Der Zweite Weltkrieg(243) war nicht irgendein Krieg – er war ein Ereignis, das die Welt veränderte. Als Streitkräfte vom einen Ende des Globus ans andere vordrangen, dabei ganze Volkswirtschaften zerstörten und Zivilisten genauso bereitwillig opferten wie Soldaten, konnten sogar diejenigen, die in der Gewaltspirale gefangen waren, erkennen, dass etwas Grundlegendes zerstört wurde. »Sie müssen verstehen, dass eine Welt stirbt«, schrieb Ed Murrow(1), ein amerikanischer(401) Kriegsberichterstatter, im Jahr 1940, »alte Werte, die alten Vorurteile, und die alten Grundlagen von Macht und Ansehen sind untergegangen«. Die Alliierten(46) auf beiden Seiten des Atlantiks und auf beiden Seiten des Pazifiks traten in der Überzeugung in den Krieg gegen Deutschland(171) und Japan(237) ein, für die Bewahrung einer bestimmten Lebensweise zu kämpfen. Tatsächlich wurden sie zu Zuschauern des Untergangs dieser Lebensweise.1
Die Welt, die 1945 entstand, unterschied sich grundlegend von der Welt, die in den Krieg gezogen war. Einerseits war sie physisch vernarbt und psychisch traumatisiert: Ganze Städte waren zerstört worden, ganze Nationen waren untergegangen, und in weiten Teilen Europas(282) und Ostasiens(76) waren ganze Gemeinschaften ermordet oder vertrieben worden. Hunderte Millionen Menschen waren einem Ausmaß an Gewalttätigkeit ausgesetzt gewesen, das sie sich nie hätten vorstellen können. Andererseits war die Welt im Jahr 1945 vermutlich geeinter als je zuvor. Freundschaften waren in den Feuern des Kriegs geschlossen worden, und eine Zeit lang bestand die echte Hoffnung, dass diese Freundschaften in Friedenszeiten fortgesetzt werden könnten. Das Ende des Kriegs ging auch mit Gefühlen der Erleichterung einher, an die sich die Menschen bis an ihr Lebensende erinnern sollten. Diese beiden Kräfte – Furcht und Befreiung – sollten die Welt der Nachkriegszeit maßgeblich gestalten.
Dieses Buch hat nachzuzeichnen versucht, wie der Zweite Weltkrieg(244) und seine materiellen und psychischen Folgen unser Leben geprägt haben. In den einleitenden Kapiteln habe ich gezeigt, dass Menschen überall im Bemühen um eine Bewältigung der Gewalt und der Grausamkeit, die sie gerade erlebt hatten, neue Denkweisen annahmen. Man zeigte ihnen eine von Helden, Ungeheuern und Märtyrern bewohnte Welt. Sie stellten sich den Krieg als ein titanisches Ringen zwischen Gut und Böse vor. Sie erschufen eine Mythologie, die dem Unbegreiflichen einen Sinn verlieh, ihnen die Gewissheit vermittelte, dass sich ihre Opfer gelohnt hatten, und ihnen die Hoffnung gab, dass die Finsternis für immer gebannt worden sei.
Dieses Denken erlaubte der Welt, sich so schnell zu erholen, wie sie es tat. Unsere Helden handelten weiterhin in heroischer Weise, sie stellten sich der Verantwortung, Ordnung zu schaffen, bauten neue Institutionen auf und stellten zertrümmerte Nationen wieder her. Diejenigen, die als Monster galten, wurden vernichtet, vor Gericht gestellt, zum Schweigen gebracht, gezähmt und manchmal sogar geläutert. Die Opfer des Kriegs zogen sich nach Möglichkeit zurück, um ihre Wunden zu pflegen. Und alle waren überall überzeugt davon, dass eine neue Ära angebrochen war.
So entstand ein Zeitalter der Ideale. In Teil II habe ich gezeigt, dass diese Ideale unter denjenigen, die unbedingt wollten, dass die Menschheit aus dem Krieg Lehren zog, Träume von einer idealen Gesellschaft weckten. Wissenschaftler(64) träumten von einer Welt, die nicht nur von neuen Technologien – den Düsenflugzeugen und Raketen und Computern, die aus dem Krieg hervorgegangen waren – geprägt wäre, sondern auch durchdrungen von wissenschaftlichen Denkmustern, also einer rationalen, aufgeklärten und friedlichen Welt. Architekten träumten von strahlenden neuen Städten, die wie ein Phönix aus den Trümmern emporsteigen würden und in denen endlich jeder Zugang zu Licht und Luft und gesunden Lebensbedingungen hätte. Sozialplaner und -philosophen sahen eine Gelegenheit, Menschen zusammenzubringen, Unterschiede zwischen ihnen zu beseitigen und Gerechtigkeit und Gleichheit auf der ganzen Welt zu befördern. Sie stellten sich eine Zukunft nicht der Angst, sondern der Freiheit vor.
In einer solchen Atmosphäre schien es recht selbstverständlich zu sein, dass jeder Traum ein universeller Traum und jede Lösung für unsere Missstände eine universelle Lösung sein sollte. In Teil III habe ich gezeigt, wie Politiker, Juristen und Ökonomen in der Nachkriegszeit ein System zu schaffen versuchten, das es der ganzen Welt erlauben sollte, als eine Einheit zu handeln. Die globalen Institutionen, die sie im Gefolge des Zweiten Weltkriegs(245) errichteten, waren viel inklusiver als alle vergleichbaren früheren Institutionen und weitaus robuster; aber für einige Idealisten gingen sie nicht weit genug. Wenn alle Menschen die gleichen Freiheiten, Rechte und Pflichten haben sollten, so argumentierten diese Visionäre, dann sollten alle Menschen unter demselben System leben und das gleiche Mitspracherecht bezüglich der Steuerung dieses Systems haben. Sie wollten nichts Geringeres als eine Weltregierung.
Ideen wie diese ließen die Träume der Nachkriegszeit scheitern. Auf jede Person, die die Weltregierung als eine Chance für den immerwährenden Frieden ansah, kam eine andere, die darin eine Form der immerwährenden Versklavung(27) sah. Von all den Schimären, denen Menschen in der Folge des Kriegs nachjagten, war die Idee absoluter Universalität zweifellos die unerreichbarste. Folglich begann die Welt genau zur gleichen Zeit, als sie nach Einigkeit strebte, zu zerfallen.
Wie ich in Teil IV gezeigt habe, war eine der bedeutendsten Folgen des Zweiten Weltkriegs(246) die Tatsache, dass er nicht eine Supermacht, sondern zwei hervorbrachte, und jede betrachtete die Ambitionen der anderen, die Welt zu beherrschen, mit wachsendem Misstrauen. Die Amerikaner(402) wussten, dass eine Weltregierung, wenn sie geschaffen würde, nicht unbedingt eine demokratische(57) Regierung wäre: Sie waren genauso entschlossen, zu verhindern, dass die Welt in Stalins(31) Hände fällt, wie sie entschlossen gewesen waren, zu verhindern, dass sie in Hitlers(24) Hände fällt. Unterdessen waren die Sowjets(308) ebenso engagiert, der Ausbreitung der amerikanischen(403) Macht entgegenzutreten, und die gleiche Sprache, die sie während des Zweiten Weltkriegs benutzt hatten – als sie Menschen als »Helden«, »Monster« oder »Märtyrer« etikettierten –, verwendeten sie jetzt in ihrem neuen ideologischen Konflikt mit dem Westen. Diese Spaltung zwischen Ost und West sollte sich auf dem gesamten Globus reproduzieren, denn überall wurden Nationen durch Lockmittel, Überredung oder Zwang dazu gebracht, sich auf die eine oder andere Seite zu stellen.
Nicht nur die Supermächte(404)(309) stellten eine Herausforderung für die Idee der Einheit der Welt dar. In Teil V habe ich beschrieben, wie durch den Zweiten Weltkrieg(247) beflügelte Freiheitsträume überall zu einem Wiederaufleben des Nationalismus führten. Menschen in Asien(77), Afrika(89) und im Nahen Osten(16) begannen, nach Unabhängigkeit von den europäischen(283) Imperien zu verlangen, die sie jahrhundertelang beherrscht hatten; aber ihre Forderung nach Selbstbestimmung führte manchmal dazu, dass Staaten in immer kleinere Einheiten zerfielen. In vielen Entwicklungsländern ergriffen autoritäre Regierungen und Diktaturen die Macht, in der angeblichen Absicht, Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen: Wenn sich die verschiedenen Lager(22) nicht einigen konnten, wurde früher oder später eine Regelung auferlegt, die oftmals auf Kosten der Freiheit ging.
Die einzige Region, in welcher der Nationalismus eine Zeit lang in Schach gehalten wurde, war Europa(284), aber selbst hier brach er in Flashbacks des Zweiten Weltkriegs(248) gelegentlich hervor. Die Europäische Union(44) wurde in dem Bestreben gegründet, einen Krieg zwischen Völkern in Europa(285) unmöglich zu machen, aber letztlich befeuerte diese Institution selbst Träume von nationaler Freiheit. Mittlerweile hat auch ein Zerfall der EU eingesetzt, und der Nationalismus wächst wieder überall auf dem Kontinent.
In Teil VI habe ich einige der zerstörerischsten Folgen des Zweiten Weltkriegs(249) betrachtet, die diese entzweienden Tendenzen auf die Spitze trieben, indem sie Nationen, Gemeinschaften und Familien spalteten und ein Gefühl der Traumatisierung und des Verlusts schufen, das sich in vielen Gesellschaften tief eingenistet hat und bis heute fortwirkt. Zum Schluss habe ich die kleinsten Bestandteile der Gesellschaft betrachtet – einzelne Menschen, die, manchmal gegen ihren Willen, aus ihren Gemeinschaften herausgelöst und auf der Suche nach Arbeit, einem besseren Leben oder Stabilität über den Globus verstreut wurden. Die Globalisierung der Völker – ein weiterer Prozess, der durch den Zweiten Weltkrieg erheblich beschleunigt wurde – trug zu neuen Spannungen in den reicheren Ländern bei, in denen ebenfalls eine zunehmende Zersplitterung und Auflösung der Gesellschaft festzustellen ist. Größere Freiheit brachte keine größere Zufriedenheit.
Auch Individuen können gespalten sein. Einige derjenigen, die während des Kriegs schwer traumatisiert wurden, waren nicht in der Lage, ihre Erfahrungen mit der Person in Einklang zu bringen, die sie zu sein glaubten und die sie sein wollten. Sie fühlten sich abgeschnitten von der strahlenden neuen Zukunft, nach der alle anderen strebten, verdammt dazu, die Vergangenheit immer wieder aufs Neue zu durchleben. Einige der Menschen, deren Geschichten ich auf diesen Seiten erzählt habe, erlitten dieses Schicksal – nicht nur die Opfer des Kriegs wie Otto Dov Kulka(18), Aharon Appelfeld(53), Ewgenija Kiselewa(29) und Choi(45) Myeong-sun, sondern auch einige seiner »Monster« wie Yuasa(35) Ken(36). Selbst manche der »Helden« – Menschen wie Ben Ferencz(42) oder Garry Davis(36) – waren nicht in der Lage, den Krieg hinter sich zu lassen. Die Dinge, die sie gesehen hatten, und die Lehren, die sie zogen, sollten sie unerbittlich bis an ihr Lebensende verfolgen.
Viele der Personen in diesem Buch fühlten sich in anderer Weise zerrissen: durch innere Konflikte und Dilemmata, hervorgerufen durch Situationen, in denen sie sich während des Kriegs und danach wiederfanden. Sowohl Hans Bjerkholt(38) als auch Cord Meyer(42) mussten ihre Identifikation mit Ideen, an die sie vor und während des Kriegs leidenschaftlich geglaubt hatten, neu bewerten. Bjerkholt distanzierte sich widerwillig von der Kommunistischen(142) Partei, um seiner neu entdeckten Spiritualität zu folgen, und Meyer gab seinen Traum von der Einheit der Welt auf, um einen neuen Kreuzzug gegen die Sowjetunion(310) zu beginnen. Umgekehrt verschrieb sich Anthony Curwen(36) dem Kommunismus und sogar einer Revolution, nachdem er den ganzen Krieg hindurch ein Pazifist(7) gewesen war. All diese Menschen waren gezwungen, durch Umstände, die sich ihrer Kontrolle entzogen, solche Entscheidungen zu treffen. Keiner fasste seine Entschlüsse leichtfertig.
In ähnlicher Weise mussten sowohl Eugene Rabinowitch(23) als auch Andrei Sacharow(37) verschiedene Überzeugungen, die einander zu widersprechen schienen, miteinander in Einklang bringen: Beide hatten an Kernwaffen(63) gearbeitet, und dennoch engagierten sie sich leidenschaftlich für Frieden und Zusammenarbeit zwischen ihren jeweiligen Supermächten(405)(311). Einige Menschen hatten wiederholt mit solchen Dilemmata zu kämpfen. Carlos Delgado(47) Chalbaud zum Beispiel musste rechtfertigen, dass er nicht nur an einer Revolution, sondern an zweien teilgenommen hatte – der ersten, um in Venezuela(36) eine demokratische(58) Ordnung zu errichten, und der zweiten, um sie wieder abzuschaffen. Auch Waruhiu Itote(43) musste einen doppelten Rollenwechsel vollbringen: zunächst vom loyalen Soldaten zum Rebellen gegen die Briten(238), anschließend vom Rebellen zum Friedensstifter.
Fast alle diese Menschen machten eine Art Entfremdung durch – von ihren Ländern, ihren Familien oder Gemeinschaften, sogar von sich selbst. Die gleichen Spaltungen, die sich auf einer globalen oder nationalen Ebene manifestierten, waren auch auf persönlicher Ebene am Werk.
Dieser Zusammenhang zwischen dem Globalen, dem Nationalen und dem Persönlichen ist das eigentliche, wichtigste Thema dieses Buches. Der Zweite Weltkrieg(250) hat nicht nur unsere Welt verändert – er hat auch uns verändert. Er konfrontierte uns mit einigen unserer größten Ängste und traumatisierte uns in einer Weise, die wir noch immer nicht in ihrer ganzen Tragweite zugeben; einige Teile der Welt haben sich von dieser Erfahrung nie erholt. Aber er inspirierte uns auch und lehrte uns den wahren Wert der Freiheit – nicht nur politischer und nationaler Freiheit sowie Bekenntnis- und Glaubensfreiheit, sondern auch persönlicher Freiheit und der immensen Verantwortung, die diese Freiheit dem Einzelnen auferlegt.
Aus diesem Grund habe ich persönliche Lebensgeschichten in den Mittelpunkt dieser historischen Abhandlung gestellt. Solche Erzählungen sind nicht nur ein Fenster zu unserer Vergangenheit, sondern auch ein Schlüssel zum Verständnis der Gründe dafür, warum wir heute so handeln, wie wir es tun. Diejenigen, die glauben, Geschichte bestehe aus stetigen Fortschritten, die uns langsam, aber sicher in eine bessere, rationalere Welt führten, unterschätzen die Fähigkeit des Menschen zu irrationalem Verhalten. Geschichte wird ebenso sehr von unseren kollektiven Emotionen wie von einer rationalen »Fortschrittsdynamik« geprägt. Einige der stärksten Kräfte, die unsere Welt gestalten, entstanden entweder während des Zweiten Weltkriegs(251), oder sie erwuchsen aus unseren Reaktionen auf die Folgen des Kriegs. Nur wenn wir verstehen, wo diese kollektiven Emotionen herrühren, haben wir eine Chance, zu verhindern, dass wir von ihnen mitgerissen werden.
Das ist nicht leicht. Wir haben uns selbst in eine Decke von Mythen eingewickelt; nur wenn wir sie abstreifen, können wir an die Wurzeln der Angst, Empörung und Selbstgerechtigkeit herankommen, die unser Denken so maßgeblich beeinflussen. Individuelle Lebensgeschichten können auch hier ein Schlüssel zum besseren Verständnis sein. Zu Beginn dieses Buches erzählte ich die Geschichte von Leonard Creo(17), der bereitwillig die Orden annahm, die ihm während des Kriegs verliehen wurden, und auch das Lob, das damit verbunden war, und dem erst allmählich aufging, dass er im Grunde nichts Heroisches getan hatte, sondern lediglich so gehandelt hatte, wie es jeder Mensch in seiner Situation getan hätte. »Die Armee braucht Helden«, sagte er mir, »aus diesem Grund verleiht sie ihnen Orden. Sie muss das Beste aus diesen Waschlappen herausholen.« Auch die Gesellschaft braucht Helden, und sie ist bereit, sie als Vorbilder für den Rest von uns anzupreisen, selbst wenn das bedeutet, die Wahrheit zu verbiegen beziehungsweise zu kaschieren.2
Wenn unsere »Helden« geraume Zeit brauchen, um zuzugeben, was in der Vergangenheit wirklich passiert ist, dann gilt das Gleiche für unsere »Monster«. Oft gelangen sie nie an diesen Punkt. Es bedurfte Jahre stiller Betrachtung, ehe Yuasa(37) Ken erkannte, dass er in China(70) nicht nur Verbrechen, sondern Gräueltaten begangen hatte. Als er schließlich nach dem Krieg nach Japan(238) zurückkehrte, stellte er mit Erstaunen fest, dass niemand, der wie er an diesen Gräueltaten mitgewirkt hatte, zugab, etwas Falsches getan zu haben. Manchmal ist es einfach leichter, sich an eine angenehmere Version der Ereignisse zu erinnern als an jene, die tatsächlich stattgefunden hat.
Auch Nationen verhalten sich so. Wie sonst ließe sich erklären, dass sich Nationen wie Großbritannien(239) oder die USA noch immer scheuen zuzugeben, dass sie es während des Zweiten Weltkriegs(252) sowohl gegenüber den Besiegten als auch gegenüber denjenigen, die sie befreiten, an Gnade mangeln ließen? Oder dass nationalistische Splittergruppen in Japan(239) noch immer Verbrechen leugnen, von denen jeder auf der Welt weiß, dass sie begangen wurden? Warum verwenden die Polen(52) oder die Franzosen(141) so viel Energie auf die Erinnerung an ihren eigenen »heroischen« Widerstand während des Kriegs und so wenig darauf, ihre eigene Feigheit oder Grausamkeit zuzugeben? Wie alle Individuen sind auch alle Nationen anfällig für solche Tendenzen, und sie sollten sich selbst an diese Tatsache erinnern, wenn sie heute in den Krieg ziehen.
Vielleicht die schädlichsten aus dem Zweiten Weltkrieg(253) hervorgegangenen Mythen beziehen sich auf das Märtyrertum. Menschliches Leid nahm in diesem Buch einen breiten Raum ein: Ich glaube, es ist für jede Nation äußerst wichtig, sich ihre erlittenen Traumata einzugestehen, denn nur wenn wir unsere Verluste betrauern, können wir sie überwinden. Aber verletzte Nationen verklären ihr Leid gern zu etwas Heiligem, denn dies erlaubt es ihnen, sich einzubilden, sie hätten keinen Anteil an ihrem Leid, daran sei ausschließlich jemand anders schuldig. Eine solche heilige Unschuld spricht sie von vergangenen Sünden frei und rechtfertigt zugleich zukünftige Missetaten. Statt sich mit ihren Verlusten auseinanderzusetzen, um darüber hinwegzukommen, klammern sie sich an ihren Kummer wie an eine Waffe und verwandeln ihn in heilige Empörung.
Dies sind die Arten von Emotionen, die absichtlich von denjenigen geschürt werden, die sie für ihre eigenen Zwecke ausnutzen wollen – skrupellose Politiker, Medienmogule, religiöse(30) Demagogen und so weiter. Sie laden uns ein, in der rechtschaffenen Macht der Masse aufzugehen. Diejenigen, die ihrer Aufforderung nachkommen und sich von Gemeinschaftsgefühlen mitreißen lassen, können sowohl eine Art Sinnerfüllung als auch ein Bewusstsein der Zugehörigkeit erleben, aber nur um den Preis des Verzichts auf ihre Freiheit. Wenn uns der Zweite Weltkrieg(254) etwas gelehrt haben sollte, dann die Tatsache, dass man Freiheit nur selten mühelos zurückerlangt, wenn man sie einmal aufgegeben hat.
Leider ist es auch nicht leicht, Freiheit zu leben. Echte Freiheit verlangt von uns, aus der Masse herauszutreten und ihr gelegentlich sogar die Stirn zu bieten und nach Möglichkeit selbstständig zu denken. Sie zwingt uns dazu, das, was wir verloren haben, ungeschönt zur Kenntnis zu nehmen, einzusehen, dass auch wir Fehler gemacht haben und für unser Leid mitverantwortlich sind. Ein freier Mensch ist ein Mensch, der schwer an Verantwortung und unangenehmen Wahrheiten zu tragen hat.
Einmal mehr können persönliche Erfahrungsberichte von Kriegsüberlebenden uns beispielhaft vor Augen führen, wie man diesen einsamen Weg erfolgreich meistern kann. Ich habe dieses Buch mit der Geschichte von Georgina(25) Sand begonnen, und ich werde es mit ihr schließen. Nachdem sie als Kind aus Österreich(12) geflohen war, war sie gezwungen, in Großbritannien(240) ein neues Leben anzufangen. Nach wiederholten Ortswechseln über einen Zeitraum von zehn Jahren ließ sie sich schließlich mit ihrem Ehemann in London(23) nieder, aber sie(26) weiß, dass ihre Erlebnisse in dieser Zeit sie traumatisiert haben. »Viele Jahre lang sprach ich mit niemandem über das, was ich durchgemacht hatte. Meine Kinder wussten es nicht. Erst als ich älter wurde und die Kinder bereits erwachsen waren, fiel es mir wieder ein, aber ich wollte nicht darüber reden. Es war zu schmerzlich.« Sie weiß, dass ihre Ehe nicht immer glücklich war, dass ihr Ehemann sie manchmal wie das Kind behandelte, das sie war, als sie ihn kennenlernte, und dass sie es widerspruchslos hinnahm, dass er ihr Leben organisierte, als ob sie immer noch so hilflos wäre, wie sie es als Flüchtling während des Kriegs gewesen war. Sie(27) gab auch zu, bei der Erziehung ihrer Kinder Fehler gemacht und ihre eigene unerträgliche Angst an sie weitergegeben zu haben. Und sie hat sich seit Langem mit der Tatsache abgefunden, dass sie immer eine Außenseiterin bleiben wird, ganz gleich, wie alt sie wird. »Aber ich bin jetzt ruhiger«, sagte sie mir. »Ich schätze das, was ich habe. Die Erfahrungen waren mitunter schmerzlich. Aber vielleicht machen sie mich in gewisser Weise auch aus(28).«
Alle Menschen in diesem Buch gelangten gezwungenermaßen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Der Zweite Weltkrieg(255) blieb ein Fixpunkt in ihrer aller Leben, aber als sich die Welt um sie herum veränderte, gelangten sie nach und nach zu der Erkenntnis, dass die Denkweisen, die sie sich angeeignet hatten, um mit ihren Kriegserlebnissen zurechtzukommen, ihnen keine guten Dienste mehr leisteten. Wenn sie eine neue Zukunft für sich haben wollten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ihren alten Ängsten und Ressentiments zu stellen und alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um darüber hinwegzukommen.
Wir werden dazu verdammt sein, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, wenn wir uns nicht mit den Traumata und Enttäuschungen, die wir seit dem Krieg erlebt haben, aussöhnen und Frieden schließen. Wenn wir den Reichtum und die Komplexität des Lebens nicht annehmen können – so schmerzlich es auch sein mag –, werden wir nach tröstlichen Vereinfachungen greifen. Wir werden uns weiterhin Geschichten von Helden erzählen, die kein Unrecht tun können, und von Ungeheuern, welche die absolute Verkörperung des Bösen sind. Wir werden uns selbst weiterhin als Märtyrer betrachten, deren Leid uns heilig macht und alle unsere Handlungen rechtfertigt, auch wenn diese noch so niederträchtig sind. Und zweifellos werden wir diese Mythen weiterhin in der Sprache des Zweiten Weltkriegs(256) formulieren, so, wie wir es seit 1945 immer getan haben, als hätte es die Jahrzehnte, die uns von dieser Zeit trennen, nie gegeben.