2. UNN

Unterwegs zu etwas Aufregendem – Siss dachte darüber nach, was sie von Unn schon wusste, während sie selbst steif und zügig weiterging und versuchte, die Angst vor der Dunkelheit wegzuschieben.

Wenig wusste sie. Und es hätte nichts gebracht, die Leute hier zu fragen, die würden auch kaum mehr über Unn erzählen können.

Unn war so neu hier, war im letzten Frühling ins Dorf gekommen – aus einem recht weit entfernten Ort, zu dem es keine Verbindung gab.

Unn war hierhergekommen, nachdem sie im Frühling zur Waise geworden war, so wurde erzählt. Ihre Mutter war krank geworden und gestorben, in ihrem Heimatort irgendwo. Die Mutter war unverheiratet gewesen und ohne Verwandte dort, aber hier im Dorf wohnte ihre ältere Schwester, und zu dieser Tante war Unn gekommen.

Ihre Tante lebte schon sehr lange hier. Siss kannte sie kaum, obwohl es zu ihr nicht weit war. Sie lebte völlig allein in ihrem Häuschen und kam irgendwie zurecht. Meist war nichts von ihr zu sehen, man konnte ihr auf dem Weg in den Laden begegnen. Siss hatte sagen hören, Unn sei in dem Haus herzlich willkommen gewesen. Einmal war Siss mit ihrer Mutter dorthin gegangen, wegen irgendeiner Handarbeit, die ihre Mutter dringend machen lassen musste. Es war ein paar Jahre her, bevor überhaupt jemand wusste, dass es Unn gab. Die Frau saß einsam in ihrem Haus und war liebenswürdig gewesen, daran erinnerte Siss sich. Man hörte auch nie ein böses Wort über sie.

Mit Unn ging es ebenso, als sie kam: Sie schloss sich den anderen Mädchen nicht sofort an – anders als diese erwartet und gehofft hatten. Sie sahen sie kurz unterwegs und sonst an Orten, wo man ohnehin andere Leute traf. Sie sahen einander als Fremde an. Das war nicht überraschend. Sie war eine Waise, das verlieh ihr ein eigenes Licht, einen Schein, den die anderen nicht recht erklären konnten. Sie wussten auch, dass diese Fremdheit bald vorüber sein würde: Im Herbst würden sie einander in der Schule begegnen – und damit wäre das erledigt.

Siss hatte auch nichts unternommen, um sich den Sommer über Unn zu nähern. Sie sah Unn ab und zu zusammen mit der alten freundlichen Tante. Bei diesen Begegnungen hatte sie gesehen, dass sie beide ungefähr gleich groß waren. Sie sahen einander verwundert an und gingen weiter. Warum verwundert, wussten sie wohl nicht, aber aus irgendeinem Grund –

Unn war so schüchtern, hieß es. Das klang interessant. Alle Mädchen waren neugierig auf die Begegnung mit der schüchternen Unn in der Schule.

Siss freute sich aus einem besonderen Grund darauf: Sie war wie ganz von selbst die Anführerin der Spiele in der Freizeit. Sie war daran gewöhnt, diejenige zu sein, die sich etwas einfallen ließ, hatte nie darüber nachgedacht, es war einfach so, und es missfiel ihr nicht. Sie freute sich darauf, die Anführerin zu sein, wenn Unn dazukam und aufgenommen wurde.

Als die Schule anfing, sammelte die Klasse sich wie immer um Siss, Mädchen wie Jungen. Sie spürte, dass ihr das auch dieses Jahr wieder gefiel, und tat vielleicht auch das eine oder andere, um diese Stellung zu halten.

Die schüchterne Unn stand ein Stückchen abseits. Sie sahen neugierig zu ihr hinüber und befanden sie im selben Moment für gut. War nichts gegen sie zu sagen, wie es aussah. Das Mädchen schien in Ordnung zu sein. Gut zu leiden.

Aber sie blieb abseits stehen. Sie versuchten dies und das, um sie anzulocken, es nutzte nichts. Siss stand in ihrer Gruppe und wartete auf sie, und so verging der erste Tag.

So vergingen mehrere Tage. Unn machte keine Anstalten näherzukommen. Schließlich ging Siss zu ihr hin und fragte:

– Kommst du nicht?

Unn antwortete mit einem Kopfschütteln.

Aber sie sahen bald, dass sie einander mochten. Ein besonderer Funken sprang zwischen ihnen über. Die will ich kennenlernen! Unbegreiflich, aber gewiss.

Siss wiederholte verwundert:

– Kommst du nicht zu uns?

Unn lächelte verlegen.

– Ach nein …

– Warum denn nicht?

Unn lächelte immer noch verlegen.

– Ich kann nicht …

Zugleich war da ein lockendes Spiel zwischen ihnen im Gange, fand Siss.

– Was passt dir nicht?, fragte Siss etwas schroff und dumm, es tat ihr gleich sehr leid. Unn wirkte nicht so, als ob ihr etwas nicht passte. Ganz im Gegenteil.

Unn wurde ein wenig rot.

– Nein, das ist es nicht, aber …

– Ich hab das auch nicht so gemeint! Aber mach doch mit, das wäre schön.

– Frag mich das nicht mehr, sagte Unn.

Das wirkte auf Siss wie ein kalter Guss, und sie verstummte. Ging gekränkt zurück zu ihren Freundinnen und berichtete.

Und sie fragten sie nicht mehr. Unn sollte abseits stehen, wenn sie wollte, sie nahm nicht an den Vergnügungen der anderen teil. Es hieß, sie sei eingebildet, aber das blieb nicht an ihr hängen, und niemand hänselte sie – sie hatte so etwas an sich, das alles dergleichen aufhielt.

Im Unterricht zeigte sich sofort, dass Unn zu den Gescheitesten gehörte. Aber sie ließ es die anderen nicht spüren, und die bekamen einen etwas widerwilligen Respekt vor ihr.

Siss beobachtete das alles genau. Spürte, dass Unn stark an ihrem einsamen Platz auf dem Schulhof stand – sie war keine arme Verlorene. Siss setzte alles ein, um die anderen um sich zu sammeln, und es gelang ihr – und doch hatte sie das Gefühl, Unn da drüben sei stärker, obwohl sie nichts tat und niemanden bei sich hatte. Sie war dabei, Unn zu unterliegen, und vielleicht sahen die anderen das auch so? Sie wagten nur nicht wegzugehen. Unn und Siss standen da wie zwei Parteien, doch ging das still vor sich, es war eine Sache zwischen Siss und dem Neuankömmling. Wurde mit keinem Wort erwähnt.

Bald kam es vor, dass Siss im Unterricht Unns Blicke auf sich spürte. Unn saß ein paar Pulte weiter hinten, da ging das gut.

Siss spürte es als ein seltsames Kribbeln im Körper. Es gefiel ihr derart, dass sie es kaum verbergen konnte. Sie tat, als ob nichts wäre, fühlte sich aber in etwas Fremdes, Gutes eingesponnen. Das waren keine forschenden oder missgünstigen Blicke, es lagen Wünsche in ihnen – wenn Siss schnell war und sie aufschnappte. Erwartung war es. Sobald sie draußen waren, tat Unn so, als ob nichts wäre, kam ihr nicht näher. Aber es war einfach so, Siss spürte das süße Kribbeln: Hinter mir sitzt Unn und schaut mich an.

Fast immer achtete sie darauf, diesen Blicken nicht zu begegnen, wagte es noch nicht – nur ein paar hastige Male, wenn sie sich vergaß.

Aber was will Unn?

Eines Tages sagt sie es.

Draußen stand sie an der Wand und nahm an keinem Spiel teil. Stand da und beobachtete die anderen ruhig.

Warten. Man musste warten, dann würde es eines Tages schon kommen. Bis dahin konnte es so bleiben, wie es jetzt war, und das war ja auch schon besonders.

Den anderen gegenüber durfte sie sich nie etwas anmerken lassen. Sie meinte, das würde ihr gelingen. Dann sagte eine Freundin etwas neidisch zu ihr:

– Du bist ja ganz schön mit Unn beschäftigt.– Nein.

– Nein? Du glotzt unablässig zu ihr hin, denkst du, das fällt uns nicht auf?

Tu ich das?, fragte Siss sich verwirrt.

Ihre Freundin lachte säuerlich.

– Das sehen wir alle schon die ganze Zeit, Siss.

– Gut, dann tu ich das eben, kann ich doch, so viel ich will!

– Pff.

Siss dachte viel darüber nach. Und dann passierte es schließlich, jetzt. Jetzt und heute. Darum ging sie durch den Wald.

Heute früh lag der erste Zettel auf Siss’ Pult, als sie sich hinsetzen wollte:

Will dich treffen, Siss.

Unterschrift: Unn.

Ein Strahl von irgendwoher.

Sie drehte sich um und begegnete dem Blick. Sie vertieften sich ineinander. Eigenartig. Mehr wusste man nicht, mehr konnte man nicht dazu denken.

Zettel waren an diesem guten Tag hin und her gegangen. Viele Hände halfen ihnen von Pult zu Pult.

Will dich auch gern treffen.

Unterschrift: Siss.

Wann kann ich dich treffen?

Wann du willst, Unn! Heute.

Dann will ich heute.

Willst du heute mit zu mir kommen, Unn?

Nein. Du musst zu mir kommen, sonst will ich nicht.

Siss drehte sich rasch um. Was war das? Sie begegnete dem Blick, sah Unn nicken, ja, es war so, wie es auf dem Zettel stand. Siss überlegte keine Sekunde lang, sie schickte die Antwort:

Komme zu dir.

Damit endeten die Zettel. Miteinander redeten sie aber erst nach der Schule. Da standen sie beieinander und sprachen schnell und verlegen. Siss fragte, ob Unn nicht doch mit zu ihr kommen wollte?

– Nein, warum?, fragte Unn.

Siss ließ es sein. Sie wusste, es war, weil sie dachte, sie hätte irgend etwas, das Unns Tante nicht hatte – außerdem war sie es gewohnt, dass die Freundinnen zu ihr kamen. Sie schämte sich und konnte Unn das nicht erzählen.

– Nein, nur so, sagte sie.

– Du hast gesagt, du kommst zu mir, also.

– Ja, aber ich kann nicht gleich mitkommen, ich muss erst heim, damit sie wissen, wo ich bin.

– Ja, mach das.

– Dann komme ich heute Abend, sagte Siss verzaubert. Wovon verzaubert, das war das Unbegreifliche. Von dem, was in ihren Augen Unn überhaupt ganz umgab.

Das war, was Siss über Unn wusste – und jetzt war Siss unterwegs zu ihr, nachdem sie zu Hause Bescheid gesagt hatte.

Die Kälte biss nach ihr. Unter ihren Füßen knirschte es, und das Eis unten krachte.

Jetzt tauchte das kleine Häuschen von Unn und ihrer Tante auf. Es leuchtete zwischen weiß bereiften Birken hervor. Das Herz klopfte vor Freude und Erwartung.