überall im Land. Bei den Amerikanern(369) rief dies sofort Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg(210) wach: Die Washington Post(2) nannte den Schauplatz eines Massakers sogar das »Rote Buchenwald(3)«.10
Wie im Zweiten Weltkrieg(211) wurden Frauen abermals Opfer von Ausbeutung. Die südkoreanische(8) Armee richtete für ihre Truppen auch »spezielle Bedürfnisanstalten« ein, die schaurige Ähnlichkeiten mit dem japanischen(191) System besaßen: Hier wurden gefangene nordkoreanische Frauen genau den gleichen Formen sexueller Versklavung(24) unterworfen, die Frauen wie Choi(36) Myeong-sun im Jahr 1945 erleben mussten. Der einzige wesentliche Unterschied bestand darin, dass die Japaner diese Dinge vor allem fremdländischen Frauen angetan hatten, während die Koreaner(27) diese Verbrechen nun an Frauen ihrer eigenen Staatsangehörigkeit begingen.11
Der Koreakrieg(9) dauerte drei Jahre und forderte rund 1,25 Millionen Todesopfer, ein Großteil davon Zivilisten. Als er schließlich im Juli 1953 endete, war die neue Waffenstillstandslinie nicht weit vom 38. Breitengrad entfernt, an dem der Konflikt seinen Ausgang genommen hatte. Der Krieg hatte nichts gelöst.
Aus psychologischer Sicht hatte der Krieg lediglich der Vorstellung Nachdruck verliehen, dass Brutalität notwendig sei, um zu überleben: In einer schwarz-weißen Welt von Tätern und Opfern hatten beide Seiten gelernt, dass es besser war, Täter zu sein. Auch dies war ein Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs(212) und der Ära der imperialen Herrschaft der Japaner(192). Es ist aufschlussreich, dass sowohl Nord- als auch Südkorea(9) nach 1945 von repressiven Diktaturen beherrscht wurden. Beide Regime verachteten die Schwäche, die dazu geführt hatte, dass sie von den Japanern(193) unterjocht wurden, und sie waren entschlossen, jedes Verhalten zu bestrafen, das sie an diese Schwäche erinnerte. Diese Einstellung brachte manch bittere Ironie mit sich. In den sechziger und siebziger Jahren prangerte der südkoreanische Militärdiktator Park Chung-hee(1) die »sklavische(25) Mentalität« seiner Landsleute gegenüber starken Ausländern an, während er zugleich sein eigenes Volk brutaler Repression aussetzte. Ganz ähnlich brandmarkte Kim Il-sung(2) in Nordkorea(7) die »unterwürfige« Haltung seines Volkes gegenüber Ausländern, während er gleichzeitig von den Menschen forderte, sich ihm zu unterwerfen.
Diese Einstellungen beherrschten das offizielle Denken in Südkorea(10) bis weit in die achtziger Jahre hinein; im Norden(8) halten sie sich bis heute. Die damit einhergehende Selbstbestrafung ist ziemlich herzzerreißend: Wie Choi(37) Myeong-sun hat das ganze Volk gelernt, auf Händen und Knien zu kriechen.12
FLASHBACKS Das kollektive Unbewusste der Koreaner(28) trug von der Unterjochung durch die Japaner(194) tiefe Narben davon. Wer Zweifel daran hegt, braucht sich nur die Ausbrüche von Furcht und Japanfeindlichkeit anzusehen, die in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg(213) das Land regelmäßig erfassten.
Als die Amerikaner(370) zum Beispiel 1948 eine Handvoll japanische(195) Beamte nach Südkorea(11) kommen ließen, weil sie ihnen bei der Stabilisierung der dortigen Wirtschaft helfen sollten, begannen sofort wilde Gerüchte zu kursieren, dass »Japan(196) wiederbewaffnet und so in die Lage versetzt werden soll, Korea erneut zu erobern«. Mit einem Mal waren die koreanischen Zeitungen voller wütender Leitartikel. »Kommen unsere Feinde, die Japaner, erneut in unser Land?«, fragte Chosun Ilbo(1) entrüstet. Am 24. Juni veröffentlichte ein Bündnis von 26 verschiedenen politischen Gruppen eine gemeinsame Erklärung, wonach »imperialistische Elemente in Japan(197), die die Brandstifter des Zweiten Weltkriegs(214) waren, versuchen, aufzurüsten und Korea wieder zu besetzen«. Politiker wie Kim Ku(1) riefen umgehend »30 Millionen Koreaner(12) zu einem unerbittlichen Kampf [auf], um Korea von allen japanischen(198) Ausbeutern zu befreien«. Solche Erklärungen waren nicht bloß politische Rhetorik: Sie waren auch Ausdruck einer irrationalen, aber genuinen unbewussten Furcht, dass Korea abermals unter japanische(199) Herrschaft geraten könnte.13
Die Ereignisse der kommenden Jahre unterdrückten diese Ängste, aber 1965 brachen sie in einer Reihe antijapanischer Großdemonstrationen auf den Straßen Seouls(4) erneut hervor. Der Hauptauslöser war diesmal die Unterzeichnung eines neuen Abkommens mit Japan(200) über die Normalisierung der Beziehungen. Japans Einfluss in der Region wuchs, ebenso der der Vereinigten Staaten(371), und die Tatsache, dass Südkorea(13) unlängst den Schulterschluss mit diesen beiden Ländern gesucht hatte, erzeugte großen Unmut.
Unterdessen symbolisierte die Förderung einer riesigen neuen Sexindustrie, die vor allem auf japanische(201) Touristen sowie Soldaten und Matrosen der amerikanischen(372) Militärstützpunkte ausgerichtet war, die erneute Unterwürfigkeit gegenüber den USA und Japan(202). Die fortgesetzte Ausbeutung koreanischer(29) Frauen – und, im weiteren Sinne, von Korea selbst – weckte unangenehme Erinnerungen an die Vergangenheit.14
In den letzten Jahren gab es viele ähnliche Flashbacks des Zweiten Weltkriegs(215). Am wirkmächtigsten war das Wiederaufkommen des Problems der ›Trostfrauen‹, das erstmals in den neunziger Jahren auftrat. Südkorea(14) hatte gerade das Joch einer langjährigen Militärdiktatur abgeschüttelt, und in der neuen, demokratischen(55) Atmosphäre fassten einige ehemalige Trostfrauen den Mut, öffentlich über ihre Erlebnisse zu berichten. Während dieser Zeit erklärte sich auch Choi(38) Myeong-sun erstmals bereit, ihre Geschichte zu erzählen.
Diese Enthüllungen lösten in ganz Südkorea(15) große Betroffenheit aus. Als der japanische(203) Ministerpräsident das Land 1992 besuchte, fand außerhalb der japanischen(204) Botschaft in Seoul(5) eine Protestkundgebung statt, bei der die Demonstranten eine Entschuldigung Japans verlangten. Schon bald wurden diese Demonstrationen zu einem wöchentlichen Ereignis. Über zwanzig Jahre lang versammelte sich jeden Mittwoch eine Menschenmenge vor der Botschaft, und ehemalige Trostfrauen wie Choi(39) Myeong-sun wurden zu einem lebenden Symbol der nationalen Opferrolle Koreas. Im Jahr 2011 wurde zu Ehren der Trostfrauen ein Denkmal errichtet: die Bronzestatue eines knienden jungen Mädchens mit geballten Fäusten und fest auf die japanische(205) Botschaft gerichteten Augen. Dieser massive Druck brachte die japanische(206) Regierung schließlich zum Einlenken. Im Dezember 2015 erklärte sie sich bereit, eine Milliarde Won (damals ungefähr 8 Millionen Dollar) für eine neue Stiftung zu spenden, die ehemaligen Trostfrauen psychologische Betreuung anbietet.15
In mancher Hinsicht bedeuteten diese jüngsten Ereignisse für Südkorea(16) einen gesunden Schritt nach vorn. Endlich stellte man sich einem düsteren Kapitel der eigenen Geschichte: einigen der Dinge, die den koreanischen Frauen während des Kriegs angetan worden waren. Dass es vor allem darum ging, ihre seelischen Wunden zu heilen, war eine indirekte Anerkennung der Traumata, die sie in der Vergangenheit erlitten hatten und die auch ihr gegenwärtiges Leben noch überschatteten. Aber die Art und Weise, wie die Südkoreaner(17) mit diesem Problem umgingen, verschleierte ebenso viele Tatsachen, wie sie enthüllte. Man muss sich lediglich die Geschichten der Trostfrauen selbst ansehen, um zu erkennen, dass auf viele Aspekte ihrer Traumata nicht eingegangen wurde. Es war kein Japaner(207), der Choi(40) Myeong-sun durch falsche Versprechungen der sexuellen Sklaverei(26) auslieferte, sondern ein koreanischer Mitarbeiter eines Stadtteilzentrums. Andere Frauen hatten über ihre Vergewaltigung durch sowjetische(268) Soldaten oder die Ausbeutung durch Amerikaner(374) gesprochen, die noch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs(216) weiterging. All diese Frauen litten im weiteren Verlauf ihres Lebens nicht nur unter den Folgen des Traumas, sondern auch unter ihrer Stigmatisierung durch die südkoreanische(18) Gesellschaft.
Es gab noch andere, grundlegendere Probleme. Feministinnen(8) wiesen darauf hin, dass Gewalt gegen Frauen in der südkoreanischen(19) Gesellschaft weit verbreitet sei, und sie legten schockierende Statistiken über sexuelle und häusliche Gewalt in dem Land vor.16 Wissenschaftler(61) verwiesen auf die repressive Natur der koreanischen Regime nach dem Zweiten Weltkrieg(217), die nicht nur Frauen, sondern die gesamte Gesellschaft unterdrückt hätten. Ein Wissenschaftler ging sogar so weit, die südkoreanische Militärdiktatur der sechziger Jahre ein »nekropolitisches« Regime zu nennen, das heißt eines, das sich selbst am Leben erhielt, indem es seine Bürger wie Objekte behandelte und noch das letzte Bisschen Leben aus ihnen herauspresste, bevor es sie wegwarf. Ihre Einstellung gegenüber Trostfrauen und der Prostitution, die einen bedeutenden Beitrag zum koreanischen Bruttoinlandsprodukt leisteten, war das deutlichste Symbol dafür. Auch diese Dinge waren ein Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs.17
Wenn die Geschichte von Choi(41) Myeong-sun und die Geschichte von Korea(30) insgesamt etwas verdeutlichen, dann sind es die weitreichenden Folgen von Traumatisierungen. Südkorea(20) steht noch immer am Anfang der Aufarbeitung seiner Vergangenheit, insbesondere der schrecklichen Dinge, die Koreaner(31) als Reaktion auf die Ohnmacht, die sie während der japanischen(210) Besatzung erlebten, anderen Koreanern(32) antaten. Nordkorea(9), das noch immer von einem erbarmungslos repressiven Regime regiert wird, hat mit diesem Prozess noch nicht einmal angefangen.
GETEILTE NATIONEN Bis zu einem gewissen Grad ist die Geschichte Koreas(33) während und nach dem Krieg die Geschichte von uns allen. Der Zweite Weltkrieg(218) war ein globales Trauma, das ungeheure Kräfte in der Welt entfesselte, die niemand mehr kontrollieren konnte. Viele Nationen hatten während des Kriegs genauso wenig Einfluss auf ihr eigenes Schicksal wie Korea. Selbst die unumstrittenen Sieger des Krieges, Großbritannien(179), die USA und die UDSSR, wurden gegen ihren Willen in die Gewalt hineingezogen, und dies zu einem hohen Preis an Menschenleben und an materiellen Ressourcen. Selbstverständlich haben sowohl Menschen als auch Nationen sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht, aber niemand blieb völlig verschont. Die Traumata, die Menschen wie Choi(42) Myeong-sun erlitten haben, sind Teil unserer gemeinsamen Erfahrung geworden: Ihre Lebensgeschichte stößt nicht nur in Korea, sondern weltweit auf breite Resonanz.18
Nach dem Krieg entstand in Korea(34) eine Kultur des Märtyrertums, die Menschen aller Nationen, die während des Kriegs von ausländischen Truppen besetzt wurden, und aller Nationen, die in den folgenden Jahren die Fesseln imperialer Herrschaft abschüttelten, vertraut sein dürfte. Wie die meisten Länder der Welt hoffte auch Korea 1945 auf eine Wiedergeburt und auf die Chance, auf der Grundlage der Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Fortschritt etwas Neues aufzubauen. Vor allem aber erhoffte es sich Einheit – nicht die umfassende, globale Einheit, von der Menschen wie Cord Meyer(41) oder Garry Davis(35) träumten, sondern die einfache nationale Einheit, welche die beiden Hälften des Landes zusammenhalten würde. Sowohl die Nordkoreaner(10) als auch die Südkoreaner(21) taten, was sie konnten, um eine Entscheidung zu erzwingen, nur um ein weiteres Mal festzustellen, dass diese nicht in ihrer Macht lag.
Korea(35) war nicht die einzige Nation, die von ausländischen Kräften gespalten wurde. Auch Vietnam(14) sollte über viele Jahre hinweg aufgrund des Kalten Kriegs(42) in zwei Teile gespalten sein. Der Iran(7) erlitt für ein paar Jahre das gleiche Schicksal, ehe die Sowjets(270) überzeugt werden konnten, sich zurückziehen. In Europa(235) war es sogar noch schlimmer. Hier manifestierte sich die Spaltung zwischen Ost und West im großen Rahmen in der Teilung des gesamten Kontinents, der über vierzig Jahre lang durch einen metaphorischen »Eisernen Vorhang(4)« getrennt wurde. Sie manifestierte sich auf nationaler Ebene, als Deutschland(124), wie Korea, geteilt wurde. Auf einer kleineren Ebene schlug sie sich in der Teilung von Städten wie Wien(5) und Berlin(6) nieder. Die Mauer, die das kapitalistische Westberlin(1) vom kommunistischen(137) Ostberlin(1) trennte, sollte eines der wirkmächtigsten Symbole des 20. Jahrhunderts werden. Der Zusammenbruch von Imperien erzeugte ähnliche Spaltungen. Als sich die Briten(180) im Jahr 1947 aus Indien(37) zurückzogen, teilten sie es in ein mehrheitlich hinduistisches Indien im Süden und ein mehrheitlich muslimisches(11) Pakistan(9) im Nordosten und Nordwesten. Über das Schicksal von zig Millionen Menschen entschieden daher weniger Akte nationaler Selbstbestimmung als vielmehr hastige Beschlüsse britischer Bürokraten. Die dadurch geschaffene geopolitische Verwerfungslinie verlor in den anschließenden Jahrzehnten nichts von ihrer Unbeständigkeit, als nämlich Indien und Pakistan mit ihrer eigenen lokalen Spielart eines Kalten Kriegs(43) begannen, Atomwaffen inklusive.
Die Teilung Palästinas(15) hatte ähnlich beunruhigende Folgen. Im Jahr 1947 entwarfen die UN einen Teilungsplan, ohne die arabische Bevölkerung einzubeziehen beziehungsweise deren Zustimmung dazu einzuholen. Daraufhin kam es zu einem Bürgerkrieg, in dem Israel(48) einen noch größeren Teil des Landes in Besitz nahm. Das Gefühl der Ohnmacht, das dies bei den palästinensischen Arabern erzeugte, ist die Wurzel des Konflikts, der die Region bis heute belastet.
Die schädlichste Nachwirkung der traumatischen Umbrüche, die der Zweite Weltkrieg(219) verursachte, ist das Gefühl hilfloser Demütigung, das sie hervorgerufen haben. Dies gilt für all jene, die während und nach dem Krieg »gemartert« wurden, selbst für diejenigen, die glauben, sie hätten sich seit Langem davon erholt. Wenn einer Gemeinschaft oder einer Nation Gewalt angetan wird und sie in ihrer Existenz bedroht wird, dann behält sie tief in ihrer kollektiven Psyche eine Erinnerung an diese Gewalterfahrung. Aber wenn die Gewalt und die Demütigung, die ein Volk erlebt, längere Zeit anhalten und wenn dieses Volk nie ein stabiles Umfeld erhält, in dem es sich erholen kann, dann tendiert die Wahrscheinlichkeit, dass das Trauma je überwunden wird, gegen null.
Wenn man die Gesellschaften irgendeiner der Nationen, die während des Krieges und danach gewaltsam entzweit wurden, betrachtet, würde man gut daran tun, sich an das zu erinnern, was Choi(43) Myeong-sun einer Interviewerin des Korean Council (for the Women Drafted for Military Sexual Slavery by Japan(211)) Anfang der neunziger Jahre sagte. »Nach außen hin wirke ich normal, aber ich habe ein Nervenleiden«, sagte sie. »Wer würde ahnen, welche schrecklichen inneren Qualen mir diese furchtbare Geschichte, die in meinem Herzen begraben ist, bereitet?«