Unter normalen Umständen ist der Pfarrsaal von St. Andrew’s eine Oase der Ruhe. Der scheunenartige Raum im Herzen von Hugh Town wird normalerweise für Chorproben, Yogakurse und Tai-Chi genutzt, doch heute besteht keine Aussicht auf Entspannung. Freiwillige Helfer leiten Einheimische und Touristen ins Innere. Mein Team hat einhundert Stühle in ordentlichen Reihen aufgestellt, die inzwischen besetzt sind, doch es warten noch weitere Besucher auf Einlass. Wenn man auf derart kleinen Inseln arbeitet, lernt man schnell, dass Neuigkeiten, gute wie schlechte, sich rasch herumsprechen.
Ich warte schweigend, während sich der Saal füllt. In meinem Job als Undercover-Ermittler bei der Mordkommission habe ich gelernt, dass Mörder gern beobachten, wie sich die Dinge entwickeln. Aus diesem Grund halte ich Ausschau nach zerkratzten Armen und Gesichtsverletzungen – also Hinweisen auf erst kurz zurückliegende, körperliche Auseinandersetzungen –, doch ich sehe nur Menschen, die ich schon mein gesamtes Erwachsenenleben hindurch kenne, und einige Touristen. Die Gäste sind gut gebräunt von den vielen Stunden, die sie hier an der frischen Luft verbringen. Verglichen mit ihnen sind die Inselbewohner eher blass von ihrer Arbeit in den Cafés, Pubs und Läden, denn sie müssen das Geld erwirtschaften, das in der Urlaubssaison die Konjunktur auf der Insel ankurbelt. Die Keast-Brüder kommen direkt von ihrem Wachdienst am Tatort hierher und lassen sich in der ersten Reihe nieder. Tom und Rhianna Polkerris vom Star Castle sehe ich nicht in der Menge, dafür aber Jade Finbury. Die Pilotin plaudert gut gelaunt mit der Frau rechts von ihr. Mein Onkel Ray steht mit undurchdringlicher Miene ganz hinten im Raum; er wirkt, als könnte ihn nichts mehr überraschen. Shadow sitzt laut winselnd neben ihm. Zum Glück hat Ray ihn an die Leine genommen, sonst würde er zu mir aufs Podium kommen.
Ich trete an den vorderen Rand des Podestes, das im Laufe eines Jahres vielen verschiedenen Zwecken dient. Sänger geben am Valentinstag hier oben Liebeslieder zum Besten, und Comedians nutzen es als Bühne für ihre Stand-up-Programme. Die Leute schauen erwartungsvoll zu mir hoch, so als hofften sie auf einen guten Witz, aber als ich Sabine Bertans Tod und einzelne Details über den Tatort bekannt gebe, verdüstern sich ihre Mienen.
»Wir müssen wissen, ob Sabine aus freien Stücken zum Pulpit Rock gefahren ist oder ob jemand sie dorthin verschleppt hat. Es war eine brutal ausgeführte und vorsätzliche Tat, und wir sind sicher, dass sich der Mörder weiterhin auf St. Mary’s aufhält. Ich möchte die letzten Stunden im Leben von Sabine detailliert rekonstruieren. Ihr Handy wird noch vermisst; es hat eine knallpinke Hülle mit Blumenmuster. Sollten Sie es finden, geben Sie es bitte sofort im Polizeirevier ab. Und ich kann Ihnen nicht genug ans Herz legen, auf Ihre Sicherheit zu achten. Bleiben Sie nicht allein und schließen Sie Ihre Türen ab. Bis der Täter gefasst ist, darf niemand die Insel ohne Genehmigung verlassen oder betreten.«
Bei diesem letzten Satz geht ein verärgertes Raunen durch den Saal, was absolut verständlich ist. Hunderte Touristen werden am Montag nicht an ihre Arbeitsplätze zurückkehren können, und die nächsten Besucher dürfen gar nicht erst anreisen.
»Kann ich davon ausgehen, dass Sie alle damit einverstanden sind, dass wir Ihre Häuser durchsuchen, falls es uns erforderlich erscheint? Das würde eine Menge Zeit sparen, da wir ansonsten einzelne Durchsuchungsbeschlüsse erwirken müssten.«
Wie erwartet, nicken die Anwesenden mir zu. Ich bitte sie, auch ihre Nachbarn darüber zu informieren, dass wir vereinzelt Grundstücke durchsuchen und nach Sabines Handy Ausschau halten werden. Dann drücke ich auf eine Taste an meinem Computer, und auf der Wand erscheint ein Foto; es zeigt das goldene Medaillon und die Ohrringe, die die Tote trug.
»Der Schmuck könnte dem Opfer gehören oder aber jemandem von hier. Falls Sie ihn erkennen, sprechen Sie mich bitte heute noch an.«
Als ich Sabines Foto einblende, erhebt sich ein Gewirr von Stimmen. Ich zeige auch den auf die Rückseite gekritzelten Satz, doch niemand kennt ihn oder die Handschrift des Täters. Dass sie ein Brautkleid trug, erwähne ich lieber nicht, denn dieses groteske Detail könnte Panik stiften. Es ist wichtig, die richtige Balance zu finden. Für unsere Arbeit kommt es darauf an, dass die Leute normal weitermachen, zugleich aber akzeptieren, dass sie Gefahren ausgesetzt sind. Ihre Fragen zu beantworten, ohne dabei die ganze Brutalität der Tat offenzulegen, erfordert einiges Fingerspitzengefühl. Zum Ende der Versammlung haben alle eingewilligt, uns ihre Alibis zu liefern, die wir überprüfen müssen, bevor wir irgendjemandem erlauben können, die Insel zu verlassen.
Die Leute stehen bereits Schlange, um mit meinem Team zu sprechen. Eddie Nickell leitet die Operation und stellt sicher, dass Lawrie und Isla die richtigen Details zusammentragen. Sogar mit der Unterstützung der sechs ehrenamtlichen Hilfspolizisten der Insel werden wir Stunden brauchen, um die Alibis einzeln zu kontrollieren. Die sechs Helfer arbeiten während der Festivals und Bootsrennen als Aufseher, aber mit anderen Aspekten der Polizeiarbeit haben sie bislang keinerlei Erfahrung. Den größten Teil der Standardarbeit werden wir also selbst erledigen müssen, und ich möchte unbedingt noch einmal zum Star Castle, wo Sabine lange Schichten geschoben hat, um ihr Studium zu finanzieren und ihrer Familie Geld nach Hause zu schicken. Außer dass sie gern geschwommen ist und ein herzlicher, kontaktfreudiger Mensch war, weiß ich kaum etwas über sie und ihr Leben. Ich hätte mehr Zeit mit ihr verbringen sollen, dann hätte ich vielleicht erkannt, in welcher Gefahr sie schwebte.
Ich mache mir immer noch Vorwürfe, eventuell Hinweise im Verhalten der jungen Frau übersehen zu haben, als eine vertraute Gestalt durch den Raum auf mich zueilt. Elaine Rawle ist eine schlanke, mittelgroße Frau mit zurückgekämmten grauen Haaren; sie bewegt sich so flink wie eine alte Tennisspielerin. Ihr elegantes Sommerkleid sticht aus den hier überwiegend vertretenen, knallbunten T-Shirts und Bermudashorts heraus. Elaine ist die Frau des ehemaligen Rektors der Five Island School und leitet seit Jahrzehnten mit ruhiger Effizienz das Isles of Scilly Museum. Normalerweise spricht sie auf eine betont vornehme Art, heute sprudeln die Worte jedoch nur so aus ihr heraus und sind vor lauter Hast kaum zu verstehen.
»Das Medaillon stammt aus dem Museum, Ben. Es wurde vor einem Jahr zusammen mit anderen Exponaten gestohlen. An das genaue Datum erinnere ich mich nicht mehr, aber das steht ja sicher in den Akten, oder?«
»Langsam, Elaine. Ich habe von dem Diebstahl gehört, aber erzählen Sie das bitte ganz von vorn.«
»Der Dieb hat damals eine Handvoll Schmuck aus einer unserer Vitrinen entwendet. Das Stück, das Sie vorhin gezeigt haben, ist aus kornischem Gold gemacht. Ich weiß nicht viel über dessen Geschichte, aber ich würde es überall wiedererkennen.«
»Der Dieb kam einfach so ins Museum spaziert und hat die Sachen eingesteckt?«
»Unsere Aufsicht war damals hoffnungslos überfordert. Nach dem Diebstahl hat DCI Madron uns gezwungen, bessere Schlösser anzubringen. Komisch war nur, dass der Täter die gesamte Vitrine hätte leer räumen können, aber einige Stücke zurückgelassen hat, die eigentlich noch wertvoller waren.«
»Haben Sie eine Idee, wer es gewesen sein könnte?«
»Das ist ja das Frustrierende. Es war mitten in der Saison und die Insel mit Touristen überflutet. Das klingt jetzt bestimmt unfair, aber ich habe mich damals gefragt, ob Harry Jago vielleicht was damit zu tun haben könnte. Der Junge hat ständig Ärger. Von den anderen Inselbewohnern würde bestimmt niemand so eine Dummheit begehen.«
»Kann ich morgen mal im Museum vorbeikommen, und Sie zeigen mir alles?«
»Jederzeit«, sagt sie. »Es ist ja nicht gerade so, dass ich übermäßig viel zu tun hätte. Aber wenn Sie mehr über dieses Medaillon wissen wollen, wenden Sie sich am besten an Julian Power, der ist Experte auf dem Gebiet. Er sammelt Schmuckstücke aus der Region und erstellt einen Katalog für uns, damit man sich die Sammlung des Museums in Zukunft auch online anschauen kann.«
Julian Power ist der Inhaber der Isles of Scilly Travel Company. Der Junggeselle ist im mittleren Alter, hat ein etwas gravitätisches Auftreten und nimmt seine Verantwortung, Besucher zu transportieren, sehr ernst. Dass ausgerechnet er Frauenschmuck sammelt, erstaunt mich, und als ich den Blick noch einmal durch den Raum schweifen lasse, ist er nirgends zu sehen. Elaine Rawle verschwindet in der Menge, während ich darüber nachdenke, dass unser Täter theoretisch zugleich ein Dieb und ein Mörder sein könnte. Ich werde dem Hinweis nachgehen müssen, dass Harry Jago eventuell etwas mit der Sache zu tun hat, auch wenn er auf mich weniger gefährlich als vielmehr verloren wirkt. Wer auch immer Sabine getötet hat, muss die Tat schon das ganze Jahr hindurch geplant haben, doch das Dringendste ist jetzt, herauszufinden, wer dem Opfer nahestand. Denn diese Tat war kein willkürlicher Gewaltakt. Der Mörder muss jede einzelne Etappe sorgfältig vorbereitet haben, damit er keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde.
Ich schlüpfe aus dem Saal, um Sabines Priester einen Besuch abzustatten. Auf der Straße stehen überall Leute, die über den Tod der jungen Frau reden wie über den neuesten Tratsch. Am Rand der Menge erblicke ich eine Frau mit glänzenden schokoladenbraunen Haaren, die mir den Rücken zuwendet. Ich blinzele rasch, wie um eine Geistererscheinung zu vertreiben. Der Stress muss mir arg zusetzen, wenn ich mir schon einbilde, plötzlich eine Gestalt aus meiner Vergangenheit vor mir zu sehen. Doch als ich die Augen wieder aufmache, steht Nina Jackson immer noch da; sie ist absolut real. Es ist das erste Mal seit fast zwei Jahren, dass ich meine Exfreundin sehe – obwohl Exfreundin etwas zu hoch gegriffen ist. Wir waren damals kaum aus dem Stadium einer flüchtigen Affäre heraus, als sie Bryher wieder verließ, was meine Gedanken jedoch nicht davon abgehalten hat, seitdem zahllose Male zu ihr zurückzuwandern. Sie trägt ein türkisfarbenes Shirt, das ihre Bräune betont, und eine ausgeblichene Jeans. Shadow hat sie auch schon bemerkt. Er muss Ray entwischt sein, denn seine Leine schleift hinter ihm her, als er auf sie zuspringt. Die enthusiastische Begrüßung des Hundes gibt mir Zeit, einen weniger schockierten Gesichtsausdruck aufzusetzen, bevor ich sie begrüße. Welche Miene sie macht, ist hinter ihrer dunklen Sonnenbrille nicht zu erkennen; Shadow ist jedenfalls zu sehr damit beschäftigt, ihr die Hände abzulecken, um die gespannte Atmosphäre zu registrieren.
»Lange nicht gesehen, Nina.«
»Ich hatte vor, dich zu kontaktieren. Das mit dem toten Mädchen tut mir leid.«
Ich nicke langsam. »Du hast dir einen schlechten Zeitpunkt für deinen Besuch auf den Inseln ausgesucht. Entschuldige, ich muss weiter. Wir haben alle Hände voll zu tun.«
Shadow ist innerlich zerrissen, als ich weitergehe, und rennt zwischen uns hin und her, weil er sich nicht entscheiden kann, wer ihm wichtiger ist. Am liebsten würde ich ihn am Halsband festhalten. Ich könnte ihn auch für den Rest des Nachmittags an einen Baum binden, aber sein Geheul würde schnell zu einem öffentlichen Ärgernis werden. Am Ende entscheidet er sich für mich. Das Wiedersehen mit Nina hat mir zugesetzt. Sie könnte auch an tausend anderen Orten Urlaub machen, anstatt hierherzukommen und alte Wunden aufzureißen. Inzwischen ist Shadow fünfzig Meter vorausgerannt; er ist sich stets sicher, dass er mein Ziel besser kennt als ich, und diesmal liegt er richtig. Ich folge ihm die Strand entlang; dort steht etwas zurückversetzt die Church of Our Lady Star of the Sea mit freiem Blick aufs Meer. Sie erinnert eher an ein im viktorianischen Stil erbautes Haus denn an eine Kirche, aber das Gebäude mit den weiß gekalkten Mauern ist das einzige katholische Gotteshaus der Insel. Von dort aus überblickt man Town Beach, wo auf Trailern stehende Gigboote die Straße säumen. Zwei alte Männer sitzen auf einer Bank und schauen in trauter Schweigsamkeit auf den Atlantik hinaus.
Während ich versuche, jeden Gedanken an Nina aus meinem Kopf zu verbannen, rennt Shadow los, um bei den Rentnern Leckerlis zu schnorren. Als ich die Tür zur Kirche aufdrücke, schlägt mir der Geruch von Kerzenwachs und Weihrauch entgegen. Eine Pinnwand ist über und über mit Zetteln bedeckt, die zur Teilnahme am Chor oder zum Spendenlauf für das Rote Kreuz einladen. Im Inneren ist es unnatürlich still, und ich vermute, dass Pfarrer Michael Trevellyan seine Herde heute woanders hütet. Er ist der einzige katholische Priester auf den Scillys und teilt seine Zeit zwischen den fünf bewohnten Inseln auf.
Erst als ich auf der obersten Treppenstufe ankomme, sehe ich Pfarrer Michael. Da er mit gesenktem Haupt betend vor dem Altar kniet, setze ich mich in eine der Kirchenbänke und warte. Lateinische Wörter dringen leise über seine Lippen. In dem Dachraum gibt es nur einen einfachen Altar und Sitzplätze für ungefähr dreißig Gläubige. Die zwei Buntglasfenster erinnern an die enge Beziehung der Inseln zum Meer. Das eine zeigt Ruderer, die in einem Rettungsboot sitzen und mit den Wellen kämpfen, stammt also aus der Zeit, bevor die Boote der Seenotrettung mit starken Motoren ausgerüstet waren. Auf dem anderen sind Jünger Christi zu sehen, die ein gut gefülltes Fischernetz einholen. Obwohl ich durch und durch atheistisch bin, lösen diese Bilder in mir immer noch etwas aus. Als Junge bin ich, nachdem mein Vater ertrunken war, von Zeit zu Zeit hierhergekommen und habe das Licht bewundert, das durch die bunten Scheiben hereinströmt. Die Motive passen perfekt zu einer Gemeinde, die über die Jahrhunderte mehr an den Ozean verloren hat, als sie an Gewinn aus ihm ziehen konnte.
Pfarrer Michael wirkt erschöpft, als er wieder auf die Füße kommt, und es ist klar, dass er von dem Mord gehört hat. Er trägt ein schlichtes weißes Messgewand, und von nahem ist leicht zu erkennen, welch wechselvolles Leben er vor seiner Priesterausbildung geführt hat. Es heißt, bevor er seine Berufung verspürte, habe er gern und häufig Gebrauch von seinen Fäusten gemacht. Seine gebrochene Nase und sein schiefer Kiefer sind Relikte aus dieser Zeit. Er ist jetzt in seinen Vierzigern und hat die drahtige Figur eines Langstreckenläufers. Sein Haar ist grau meliert, und sein Mienenspiel wird erst lebhaft, wenn er lächelt. Der Priester hat die Inselpolizei in der Vergangenheit schon häufig unterstützt, und vielleicht benötige ich auch diesmal wieder seine Hilfe. Er ist Hilfspolizist wie die Keast-Brüder und in jeder Krise zur Stelle, wenn man ihn braucht.
»Da sind Sie ja, Ben. Ich habe Sie schon erwartet.« Er spricht mit einem kornischen Akzent, und in jeder Silbe klingt Traurigkeit durch.
»Können wir uns hier unterhalten, Herr Pfarrer?«
»Gott wird uns nicht rauswerfen, was auch immer wir bereden.« Sein Lächeln schwindet schnell. »Ich nehme an, Sie sind wegen Sabine hier.«
»Ich hoffe, Sie können mir ein paar Hintergrundinformationen über sie geben.«
»Sie war eine reizende, sehr liebenswürdige junge Frau.« Er schaut zu Boden, so als versuchte er, sich an jedes Detail zu erinnern. »Sabine war außergewöhnlich offen. Sie hat mir erzählt, dass sie an ihrem Glauben zweifelt; ich glaube, sie kam nur zur Messe, weil ihr das, so weit weg von zu Hause, Trost spendete.«
»Haben Sie häufig unter vier Augen mit ihr gesprochen?«
»Sie kam nur zweimal zur Beichte.« Seine Lippen schließen sich wie ein Buch, das zugeklappt wird.
»Sie dürfen ihre Geheimnisse jetzt nicht mehr für sich behalten, Herr Pfarrer. Ich brauche Details, bevor noch jemand zu Schaden kommt.«
Seine Miene verfinstert sich. »Bei unserem ersten Gespräch schien es ihr gut zu gehen, aber dann hat sich etwas verändert.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie hat jemand Neues kennengelernt und schien Angst vor den großen Gefühlen zu haben, die dieser Mensch in ihr auslöste. Sogar ihrer engsten Freundin hat sie nichts von der Sache erzählt.«
»War der Mann verheiratet?«
»Tut mir leid, sie hat nie einen Namen erwähnt.« Der Priester schüttelt sich leicht, so als würde ein kühler Luftzug durchs Fenster wehen, dabei ist es stickig in dem Raum. »Ich hoffe, Sie schnappen den Täter bald. Sabines Seele findet keine Ruhe. Ich spüre ihre Präsenz, obwohl ich für einen friedvollen Übergang gebetet habe. Sie muss schrecklich gelitten haben.«
»Wir werden ihn kriegen, machen Sie sich keine Sorgen. Erinnern Sie sich sonst noch an irgendwas aus ihrer Beichte?«
»Nur, dass diese Beziehung sie beunruhigt hat. Ich habe ihr gesagt, dass sie nichts tun soll, was sie bereuen könnte.«
»Sonst gab es nichts?«
»Sabine schien zu glauben, kurze Affären hätten einen befreienden Effekt. Zu Hause hatte sie das Gefühl zu ersticken.«
»Also hatte sie während ihres Aufenthalts hier mehr als einen Partner?«
»Ich glaube, sie wollte vor der Rückkehr zu den strengen Regeln in ihrem Elternhaus etwas über sich selbst herausfinden.« Er hält die Hände hoch, eine Geste der Niederlage. »Mein Bischof vertritt eine unnachgiebige Haltung, was junge Leute mit aktivem Sexleben angeht, aber die Zeiten ändern sich. Ich konnte ihr nur raten, auf sich aufzupassen und um Vergebung zu beten.«
»Darf ich Sie fragen, was Sie letzte Nacht gemacht haben? Wir fragen gerade jeden, wo er sich aufgehalten hat.«
»Meine Antwort ist nicht besonders aufregend, Ben. Ich habe unser wöchentliches Gebet abgehalten, das ungefähr um halb zehn endete. Danach bin ich nach Hause gegangen und hab mich früh schlafen gelegt.«
Als der Priester mir die Hand gibt, fühlt sie sich klamm an. Seine Miene wirkt gequält, und er wendet sich ab, so als würde Sabines Tod ihn zu sehr mitnehmen, als dass er seinen Gemeindemitgliedern gegenübertreten könnte. Shadows lautes Gebell ruft mich zurück nach unten, und als ich mich auf der Türschwelle noch einmal umdrehe, ist Pfarrer Michael schon wieder auf den Knien und schickt mit geschlossenen Augen ein neues Gebet für Sabine Bertans’ Seele gen Himmel.