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Geächtete

Mathias Mendel(1) wurde in einer Epoche geboren, in der Nationalstaaten noch weitgehend fremd waren. Er wuchs in Hedwig(1) auf, einem deutschsprachigen Dorf in den Ausläufern der Karpaten(2). Während er und seine Verwandten Deutsche(129) waren, waren die meisten anderen Menschen in der Region Slowaken, und sein Lehrer in der Schule sprach nur Ungarisch(18): Dies waren die letzten Tage der Österreichisch-Ungarischen Monarchie(7)(19), als Nationalität zugleich alles und nichts bedeutete. Jedenfalls betrachtete Mathias(2) es immer als selbstverständlich, dass er und seine Gemeinschaft hier dazugehörten. Deutsche lebten seit über 500 Jahren in diesem Teil Europas(240).1

Als die Tschechoslowakei(23) nach dem Ersten Weltkrieg ein unabhängiger Staat wurde, änderte sich wenig in seinem Dorf. Er wuchs heran und heiratete eine Frau namens Maria(1), die halb Slowakin(1) war. Im Jahr 1924 bekamen sie eine Tochter, die sie Margit(1) nannten, und drei Jahre später eine zweite, die sie nach ihrer Mutter, Maria(1), nannten. Während der nächsten dreizehn, vierzehn Jahre bekamen sie fünf weitere Kinder: vier Jungen (Ernst(1), Richard(1), Emil(1) und Willi(1)) und ein Mädchen namens Anneliese(1). Sie waren arm, aber im Grunde glücklich. Sie bewirtschafteten ihre Felder, bauten Kartoffeln und Getreide an und besaßen ein paar Stück Vieh. Jedes Frühjahr reiste Mathias(3) zur Arbeit zu den großen adligen Gutsbetrieben in Deutschland(130) und kehrte erst nach der Ernte im Oktober zurück. Der Lohn, den er mit diesen Arbeitseinsätzen im Ausland verdiente, war das einzige Geld, das sie hatten.

In den ersten vierzig Jahren des 20. Jahrhunderts war dies der Lebensstil von Mathias(4) und seiner Familie. Während all dieser Zeit änderte keines der großen politischen Ereignisse in nennenswertem Ausmaß die zeitlosen Rhythmen des Dorfes. Aber dann kam der Zweite Weltkrieg(224), und nichts war mehr so, wie es gewesen war.

Als Erstes änderte sich den Stellenwert der Nationalität. Mathias(5)’ Gemeinschaft hatte jahrhundertelang unter Slowaken in einer Atmosphäre gelebt, die von wechselseitiger Hilfsbereitschaft geprägt war. Aber nach der Machtübernahme durch die Nazis(69) lag eine neue Spannung in der Luft. Mit einem Mal schienen die ethnische Zugehörigkeit und die Frage, welche Volksgruppe legitime Ansprüche auf das Land erheben konnte, die einzigen relevanten politischen Anliegen zu sein. Die Ereignisse überschlugen sich. Deutschland(131) besetzte 1938 das Sudetenland(1) und marschierte ein Jahr später in die Tschechoslowakei(24) ein. Die Slowakei(2) erklärte 1939 ihre Unabhängigkeit, worauf Ungarn(20) in das slowakische Grenzgebiet einmarschierte. Die jahrhundertelang gelebte Toleranz zwischen Nachbarn schwand rasch dahin.

Mathias(6) verdingte sich nicht länger als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter. Während des Kriegs arbeitete er an Straßenbauprojekten und bekam Arbeit in einer Chemiefabrik. Im Jahr 1944 wurde er in den Volkssturm eingezogen, um beim Schutz seines Dorfes zu helfen: Slowakische(3) Partisanen, die sich gegen ihr eigenes Regime erhoben hatten, griffen jetzt jeden an, der Verbindungen zu Deutschland(132) hatte. Es schien, als wären Slowaken und Deutsche keine Freunde mehr. Das Ende kam 1945, als die Rote Armee(6) aus dem Osten anrückte. Aus Sorge vor dem, was in der Slowakei(4) drohte, ordnete das Oberkommando der Wehrmacht die allgemeine Evakuierung der gesamten deutschsprachigen Minderheit an. 

Ehe sie sich’s versah, wurde die Familie Mendel(7) getrennt. Zunächst gingen zwei der Jungen, der neunjährige Emil(2) und der siebenjährige Willi(2), die mit der Kinderlandverschickung(1) (KLV) ins Sudetenland(2) geschickt wurden, wo sie bei Fremden untergebracht wurden. Bald darauf schlossen sich die älteren Kinder mit Freunden und Nachbarn einem Flüchtlingstreck in Richtung Westen nach Deutschland(133) an. Mathias(8)’ Frau, Maria(2), die ein weiteres Mal hochschwanger war, nahm die fünfjährige Anneliese(2) und ging nach Österreich(8). Noch auf der Flucht brachte sie ihr achtes Kind, Dittmann(1), zur Welt.

Schon bald war Mathias(9) der einzige, der noch da war. Als Mitglied des Volkssturms blieb er noch eine Zeit lang, um mit anderen das Dorf zu beschützen, doch schon bald wurde auch er evakuiert. Seine Einheit brach in Richtung Prag(4) auf, aber sie wurde schon bald von der Roten Armee(7) gefangen genommen und in einem ehemaligen Konzentrationslager(21) interniert, in dem bis vor Kurzem Juden(83) eingesperrt gewesen waren. Schließlich wurde Mathias(10) freigelassen, aber er durfte nicht nach Hedwig(2) zurückkehren. Stattdessen wurde er zusammen mit allen anderen Deutschen(134) in der Tschechoslowakei(25) zwangsausgesiedelt. Er(11) sollte sein Heimatland nie mehr wiedersehen.

Abb. 42: Mathias Mendel(12), kurz nach seiner Vertreibung aus der Tschechoslowakei(26).

Erst im Sommer 1946 wurde Mathias(13) mit seiner Familie wiedervereinigt, als er sie schließlich in der Stadt Möckmühl(1) nahe Heilbronn(1) in Süddeutschland(135) fand. In dem Land, in das sie kamen, herrschte das Chaos. Die Familie Mendel(14) war nur eine Handvoll von mehr als 4 Millionen deutschen(136) Flüchtlingen, die vor der Roten Armee(8) geflohen waren. Die meisten von ihnen stammten aus östlichen Gebieten des Reichs, entlang der alten polnischen(40) Grenze, aber einige waren auch, wie die Mendels(15), aus anderen Staaten in Mitteleuropa geflohen.

Die Zahl der Flüchtlinge war so groß, dass es schwer war, sie alle vernünftig unterzubringen. Nach jahrelanger Bombardierung durch die Alliierten(42) lagen die meisten Städte in Deutschland(137) in Trümmern: Rund 3,9 Millionen der 19 Millionen Wohnungen des Landes waren zerstört worden. Flüchtlinge mussten mit allem vorliebnehmen, was ein Dach hatte: Luftschutzräumen, Scheunen, Kasernen, Fabrikgebäuden, sogar ehemaligen Gefangenenlagern. Die Mendels(16) hatten noch vergleichsweise Glück: Sie fanden Zuflucht bei einem Landwirt, der ihnen zwei kleine Zimmer zur Verfügung stellte und Mathias(17) Arbeit besorgte. Auch den vier älteren Kindern gelang es, vor Ort Arbeit auf Bauernhöfen zu finden.2

Nicht nur Familien wie die Mendels(18) hielten damals nach einer geeigneten Bleibe Ausschau: In Deutschland(138) wimmelte es von allen möglichen Flüchtlingen. Es waren gigantische Zahlen. Zu den 4 Millionen Deutschen, die aus dem Osten geflohen waren, kamen rund 4,8 Millionen, die vor den Bombenangriffen aus den Städten geflohen waren. Und es waren auch nicht nur Deutsche, die durch den Krieg vertrieben worden waren: Die Nazis(70) hatten Millionen ausländischer Arbeiter, überwiegend gegen ihren Willen, nach Deutschland(139) gebracht, und bei Kriegsende befanden sich noch immer 8 Millionen von ihnen im Land. Die meisten stammten aus der Sowjetunion(302), Polen(41) und Frankreich(115), aber es gab auch beträchtliche Gruppen von Zwangsarbeitern aus Italien(35), Griechenland(22), Jugoslawien(11), der Tschechoslowakei(27), Belgien(11) und den Niederlanden(45). Die alliierten Armeen bemühten sich gemeinsam mit der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) intensiv darum, diese Menschen so schnell wie möglich zu repatriieren, aber es gab Hunderttausende, die sich weigerten, die Heimreise anzutreten, weil sie sich vor dem fürchteten, was ihnen möglicherweise passieren würde, wenn sie dort eintrafen. Viele zogen ein Leben im Exil einem Leben unter dem Kommunismus(139) vor. Obwohl die Alliierten(43) sich größte Mühe gaben, blieb daher die Zahl der Flüchtlinge hartnäckig auf einem hohen Niveau. Rechnet man die rund 275000 britischen(182) und amerikanischen(378) Kriegsgefangenen mit ein, belief sich die Gesamtzahl der Displaced Persons in Deutschland(140) im Jahr 1945 auf mehr als 17 Millionen. Mit der möglichen Ausnahme Chinas, das infolge des Kriegs ähnlich viele Binnenvertriebene zählte, war dies damals vermutlich die größte Konzentration von Flüchtlingen und Vertriebenen(4), die die Welt je gesehen hat.3

Verschlimmert wurde alles noch dadurch, dass weiterhin Flüchtlinge nach Deutschland(141) kamen: Der Zustrom von Menschen aus anderen Regionen Europas(241) hielt an. Einige davon waren Juden(84), die vor einem wiederaufflammenden Antisemitismus im Osten flohen. Einige waren Kollaborateure oder mutmaßliche Kollaborateure, die vor der Rache in ihren Ländern flohen. Aber die allermeisten waren Volksdeutsche, die aus anderen Gebieten Ost- und Mitteleuropas verjagt wurden. Wie Mathias Mendel(19) erging es vielen: Keine Nation wollte nach dem Krieg, dass weiterhin eine deutsche(142) Minderheit in ihrem Land lebte. Der Ort Hedwig(3) war nur einer von tausenden, die infolge des Kriegs hinweggefegt wurden.

Zwischen 1945 und 1948 wurden alle 3 Millionen Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei(28) aus dem tschechischen Grenzland vertrieben. Hinzu kam fast die gesamte Bevölkerung Ostpreußens, Schlesiens und Pommerns – jener deutschen(143) Gebiete, die 1945 von Polen(42) und der UDSSR annektiert worden waren. Viele dieser Menschen waren bereits, wie die Mendels(20), in den letzten Kriegstagen geflohen, aber im Verlauf der nächsten drei bis vier Jahre wurden laut Angaben der deutschen Regierung weitere 4,4 Millionen aus diesen Gebieten zwangsausgesiedelt. Bald folgten andere europäische(242) Länder dem Beispiel: Aus Ungarn(21), Rumänien(13) und Jugoslawien(12) wurden 1,8 Millionen Volksdeutsche ausgewiesen.4 

Diese massenhaften Vertreibungen wurden mit großer Brutalität durchgeführt. In der Tschechoslowakei(29) wurden deutsch(144)sprachige Zivilisten buchstäblich über die Grenze getrieben, wobei sie nur die Habseligkeiten mitnehmen durften, die sie tragen konnten. In Prag(5) und anderen Städten wurden Deutsche zusammengetrieben und bis zu ihrer Aussiedlung in Gefangenenlagern interniert. Und während sie warteten, wurden viele von ihnen verhört und gefoltert, um herauszufinden, welche Rolle sie während der deutschen Besatzung gespielt hatten. Massaker großen Stils ereigneten sich überall im Land, das berüchtigtste war das Massaker von Ústí nad Labem(1) (dem früheren Aussig). Aber solche Blutbäder fanden auch in kleineren Städten wie Postoloprty(1) statt, wo laut tschechischen und deutschen Quellen mindestens 763 Deutsche niedergemetzelt und in Massengräbern in der Nähe der Stadt verscharrt wurden. Zu ähnlichen Gräueltaten gegen Deutsche kam es in Polen(43), wo Offiziere, die das Kommando über Internierungslager hatten, bewusst einige der schlimmsten Grausamkeiten der Nazis(71) nachahmten, um Vergeltung an den zivilen Insassen zu üben. Die Vertreibung der Deutschen aus Ost(48)- und Mitteleuropa fand mit so brutaler Gewalt statt, dass man davon ausgeht, dass sie mindestens eine halbe Million Todesopfer forderte.5

Wenn man all diese Menschen zu denjenigen hinzurechnet, die im Jahr 1945 bereits vertrieben waren, dann beläuft sich die Gesamtzahl der Flüchtlinge, die zwischen 1945 und 1950 nach Deutschland(145) hineinströmten oder abwanderten, auf rund 25 Millionen. In Anbetracht der Tatsache, dass Deutschland(146) damals weniger als 67 Millionen Einwohner hatte, stellt dies eine Welle menschlichen Elends dar, die mit nichts zu vergleichen ist, was Europa(243) seither erlebt hat.

Abb. 43: Im Deutschland(147) der Nachkriegszeit gab es so viele Flüchtlinge, dass politische Parteien direkte Aufrufe an sie richteten. Dieses Plakat, das für ein Referendum über die bayerische(1) Verfassung im Jahr 1946 entworfen wurde, wandte sich an die Hoffnungen von Flüchtlingen auf ein wiedervereinigtes Deutschland(148).

DIE ENTMISCHUNG VON VÖLKERN Die Vertreibung der Deutschen(149) aus Ost(49)- und Mitteleuropa war lediglich ein Beispiel eines Phänomens, das im Jahr 1945 überall auf dem Kontinent stattfand. Die Welt, in der Mathias Mendel(21) aufgewachsen war – in der Slowaken, Deutsche und Ungarn(22) nebeneinander lebten, ohne ihren Unterschieden allzu große Beachtung zu schenken –, verschwand sehr schnell.

Die Ungarn(23) litten in ähnlicher Weise unter der Entscheidung ihres Landes, sich auf die Seite Deutschlands zu stellen. Nach dem Krieg wollte die slowakische Regierung sie aus dem Land vertreiben – alle 600000 Ungarn. Nachdem die Alliierten(44) gesehen hatten, was den Deutschen(150) angetan worden war, verweigerten sie ihre Zustimmung, sodass letztlich nur 70000 Ungarn im Zuge eines Bevölkerungsaustauschs über die Grenze in ihre »Heimat« ausgesiedelt wurden, während weitere 44000 aus ihren historischen Dörfern vertrieben und gezwungen wurden, sich in slowakischen Gemeinden in anderen Teilen des Landes niederzulassen und dort zu assimilieren.6

Auch andere Nationen vertrieben nach dem Krieg unerwünschte Bevölkerungsgruppen. Polen(44) zum Beispiel siedelte nicht nur seine Deutschen(151) aus, sondern verwies auch rund 482000 Ukrainer, überwiegend aus der Region Galizien(1) im Südosten, des Landes. Als die Grenzen der Ukraine(21) 1947 für weitere Abschiebungen geschlossen wurden, fanden polnische Behörden andere Wege, um diese Minderheit loszuwerden. Ganze Dörfer von Ukrainern wurden geräumt, ihre Bewohner in kleine Gruppen aufgespalten und auf polnische Dörfer am anderen Ende des Landes verteilt. Die Ukrainer, die nicht ausgesiedelt werden konnten, wurden gezwungen, sich zu assimilieren: Orthodoxe und unierte Kirchen wurden verboten, und diejenigen, die dabei erwischt wurden, wie sie Ukrainisch sprachen, wurden bestraft. Um zu verhindern, dass Ukrainer an die Orte zurückkehrten, die sie einst ihre Heimat genannt hatten, wurden viele ihrer einstigen Dörfer niedergebrannt.7

Letztlich ist fast jede Nation im Ostteil Europas(244) in ähnlicher Weise verfahren. Die sowjetischen(304) Republiken Litauen(7), Weißrussland(2) und Ukraine(22) haben nach 1945 rund 1,2 Millionen Polen(45) ausgewiesen, größtenteils aus den Grenzgebieten, die sie unlängst im Zuge verschiedener Friedensabkommen von Polen erworben hatten. In ähnlicher Weise wurde eine Viertelmillion Finnen(3) aus Westkarelien ausgesiedelt, als dieses Gebiet an die Sowjetunion(305) abgetreten wurde. Bulgarien(7) trieb rund 140000 Türken(9) und Roma(1) über die Grenze in die Türkei. Und die Liste geht weiter. Rumänen(14) vertrieben Ungarn(24) und umgekehrt. Jugoslawien(13) siedelte Italiener(36) aus seinen Grenzgebieten aus, die Ukraine(23) wies Rumänen aus, Griechenland(23) vertrieb albanische Çamen. Im Gefolge des Kriegs schien jede der Nationen in Osteuropa(50) entschlossen zu sein, möglichst viele fremde Einflüsse zu beseitigen.8 Das Ergebnis waren ethnische Säuberungen auf dem gesamten Kontinent. Innerhalb nur weniger Jahre halbierte sich der Anteil nationaler Minderheiten in diesen Ländern. Der seit Jahrhunderten existierende imperiale Schmelztiegel, der für Mathias Mendel(22) eine Selbstverständlichkeit gewesen war, als er heranwuchs, wurde für immer zerstört.9

POSTKOLONIALE VERTREIBUNGEN Die eigentliche Triebfeder der diversen Vertreibungen in Europa(245) war Furcht. Der Zweite Weltkrieg(225) hatte die Menschen in Ländern wie der Tschechoslowakei(30) gelehrt, dass sie den Fragmenten fremder Völker in ihrer Mitte nicht trauen konnten, weil diese Fragmente dazu missbraucht werden konnten, einen Keil ins Herz ihres Staates zu treiben, es zu zerstückeln und zu beherrschen. Die Nazis(72) hatten die deutsche(152) Minderheit in der Tschechoslowakei(31) in den Jahren 1938 und 1939 als Vorwand benutzt, um dort einzumarschieren, und daher verwundert es nicht, dass die Tschechen(32) und Slowaken daraufhin dieser Minderheit die Schuld gaben, sie bestraften und vertrieben. Die Verbannung war der Preis, den Mathias Mendel(23) und Menschen wie er für die expansionistische Gier Nazideutschlands zahlen mussten.

Auch die Nationen Asiens(68) und Afrikas(82) hatten Fragmente fremder Mächte in ihrer Mitte. Die Japaner(214) in Korea(36), die Briten(183) in Indien(38), die Holländer(46) in Indonesien(58), die Franzosen(116) in Algerien(9) – dies alles waren Gemeinschaften von Fremden, die in ähnlicher Weise an einer Kultur der Kolonisierung und Herrschaftsausübung beteiligt waren, und folglich bemühten sich die einheimischen Bevölkerungen dieser Länder darum, sie nach 1945 zu vertreiben.

Selbstverständlich waren die Briten(184) aus ganz anderen Gründen in Indien(39) als die Familie Mathias Mendel(24)s in der Slowakei – sie waren nicht von alters her in dem Land verwurzelt, sondern in der Absicht gekommen, es zu beherrschen. Und der Hass der Indonesier(59) auf die Niederländer(47) war nicht in erster Linie auf deren ethnische Zugehörigkeit zurückzuführen – vielmehr wollten sie die Kultur des Imperialismus herausschneiden. Das Endergebnis war allerdings das gleiche. Diese Fremdkörper mussten vertrieben werden.

Die Ersten, die nach Hause geschickt wurden, waren die Japaner(215). Der Zweite Weltkrieg(226) bedeutete das Ende des japanischen(216) Imperiums, und folglich mussten alle im Ausland lebenden Japaner in ihre Heimat zurückkehren, selbst diejenigen, deren Familien seit zwei oder drei Generationen in Ländern wie Korea(37), der Mandschurei(4) oder Formosa(2) (dem heutigen Taiwan(4)) gelebt hatten. Über 6,5 Millionen Japaner wurden in den vier Jahren nach dem Krieg deportiert. Knapp über die Hälfte von ihnen waren Soldaten und andere Mitglieder des Militärs. Aber die restlichen 3 Millionen waren Zivilisten: Geschäftsleute, Händler, Verwaltungsbeamte und ihre Familien. Wie Mathias Mendel(25) mussten sie Häuser aufgeben und all ihre Habseligkeiten zurücklassen.10

Die Vertreibung dieser Menschen wies sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu den Vorgängen in Europa(246) auf. Wie in Europa(247) wurden auch in Asien(69) im Gefolge des Krieges schlimme Gräueltaten begangen. In der Mandschurei(5) und in Nordkorea(11) wurden japanische(217) Zivilisten oftmals angegriffen, gefoltert, vergewaltigt und gelegentlich massakriert. Ein Jahr nach dem Ende des Krieges blieb das Schicksal von über einer halben Million im Ausland lebenden Japanern(218) ungeklärt: Man nimmt an, dass allein in der Mandschurei rund 179000 japanische(219) Zivilisten und 66000 Militärangehörige in den Wirren und dem strengen Winter nach dem Ende des Krieges umkamen. Doch in anderen Teilen des Imperiums machten die Japaner nicht annähernd jenes Martyrium durch, das deutsche(153) Vertriebene(5) erlitten. Dies hängt zum Teil damit zusammen, dass ihre Deportation von den Alliierten(45) durchgeführt wurde, nicht von Einheimischen, die erpicht darauf waren, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen. Aber es gab auch andere Gründe. Die Deportationen in Asien verliefen in einer ganz anderen Atmosphäre als in Europa(248): Es fehlte weitgehend an der toxischen Rassenideologie und dem entschlossenen Willen zur ethnischen Säuberung, die die Ursachen für die Gräueltaten gegen Deutsche in Polen(46) und der Tschechoslowakei(33) waren. Stattdessen redete man hier nur über das Imperium. Die Japaner waren besiegt worden, ihr Imperium war zusammengebrochen, und jetzt war es für sie an der Zeit, nach Hause zu gehen. Alles in allem sahen das selbst die Auslandsjapaner ein und gingen mehr oder minder bereitwillig.11

Das Land, in das sie zurückkehrten, lag, wie Deutschland(154), weitgehend in Trümmern. Sechsundsechzig Großstädte waren während des Kriegs schwer bombardiert worden. In Tokio(14) waren 65 Prozent aller Wohnungen zerstört worden, in Osaka(1) 57 Prozent und in Nagoya(1) 89 Prozent; und Hiroshima(24) und Nagasaki(15) waren durch die Atombomben(62) dem Erdboden gleichgemacht worden. Fast ein Drittel der japanischen(220) Stadtbewohner war am Ende des Krieges obdachlos und nicht begeistert davon, weitere 6,5 Millionen Menschen in einem Land aufzunehmen, in dem der Lebensstandard massiv gesunken war. Anders als den Vertriebenen(6) in Deutschland(155) wurde den Heimkehrern in Japan(221) von ihren Landsleuten nicht viel Mitgefühl entgegengebracht: Auch wenn sie noch so sehr gelitten hatten, konnten sie nicht mit denjenigen konkurrieren, die Opfer der Atombombe geworden waren.12

Der Niedergang des japanischen(222) Imperiums war wie die europäischen(249) Wanderungsbewegungen nach dem Krieg mit Zwangsmigrationen(1) in zwei Richtungen verbunden: Einerseits wurden japanische(223) Siedler repatriiert, andererseits wurden Ausländer aus Japan(224) ausgesiedelt. Laut Unterlagen der amerikanischen(379) Militärregierung aus der damaligen Zeit lebten rund 1,5 Millionen Ausländer in Japan(225), die allermeisten davon Koreaner(38), Taiwaner(5) und Chinesen(69). Spätere Forschungen veranschlagten die Zahl noch höher, auf über 2 Millionen. Viele dieser Menschen waren während des Kriegs nach Japan(226) verschleppt worden und konnten es nicht erwarten, in ihre Heimat zurückzukehren; einige waren jedoch in Japan(227) geboren worden und reklamierten für sich das Recht, als Bürger des Imperiums im Land zu bleiben. In dem Jahr nach Kriegsende kehrte rund eine Million in ihre Heimatländer zurück, überwiegend nach Korea(39). Diejenigen, die sich weigerten, das Land zu verlassen, waren ebenfalls hauptsächlich Koreaner(40), insgesamt rund 600000.

Diese Koreaner(41) waren im Jahr 1945 schlecht angesehen und unterliegen seither weitreichenden Diskriminierungen. Leider trug der Prozess der Entkolonialisierung dazu bei. Als die Japaner(228) offiziell auf ihren Herrschaftsanspruch über Korea(42) verzichteten, sagten sie sich sogleich von all ihren Verpflichtungen gegenüber der Minderheit in ihrer Mitte los. Folglich wurde den Koreanern(43) in Japan(229) das Wahlrecht, der Anspruch auf eine Kriegsbeschädigtenrente, das Recht auf öffentliche Kranken- und Rentenversicherung und das Recht auf einen Reisepass aberkannt. Bis heute haben Koreaner(44), die seit mehreren Generationen in Japan(230) leben, nicht die gleichen Rechte wie japanische(231) Staatsbürger, es sei denn, sie geben zuvor ihre koreanische Identität auf: Sie werden auch nach dieser langen Zeit von vielen Japanern(232) noch immer als »Ausländer« angesehen. Die Tatsache, dass sie ursprünglich als Untertanen des japanischen(233) Kaiserreichs ins Land gebracht wurden, ist weitgehend in Vergessenheit geraten.13

Nach dem Zusammenbruch des Japanischen Kaiserreichs in Asien(70) begann die langwierige und langsame Auflösung der europäischen(250) Imperien. Auch sie ging mit der Vertreibung der imperialen Eliten und dem Massenexodus der Europäer(251) aus den Kolonien einher, die sie einst regiert hatten. Nachdem Indien(40) und Pakistan(10) im Jahr 1947 ihre Unabhängigkeit erlangten, verließen zum Beispiel weit über 100000 Briten(185) den Subkontinent.14 Die Briten zogen auch aus Birma, Malaysia(9), Singapur(6) und später ihren verschiedenen Kolonien in Afrika(83) ab. Zu Beginn der neunziger Jahre waren über 328000 Weiße, die in diesen Ländern geboren worden waren, nach Großbritannien(186) »heimgekehrt« (auch wenn die tatsächliche Zahl der »Heimkehrer« zweifellos viel höher lag, da diejenigen, die in Großbritannien(187) geboren worden waren, nicht in den Volkszählungsdaten auftauchten).15 Obgleich sich all diese Menschen voller Stolz als Briten ansahen, fühlten sich sehr viele der Rückkehrer nie mehr richtig heimisch. In den Kolonien hatten sie einen privilegierten Lebensstil genossen; zurück in Großbritannien(188) mussten sie für sich selbst sorgen, ohne Dienstboten und in einer Nachkriegsatmosphäre der Rationierung und Austerität. Es war ein bitter enttäuschendes Ende eines zweihundert Jahre währenden kolonialen Abenteuers.

Die Auflösung des niederländischen Kolonialreichs hatte unmittelbarere und traumatischere Konsequenzen. Nachdem die Niederländer(48) einen grausamen, aber erfolglosen Krieg gegen die Unabhängigkeit Indonesiens geführt hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als das Land zu verlassen: Rund 250000 bis 300000 niederländische Staatsbürger kehrten Anfang der fünfziger Jahre zurück. Diese Menschen hatten es viel schwerer gehabt als ihre britischen(189) Pendants. Viele hatten mehrere Jahre in japanischen(234) Internierungslagern verbracht und dann einen brutalen Bürgerkrieg erlebt, aber als sie in die Niederlande(49) zurückkehrten, stießen sie bei ihren niederländischen Landsleuten auf wenig Mitgefühl, denn diese glaubten, sie hätten die Kriegsjahre in Wohlleben und Sonnenschein verbracht. Folglich wurden die niederländischen Siedler von der Gesellschaft insgesamt weitgehend ignoriert und geringschätzig behandelt, und sie litten auch in den folgenden Jahren noch unter den Auswirkungen ihrer traumatischen Erfahrungen. Psychosoziologische Studien vom Ende des 20. Jahrhunderts zeigen, dass Rückkehrer aus Niederländisch-Ostindien(4) deutlich häufiger von Scheidungen, Arbeitslosigkeit und Gesundheitsproblemen betroffen waren als vergleichbare Gruppen der niederländischen Gesellschaft.16

Ähnliches gilt für die anderen Kolonisten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Frankreich(117), Belgien(12) und Portugal(9) zurückkehrten. Nach dem Algerienkrieg(10)(1) floh rund eine Million französische(118) Siedler – die sogenannten ›pieds noirs‹ – nach Frankreich(119). Entsprechend der antikolonialen Stimmung der sechziger Jahre wurde ihnen wenig Verständnis entgegengebracht, vielmehr wurden sie zu Sündenböcken für das Scheitern des französischen(120) Kolonialprojekts gemacht. Ein Jahrzehnt später flohen über 300000 portugiesische Siedler aus Angola(6) nach Portugal, und ähnlich viele flohen aus Mosambik(5). Das Land, in das sie kamen, war so sehr mit der Bewältigung der Folgen der langjährigen Diktatur beschäftigt, dass es ihnen kaum Beachtung schenkte.17

Man kann diese Wanderung der Europäer(252) zurück nach Europa(253) als eine Art Defragmentierung betrachten: Die winzigen Stücke Europas, die sich in anderen Nationen rund um die Welt einpflanzten, wurden dorthin zurückgeschickt, wohin sie gehörten. Aber viele dieser Menschen fühlten sich in den Ländern, in die sie »heimkehrten«, nicht mehr heimisch, und es fiel ihnen außerordentlich schwer, sich an das Leben in Europa(254) anzupassen. Selbstverständlich waren die Umstände ihrer Rückkehr nicht mit denjenigen zu vergleichen, die Menschen wie Mathias Mendel(26) erlebten – und man könnte behaupten, ihre Kultur der Ausbeutung und Privilegierung sei verdientermaßen zugrunde gegangen. Aber es lässt sich nicht bestreiten, dass sie das Gefühl hatten, etwas verloren zu haben: Nach zwei Jahrhunderten kolonialer Herrschaft war eine ganze Lebensform untergegangen.

DIE INTERNATIONALE REAKTION Die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg(227) ist oft ein Zeitalter der Flüchtlinge und Vertriebenen(7) genannt worden. In den Jahren seit 1945 folgte eine humanitäre Krise auf die andere. Der Niedergang des imperialen Zeitalters, der Beginn des Kalten Kriegs(45), interne Machtkämpfe in Nationen weltweit, Hungersnöte(29), Überflutungen, Bürgerkrieg – all diese Dinge haben dafür gesorgt, dass der Strom des menschlichen Elends mehr oder weniger konstant geflossen ist.

Im Gefolge des Kriegs wurde eine Reihe von Institutionen gegründet, um diesem Problem abzuhelfen: Auf die bereits erwähnte UNRRA folgten die Internationale Flüchtlingsorganisation (IRO) und das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), das Anfang der fünfziger Jahre gegründet wurde. Die letztgenannte Institution sollte eigentlich nur vorübergehend tätig sein: Sehr viele Staaten hatten Bedenken wegen der politischen Folgen, die mit der Schaffung einer ständigen Organisation verbunden wären, und aus diesem Grund wurde sie ursprünglich nur für drei Jahre errichtet. Aber der Strom der Flüchtlinge wollte nicht abreißen. Die Wanderungsbewegungen, die der Zweite Weltkrieg(228) auslöste, erwiesen sich als ein nicht bloß vorübergehendes Phänomen, sondern als ein Anzeichen dafür, wie sich die Welt verändert hatte.18

Da ständig neue humanitäre Notfälle auftraten, wurde das Mandat des UNHCR erneuert und verlängert. Es koordinierte die Reaktion auf den Exodus aus Ungarn(25) im Jahr 1956 und den aus Algerien(11) Ende der fünfziger Jahre. Es kümmerte sich um afrikanische(84) Flüchtlinge im Gefolge der Entkolonialisierung der sechziger Jahre, und in den siebziger Jahren nahm es sich Flüchtlingen aus Vietnam(15), Kambodscha(4) und Bangladesch(5) an. In den achtziger Jahren half es Menschen, die vor inneren Konflikten in Zentralamerika(4) und einer Hungersnot(30) in Äthiopien(1) flohen, und in den neunziger Jahren bemühte es sich, Menschen, die vor ethnischen Säuberungen in Ruanda(5) und Jugoslawien(14) flohen, zu helfen.19

In den letzten Jahren gab es eine ganze Reihe von Krisen, welche die Zahl der Flüchtlinge weltweit anschwellen ließen. So gab es unter anderem größere Kriege im Iran(8) und in Afghanistan(3), innere Unruhen in Zentralafrika und am Horn von Afrika(85), das riesige Chaos infolge des Arabischen Frühlings und den besonders verheerenden, langjährigen Bürgerkrieg in Syrien(6). Laut dem UNHCR gab es im Jahr 2014 13,9 Millionen Menschen, die aufgrund von Konflikten oder Verfolgung neu vertrieben wurden – die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg(229). Die Gesamtzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen(8) weltweit wurde auf 59,5 Millionen geschätzt – auch dies eine beispiellose Zahl. Das Problem wird schlimmer, nicht besser.20

Während all dieser Zeit ist Deutschland(156) eines der Länder gewesen, die gegenüber Flüchtlingen am großzügigsten waren. Im deutschen Grundgesetz aus dem Jahr 1948 steht: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« – und während der nächsten vierzig Jahre galt dieses Recht, ohne Einschränkung, für alle Asylbewerber.21 So nahm Westdeutschland(4) vor dem Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 weitere 3 Millionen Flüchtlinge aus dem kommunistischen(140) Ostdeutschland(3) auf. Nach der gescheiterten Revolution in Ungarn(26) im Jahr 1956 gehörte Westdeutschland(5) zu den ersten Ländern, die den Zehntausenden von Flüchtlingen, die über die ungarische Grenze strömten, Asyl anbot. Während des Zusammenbruchs des Kommunismus in Osteuropa(51) öffnete Deutschland(157) seine Türen für Hunderttausende von Asylbewerbern aus dem Osten – fast 600000 allein zwischen 1988 und 1992. In den folgenden drei Jahren nahm Deutschland(158) auch 345000 Flüchtlinge des Jugoslawien-Konflikts(15) auf. Im Jahr 1999 gab es über 1,2 Millionen Flüchtlinge und Asylbewerber im Land.22

Im Jahr 2015 verkündete Deutschland(159) als Reaktion auf den Syrienkrieg(7) eine Politik der offenen Tür für alle Flüchtlinge, die vor der Krise flohen. Im Verlauf der kommenden Monate überquerten Hunderttausende von Migranten(2) das Mittelmeer, von denen viele Fotos von Bundeskanzlerin Angela Merkel(4) bei sich trugen und den Fernsehreportern sagten: »Angela hat gesagt, wir könnten kommen.« Bis Jahresende hatte sich die Zahl der Asylbewerber auf knapp unter eine Million vervierfacht.23

Viele andere europäische(255) Staaten sind nicht so großzügig gewesen, insbesondere nicht während der Flüchtlingskrise von 2015. Einige errichteten Zäune an ihren Grenzen, um Flüchtlinge fernzuhalten. Andere wiesen – mit einer gewissen Berechtigung – darauf hin, dass viele der Menschen, die nach Europa(256) strömten, keine Flüchtlinge, sondern Wirtschaftsmigranten(3) seien. Fast alle anderen Staaten kritisierten Deutschland(160) dafür, dass es die Türen so weit aufgestoßen hatte. Sie behaupteten, die Deutschen wollten lediglich ihre historische Schuld sühnen und stellten ihre vermeintliche Tugendhaftigkeit geradezu »despotisch« zur Schau, ja sie betrieben »moralischen Imperialismus«.24

Für Dittmann Mendel(2), den achten Sohn von Mathias Mendel(27), gibt es eine einfachere Erklärung für die deutsche(161) Flüchtlingspolitik. Er wuchs in einer Gemeinschaft auf, die wusste, was es bedeutete, aus der Heimat vertrieben zu werden. Seine Familie musste ganz von vorne anfangen, ihr Haus selbst bauen, und sie war auf den guten Willen von Fremden angewiesen. Er hörte seine Eltern oft voller Trauer mit Freunden aus dem alten Land über die Welt sprechen, die sie zurücklassen mussten. »Vielleicht bringt man hier mehr Verständnis für das weltweite Flüchtlingsproblem auf als andernorts, weil wir selbst dieses Schicksal durchgemacht haben«, sagte er.25