Lily hat einen trockenen Mund vor Panik, als sie um vierzehn Uhr vom Hotelgelände flüchtet. Sie spürt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, denn DI Kitto sah sehr ernst aus, als er aus Sabines Zimmer kam. Sie muss mit ihrem Bruder sprechen, auch wenn sie Angst vor ihm hat. Als sie durch Hugh Town geht, liegt eine merkwürdige Stimmung in der Luft. Alle Wege sind verstopft mit Touristen, und über den Kai zieht sich eine lange Schlange von Menschen, die am Ticketschalter für die Fähre anstehen. Eine Frau stößt Lily fast vom Gehsteig, während sie mit hochrotem Gesicht darüber schimpft, dass der Fährbetrieb für den Rest des Tages eingestellt worden sei. Lily eilt auf die niedrigen Steinhäuser zu, die die Strand säumen. Vor dem alten Fischer-Cottage, das ihr Zuhause geworden ist, als sie vor fünf Jahren auf die Insel kam, bleibt sie kurz stehen. Sie hofft noch immer, dass ihre Mutter plötzlich am Fenster erscheint, doch es bleibt leer. Sie schließt die Tür auf und ruft laut nach ihrem Bruder, bekommt aber keine Antwort.
Lily setzt ihre Suche fort; sie geht an der gedrungenen Silhouette des Gemeindezentrums vorbei und schlägt dann den Weg zum Porth Mellon Beach ein. Sie erinnert sich noch, wie aufgeregt sie war, als sie mit dreizehn Jahren auf St. Mary’s ankam. Nach all der Zeit in einer Hochhauswohnung fühlte es sich geradezu magisch an, den ganzen Tag das Geräusch der an den Strand schlagenden Wellen zu hören, aber heute kann nicht einmal der Blick aufs offene Meer sie aufmuntern. Ein Dutzend Boote stehen aufgebockt hinter dem Schiffsausrüsterladen, aber es ist niemand zu sehen. Die Sonne brennt am frühen Nachmittag so heiß vom Himmel, dass Lily die Hand über die Augen hält und sich wünscht, sie hätte eine Sonnenbrille dabei. Harry hat einen Sommerjob gefunden; in einem alten Schnellboot, das Paul Keast gehört, bietet er Inselrundfahrten für Touristen an. Jetzt liegt das Boot jedoch auf seinem Trailer, und von ihrem Bruder ist keine Spur zu sehen. Sie dachte, er wäre vielleicht mit Sabine rausgefahren oder würde in der Sonne liegen. Keast ist anscheinend bereit, über Harrys Liebschaften und sein Temperament hinwegzusehen, solange er Profit macht.
Lily lehnt sich mit dem Rücken an die Seite des Bootsrumpfes, die im Schatten liegt, um ihre helle Haut vor der Sonne zu schützen. Nach einer halben Stunde hört sie knirschende Schritte im Sand und richtet sich auf. Harry trinkt Bier aus einer Dose und hat noch zwei weitere Sixpacks in einer Plastiktüte, die er in der Hand schwenkt. Es wäre das Klügste, ihm aus dem Weg zu gehen, aber sie braucht Antworten auf ihre Fragen. Über das Gesicht ihres Bruders huscht ein Ausdruck von Scham, bevor er wieder seine typische Verteidigungshaltung einnimmt.
»Was hab ich diesmal verbrochen?«, fragt er und trinkt einen Schluck.
»Ich brauche deine Hilfe, Harry.«
»Wieso?« Er kommt näher, seine Miene wird weicher. »Du bist aufgeregt. Das sehe ich dir an.«
Lily legt wieder die Hand über die Augen und mustert ihn. Harry wird bald zwanzig; er ist achtzehn Monate älter als sie, groß und gutaussehend. Die Sonne hat blonde Strähnen in seine hellbraunen Haare gebleicht, und seine Haut ist sonnengebräunt. Er wirkt immer noch wie der prahlerische Angeber, den sie als Kind verehrt hat, aber ihre Beziehung hat sich verändert. Früher hat er sich ihr anvertraut, doch in der Zwischenzeit saß er drei Monate im Gefängnis, und seine Trinkerei ist schlimmer geworden. Harry ist ihr einziger Verwandter auf St. Mary’s, allerdings traut sie ihm nicht mehr.
»Sabine ist gestern Nacht nicht ins Hotel zurückgekommen. Ich dachte, sie wäre bei dir.«
»Ich hab sie nicht gesehen.« Die Sanftheit schwindet aus seiner Miene.
Lily zieht das Handy ihrer Freundin aus der Tasche und hält es ihm hin. »Du hast ihr die ganze Woche Nachrichten geschickt und wolltest sie treffen.«
Harry starrt sie an. »Warum hast du ihr Handy?«
»Du kannst froh sein, dass ich es eingesteckt habe, bevor die Polizei ihr Zimmer durchsucht hat.« Lily tritt näher an ihn heran, obwohl ihr Bauchgefühl ihr rät, Reißaus zu nehmen. »Du hast versprochen, sie nicht anzurühren.«
»Ich bin ein paarmal mit ihr rausgefahren, das ist alles.« Er lächelt schwach.
»Du hast gesagt, dass du meine Freundinnen in Ruhe lässt.«
»Es ist einfach passiert, Lily. Aber es hat weder ihr noch mir irgendwas bedeutet.«
»Warum sprichst du in der Vergangenheit von ihr?«
»Weil es vorbei ist. Das ist alles.«
Lily zieht den Zettel aus der Tasche und hält ihn ihm vor die Nase. »Den hast du ihr gestern Abend unter der Tür durchgeschoben, stimmt’s? Das ist deine Handschrift.«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich war mit ein paar Kumpels im Pub und kam dann zu spät zum Leuchtturm – ziemlich betrunken. Es war keiner da. Ich hab ein Auto wegfahren sehen, aber sie hätte sich doch nicht mitnehmen lassen, sie wäre mit dem Rad gekommen. Ich hab mich ins Gras gelegt und auf sie gewartet und bin dabei eingeschlafen. Ein paar Stunden später bin ich wieder wach geworden und allein nach Hause gegangen.«
»Wieso sucht die Polizei nach ihr?«
»Woher soll ich das wissen? Ich hab sie nicht gesehen, und sie hat mir auch keine Nachricht geschickt.« Er runzelt die Stirn.
»Dir ist doch eh scheißegal, ob sie nach Hause gekommen ist oder nicht. Weil du – mal wieder – besoffen bist.«
»Spar dir deine Vorträge. Da hab ich keinen Bock drauf.«
»Bitte sag mir, dass ihr nichts passiert ist, Harry.«
Durch Lilys Körper fährt ein scharfer Schmerz, als er ihren Arm packt und verdreht. Sie hält den Atem an und wartet auf einen Schlag, der jedoch nicht kommt.
»Du bist genau wie alle anderen. Ich hab einmal einen Fehler gemacht, und jetzt bin ich für die ganze Insel der Sündenbock.« Ihr Bruder zerrt noch einmal an ihrem Handgelenk, bis sie aufheult vor Schmerz. »Warum verziehst du dich nicht einfach und lässt mich in Frieden?«
Lilys andere Fragen werden warten müssen. Ein paar Dosen Lagerbier reichen aus, um Harry zu verändern. Sie verfolgt ihre Fußabdrücke im Sand, bis sie wieder an dem Weg ist, dann wirft sie einen Blick zurück. Harry sitzt neben dem Boot, trinkt sein nächstes Bier und versinkt bereits in Selbstmitleid. Lilys Mutter hat sie vor ihrem Tod angefleht, ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen, aber schon wenige Wochen nach der Beerdigung hat sein Jähzorn sie aus ihrem gemeinsamen Zuhause vertrieben. Weil er aggressiv auf ihre Fragen reagiert hat, glaubt sie, dass er ihr etwas verschweigt, das mit Sabines Verschwinden zu tun hat.
Als Lily die Straße erreicht, sind Dutzende Inselbewohner auf dem Weg nach Hugh Town. Sie findet heraus, dass die Polizei für fünfzehn Uhr eine Versammlung anberaumt hat, und da ihr niemand den Grund dafür nennen kann, beschleicht sie ein ungutes Gefühl.