10. DER VOGEL

Der wilde Vogel mit den Stahlklauen zog einen Schrägstrich zwischen zwei Bergesgipfeln, er brauchte keine Zeit dazu. Er ließ sich nicht nieder, stieg wieder auf und schnitt weiter seine Bahn. Keine Ruhe, kein genaues Ziel im steten Hin und Her in der Luft.

Unter ihm breitete sich die Winterlandschaft aus. Es war einsam, wo er flog. Er schnitt die Landschaft unter seinem Auge in Streifen. Sein Auge sandte geradezu Glassplitter und Blitze durch die Frostluft, und sie sahen alles.

Er war der Herrscher hier oben – und darum gab es kein anderes Leben. Die starrenden Stahlklauen waren eiskalt. Der Frostwind heulte im Flug zwischen ihnen.

Der Vogel zerschnitt die menschenleere Weite in Streifen und Spiralen, und er war der Tod. Wenn trotzdem noch etwas unten zwischen Büschen oder Bäumen lebte, kam aus dem Auge ein Blitz, und ein Schrägstrich schoss herab. Danach gab es hier noch weniger Leben.

Er sah keinen, der ihm gleich war.

Über weite Landschaften zu schweben war sein Alltag. Er konnte sich auf seine Flügel verlassen und ermüdete nie.

Er war nie in Gefahr.

Ein wilder Schneesturm war jetzt über die weite Landschaft gefegt. An ausgesetzten Stellen hatte er den Schnee weggeweht. Die Schneedecke war lose, es hatte keinen einzigen Tag mit richtig mildem Wetter gegeben. Jetzt stob der Schnee zu gewaltigen Wehen zusammen. Danach kam klares Wetter mit einer kalten Sonne. Das ritzende Vogelauge blickte von weit oben auf diese Verwandlung.

In der Luft über dem Eis-Schloss. Heute war der Schnee über dem Schloss fort, jetzt zeigte es sich, wie es wirklich war. Der Vogel sah die Veränderung und sandte einen zerreißenden Blitz hinab: sich selbst, die splitternden Augen voran. Er vollführte einen jähen Knick in seinem Strich, dann eine Kurve, um abzubremsen, er schwenkte zurück und schnitt dicht an der Eiswand entlang. Danach stieg er in schwindelnde Höhen auf und wurde zu einem kleinen schwarzen Fleck am Himmel.

Gleich schoss er wieder herab. Ein neuer Strich vor dem Eis-Schloss, auf denselben haarfeinen Punkt zu. Er war ein freier Vogel, niemand hinderte ihn daran, zu tun, wonach ihm war. Er war nicht bedroht, er war verlockt, wenn er es wollte.

Er kam von diesem Ort nicht los. Konnte auch auf nichts herabstoßen, sich nicht zum Ausruhen niederlassen – nur wie ein dunkler kleiner Windstoß an der Eiswand vorbeischießen. In der nächsten Minute weit entfernt am Rande des Gesichtsfeldes, oder in einer Spirale hinan. Im nächsten Augenblick entlang an derselben Stelle an der Eiswand. Er war kein ganz freier Vogel mit Stahlklauen und Wind mehr, er war hier zwingend gebunden.

Gefangener seiner eigenen Freiheit. Konnte nicht aufhören. Was er sah, verwirrte ihn.

Er würde sich tödliche Schnitte zufügen mit seinen eigenen Sturzflügen – sie waren hart wie Glas, obwohl das nicht im Geringsten zu erkennen war. Aber die Luft wurde von ihnen zerschnitten. Er musste irgendwann selbst daran zugrunde gehen.