Lily ist auf ihrem Bett im Star Castle zusammengebrochen, ihr Kissen feucht von Tränen. Bis jetzt war ihr Zimmer ihre Zufluchtsstätte, doch seit der Veranstaltung im Pfarrsaal fühlt sie sich nirgends mehr sicher. Harrys düstere Stimmung geht ihr nicht aus dem Sinn; wenn er so drauf ist, boxt er gegen Wände und greift aus den nichtigsten Gründen andere an. Als ihr Vater ins Gefängnis musste, weil er einen Mann im Streit so übel zugerichtet hatte, dass er an seinen Verletzungen starb, war niemand ernsthaft überrascht. Ihre Mutter zog danach mit ihnen nach St. Mary’s, damit sie neu anfangen konnten, doch Harrys Wut hat sich über die Jahre immer weiter verschlimmert. Lily versteht nicht, warum die Mädchen trotz seiner Rücksichtslosigkeit so auf ihn abfahren. Der Brief, den er Sabine unter der Tür durchgeschoben hat, liegt immer noch auf ihrer Frisierkommode, außerdem hat sie die Nachrichten gelesen, die die beiden sich gegenseitig geschickt haben. Warum hat ihre Freundin ihr nicht erzählt, dass sie sich seit Wochen manchmal heimlich mit ihm traf? Jetzt wird sie den Grund nie erfahren. Lily glaubt nicht, dass Harry Sabine etwas tun würde, aber wenn er so leicht reizbar ist wie im Moment, kann sie nicht zu ihm durchdringen.

Die junge Frau spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht, aber

»Es ist sechs Uhr, Lily. Warum bist du nicht in der Bar?«

»Tut mir leid, ich war bei der Versammlung, die wegen Sabine …«

Die Managerin bringt sie mit einem schnellen Kopfschütteln zum Schweigen. »Das sind natürlich traurige Neuigkeiten, aber sie war auch eine Draufgängerin. Wahrscheinlich hat sie sich in Gefahr gebracht.«

»Nein, so war Sabine nicht.«

»Ich kenne sie zufällig ein bisschen besser als du, aber lass uns jetzt nicht streiten. Die Gäste warten darauf, dass sie bedient werden.« Sie trommelt mit ihren langen Fingernägeln auf den Türrahmen. »Darf ich kurz reinkommen?«

Lily ist peinlich berührt wegen der Unordnung, die in ihrem Zimmer herrscht, doch die Managerin scheint davon keine Notiz zu nehmen.

»Stell dich hierher, Lily.« Rhianna dirigiert sie vor den Spiegel und begutachtet ihr Aussehen. »Ich hab mir neulich mal deinen Lebenslauf genauer angeschaut. Du hast nur gute Noten. Warum gehst du nicht zur Uni?«

»Ich habe kein Studiendarlehen bewilligt bekommen«, antwortet Lily leise.

»Du kannst es auch ohne Studienabschluss weit bringen, allerdings solltest du mehr Mühe auf dein Äußeres verwenden.« Rhianna streicht Lily die Haare aus der Stirn.

Lily nickt, aber sie fühlt sich erbärmlich. Rhiannas Haare glänzen im Spiegel wie Gold, ihre eigenen dagegen sehen kraftlos und matt aus.

»Braves Mädchen, dann mach dich mal an die Arbeit. Du brauchst ein bisschen Rouge, du bist schrecklich blass.« Rhiannas herzförmiger Mund verzieht sich zu einem Lächeln. »Schön, dass wir ein bisschen geplaudert haben.«

Lily hört, wie die Tür sich mit einem Klicken schließt, und sinkt zurück aufs Bett. Die Kritik der Managerin an ihrem Äußeren war wie ein Schlag ins Gesicht, aber immerhin sind ihre Tränen jetzt versiegt. Um Mut zu fassen, betrachtet sie eines der Fotos auf Sabines Handy. Es zeigt ihre Freundin jung und sorglos am Strand; ihr Lächeln ist wie eine Einladung an den Betrachter, ihr Glück zu teilen.

»Was soll ich tun?«, fragt Lily leise, aber Sabines Miene auf dem Display bleibt unverändert.

Lily lässt das Handy zurück in ihre Tasche gleiten wie einen Talisman, bevor sie sich erneut dem Spiegel zuwendet.