Als wir wieder im Polizeirevier sind, rollt Shadow sich unter meinen Schreibtisch zusammen und ignoriert die hektische Aktivität um ihn herum. Madrons Büro wirkt überfüllt, als meine drei Officer um neunzehn Uhr hereinkommen, damit wir uns noch ein letztes Mal für heute auf den neuesten Stand bringen können. Obwohl Eddie pausenlos gearbeitet hat, seit wir Sabine am Morgen gefunden haben, ist er immer noch engagiert bei der Sache. Er hat den ganzen Nachmittag versucht, ihr Handy zu orten, während Lawrie und Isla dabei sind, die Liste der potenziellen Verdächtigen zu reduzieren. Die Statistik besagt, dass Morde in der Regel von Männern zwischen achtzehn und fünfundvierzig begangen werden, die häufig bereits wegen früherer Gewalttaten vorbestraft sind. Auf St. Mary’s gibt es allerdings wenige offensichtliche Kandidaten. Wenn Sabine einen Freund hatte, wie der Pfarrer behauptet, dann hat sie die Beziehung gut verborgen. Weil ihre Leiche als Braut ausstaffiert war, mit Make-up und allem Drum und Dran, frage ich mich, ob nicht auch eine Frau mit Liebe fürs Detail die Mörderin sein könnte. Die Tat war komplex und perfekt organisiert. Wer auch immer sie begangen hat, hat letztes Jahr bereits einen Diebstahl in einem winzigen Museum riskiert – und zwar am 3. August laut unserer dünnen Akte zu dem Fall – und dann genau ein Jahr abgewartet, bis er Sabine umgebracht hat. Das Datum muss etwas zu bedeuten haben, aber ich komme nicht dahinter, was.
Eddie zeigt uns aufgeregt eine Karte auf seinem Laptop. Er hat die GPS-Koordinaten des Mobilfunknetzes und die Position der Mobilfunkmasten auf der Insel genutzt, um Sabines Handy mittels Triangulation zu orten.
»Es muss angeschaltet sein, sonst würde es nicht angezeigt. Ihr Handy befindet sich definitiv auf dem Garrison, aber der Ort kann nicht punktgenau lokalisiert werden. Es kann im Hotel oder in dessen Außenanlagen liegen; sie könnte es verloren haben, als sie das Gebäude verließ. Wir müssen es finden, bevor der Akku vollständig leer ist.«
Der junge Sergeant sprudelt die Details so begeistert hervor, als wäre die Mörderjagd der Höhepunkt seines Berufslebens. Ich bitte ihn, das Gebiet heute Abend noch vor Anbruch der Dämmerung mit einigen vertrauenswürdigen Helfern abzusuchen. Diese Aufgabe duldet keinen Aufschub: Wenn der Akku einmal leer ist, können wir das Handy nicht mehr aufspüren.
Als Lawrie Deane uns die neuesten Informationen vorträgt, klingt es, als wäre seine Zunge bleischwer. Er spricht schleppend und mit einem derart breiten kornischen Akzent, als hätte er mit Clotted Cream gegurgelt. Deane hat zwanzig Jahre gebraucht, um zum Sergeant aufzusteigen, und er bewegt sich ungefähr genauso langsam, wie seine Karriere voranschreitet, aber er ist ein großes Organisationstalent. Er hat bereits Unterkünfte für mich, Eddie und Liz Gannick aufgetan. Da eine Hochzeitsfeier abgesagt wurde, haben Tom und Rhianna Polkerris noch reichlich Platz im Star Castle Hotel und stellen uns die Zimmer kostenlos zur Verfügung. Ich bin froh, dass wir an Sabines Arbeitsplatz unterkommen, denn ich muss dringend herausfinden, womit genau sie dort ihre Zeit verbracht hat.
Isla hat einen dicken Stapel von Zetteln dabei, so als hätte sie sich den ganzen Tag lang Notizen gemacht. Sie ist gleich nach Abschluss ihres Jurastudiums in den Polizeidienst eingetreten und wollte lieber zurück auf die Scilly-Inseln, als ihre juristische Ausbildung fortzusetzen, obwohl sie als Anwältin in Zukunft sicher besser verdient hätte. Sie lauscht die ganze Zeit schweigend, als würde sie eine Meisterklasse besuchen. Die Ereignisse des Tages haben ihren Tribut von ihr gefordert, denn sie sieht müde aus, als ich sie um ihr Update bitte.
»Das Kleid ist aus einem Laden namens Bridal Harmony in Truro. Es wurde vor drei Jahren hergestellt, weshalb davon auszugehen ist, dass der Täter es secondhand gekauft hat. Falls er es über eBay erstanden hat, müsste ich rausfinden können, wer der Käufer ist.« Sie blättert durch ihre Zettel. »Bei den Ohrringen hatte ich mehr Glück. Sie sind vergoldet – ein Mann namens Liam Trewin hat sie vor drei Tagen in dem Geschenkartikelladen an den Abbey Gardens gekauft und mit Kreditkarte bezahlt.«
»Er ist noch hier?«
Sie nickt. »Er wohnt im Star Castle. Nach dem, was man so hört, ist er ein ziemlicher Idiot.«
»Sagt wer?«
»Die Ladeninhaberin beschrieb ihn als Widerling. Er hat sich an die Kellnerinnen im Café rangeschmissen und mit seiner Herkunft von den Inseln geprahlt.«
»Gute Arbeit, Isla. Ich werde ihn noch heute aufsuchen. Sabine und du, ihr standet euch nahe, oder?«
Sie senkt den Blick und starrt auf die polierte Oberfläche von Madrons Schreibtisch. »Wir waren ein paarmal zusammen im Atlantic, was trinken. Das war ihre Idee, nicht meine. Sie studierte Sprachen in Riga und wollte sich gern mit Muttersprachlern unterhalten, um ihr Englisch zu verbessern.«
»Hatte sie einen Freund?«
»Sie war nicht auf der Suche.« Islas Stimme schwankt. »Sabine wollte einfach ihren Spaß haben.«
»Hat sie Ihnen denn nichts Privates erzählt?«
»Irgendein Typ im Hotel hat sie bedrängt, aber sie hat seinen Namen nie erwähnt.«
»Vielleicht war es Trewin. Tom Polkerris wusste nichts Privates über sie. Hatte sie mit irgendwem von der Arbeit engeren Kontakt?«
»Sabine mochte Lily Jago sehr gern, dabei sind die beiden ziemlich gegensätzlich. Sabine war die Stimmungskanone, Lily ist dagegen superschüchtern.«
Mit Lilys Bruder Harry hatte ich schon häufiger zu tun. Der junge Mann hat wenig Freunde auf der Insel; er bekommt immer wieder Ärger wegen Trunkenheit und Ruhestörung, aber seine Schwester scheint die Reifere von beiden zu sein. Islas Sitzhaltung verrät eine große innere Anspannung, und ich bin davon überzeugt, dass sie etwas weiß, was sie in großer Runde nicht sagen will. Also bitte ich sie, nach der Besprechung noch kurz dazubleiben. Sie rutscht unbehaglich auf ihrem Stuhl herum, während ich warte, bis sich die Tür geschlossen hat.
»Sabine und Sie müssen doch auch über persönliche Dinge gesprochen haben, Isla. Erinnern Sie sich nicht mehr, was sie gesagt hat?«
»Sie hat hauptsächlich von ihrem Leben zu Hause und von den Orten gesprochen, an denen sie schon war. Und sie wollte Infos über Jobmöglichkeiten im Vereinigten Königreich.«
»Machte sie nie den Eindruck, verängstigt zu sein?«
Isla schüttelt heftig den Kopf. »Sabine war super unbeschwert; ich glaube, sie hat überall, wo sie hinkam, sofort Leute kennengelernt.«
»Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt, lassen Sie uns morgen früh noch mal sprechen. Jetzt ist es Zeit, dass Sie nach Hause kommen. Sie haben zwölf Stunden durchgearbeitet.«
Die Polizistin erhebt sich widerstrebend, so als würde sie lieber weiter nach dem Mörder ihrer Freundin suchen, aber draußen setzt die Dämmerung ein.
»Wie kommen Sie zurück nach Old Town?«
Islas Familie wohnt eine halbe Meile weiter die Küste hoch, aber sie schaut mich verdutzt an. »Zu Fuß, wie immer.«
»Ich bringe Sie.«
»Nein, danke, Sir. Die Bewegung wird mir guttun.«
»Das ist eine Anweisung, kein Angebot. Sabines Mörder läuft noch immer frei herum, und es wird bald dunkel.«
»Ich habe drei Selbstverteidigungskurse absolviert.« Sie schaut mich an, als wäre ich der Schlimmste aller Väter.
»Super, aber wir nehmen trotzdem den Transporter. Sie können gern fahren, wenn Ihnen das lieber ist.«
Sie nickt widerstrebend. »Sie glauben, es passiert wieder, oder, Sir?«
Sabines verängstigtes Gesicht auf dem Polaroidfoto hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt wie ein schlechtes Tattoo. »Möglich wäre es. Wenn wir nicht bald herausfinden, wer es war. Nach allem, was wir wissen, sucht der Täter nach einem passenden Bräutigam für seine Braut.«
»Männer sind also auch in Gefahr?«
»Bis wir den Mörder gefunden haben, sollte jeder gut auf sich achtgeben.«
Als wir das Gebäude verlassen, sieht Isla noch immer unangenehm berührt aus. Mir würde es an ihrer Stelle nicht anders gehen, aber eine junge Polizistin nach einem brutalen Mord allein nach Hause laufen zu lassen, das wäre fahrlässig. Sie sagt kein Wort, während wir Richtung Old Town fahren, und ich sehe davon ab, ihr weitere Fragen zu stellen. Ich werde warten müssen, bis sie mir von selbst sagt, was ihr auf der Seele liegt. Sturheit ist ein weit verbreiteter Charakterzug auf der Insel; die alte Gewohnheit, für uns selbst zu sorgen, führt dazu, dass wir zögern, Geheimnisse preiszugeben.
Als sie vor ihrem Zuhause anhält, verspüre ich einen Anflug von Neid. Islas Eltern besitzen ein schönes freistehendes Haus am Strand von Old Town. Es ist im typischen Architekturstil der Inseln und aus regionalem Gestein erbaut, mit seinen bunten Fensterläden und dem Schieferdach aber in einem weitaus besseren Zustand als mein Haus auf Bryher. Im Vorgarten wächst ein Meer von Blumen, das bis auf den Fußweg schwappt. Die Bank neben der Haustür ist der ideale Ort, um auf den Ozean zu schauen und Leute zu beobachten, wenn im Sommer Hunderte Spaziergänger mittags in dem örtlichen Café einkehren, bevor sie weiter Richtung Norden an der Küste entlanglaufen.
Isla murmelt einen knappen Abschiedsgruß, und ich will schon losfahren, als ihre Mutter auf der Treppe vor dem Haus erscheint. Ich sollte eigentlich zurück aufs Revier fahren, um das morgige Arbeitspensum zu planen, doch meine gute Erziehung zwingt mich jetzt, wenigstens kurz auszusteigen. Ginny Tremayne wirkt erstaunt, als ihre Tochter ohne ein Wort an ihr vorbeistürmt, aber Isla wird heute Abend sicherlich noch mit ihrer Mutter sprechen. Ginny ist gut darin, andere zu trösten, nicht nur in ihrem Job als Ärztin, sondern bei allen, die sie trifft. Sie macht einen weitaus entspannteren Eindruck als ihre Tochter. Sie ist füllig, hat graues, hochgestecktes Haar und trägt ein ausgeblichenes Sommerkleid. Ihre Haut ist von stundenlanger Gartenarbeit gebräunt. Zaghaft erkundigt sie sich nach dem Fall.
»Tut mir leid, dass ich nicht bei der Versammlung war; ich hatte Dienst im Krankenhaus und kam nicht weg.« Ginny leitet, seit ich denken kann, das kleine Ärzteteam der Insel.
Ich erzähle ihr, dass Isla sich gut schlägt; sie nimmt ihren Job ernst, und ihre Aufmerksamkeit für Details macht sie zur idealen Polizistin. Ginny hört mit einigem Stolz, dass ihre Tochter die neue Aufgabe bestens bewältigt. Ihr Ehemann ist Ingenieur und arbeitet für einige Wochen auswärts, aber sie will ihn später anrufen, um ihm zu erzählen, was passiert ist. Als ich mich verabschiede, erblicke ich in einem der Erdgeschossfenster des Nachbarhauses ein bekanntes Gesicht. Jeff Pendelow wohnt dort schon seit dreißig Jahren, ist aber allein, seit seine Ehefrau vor drei Monaten ins Krankenhaus aufs Festland musste. Er war ein alter Freund meines Vaters und hat bis zu seiner Pensionierung Anfang des Jahres als Psychologe gearbeitet. Er winkt mir zu und wendet sich dann wieder seinem Notebook zu, in das er etwas eintippt.
»Jeff würde sich sicher über einen Besuch von Ihnen freuen«, sagt Ginny. »Der arme Kerl hängt zu Hause fest. Er kann nicht mal spazieren fahren. Seit seine Frau krank ist, geht’s ihm nicht besonders, und jetzt hat er auch noch üble Rückenschmerzen.«
»Wann kommt Val denn wieder nach Hause?«
Es entsteht eine Pause, bevor sie antwortet: »Sie hat ein frühes Stadium von Alzheimer. Jeff wollte sie unbedingt bei sich behalten, aber sie braucht fachärztliche Betreuung und wird dauerhaft in einem Pflegeheim in Penzance bleiben müssen.«
Ich würde heute Abend lieber keine Krankenbesuche mehr machen, aber nach dieser Nachricht kann ich nicht einfach weiterfahren, als wenn nichts wäre. Höflichkeit ist das Lebenselixier der Insel und sorgt zu neunzig Prozent dafür, dass nachbarschaftliche Beziehungen intakt bleiben. Nachdem ich mich von Ginny verabschiedet habe, gehe ich auf Jeffs Grundstücks hinüber, wobei mir auffällt, dass der Vorgarten von Unkraut überwuchert ist. Seine Tamarisken haben bereits die Ausmaße von Bäumen. Als ich an die Tür klopfe, schwingt sie von selbst auf. Wie die meisten Inselbewohner ist Jeff nicht um seine Sicherheit besorgt, da hier so gut wie nie eingebrochen wird. Pendelows Flur offenbart die Kluft zwischen seinem Berufs- und seinem Privatleben. An der Wand hängen akademische Zeugnisse und Urkunden, die seine Eignung zum Psychologen belegen, neben einer Reihe von Fotos, die auf seinen Hochseeangelreisen entstanden sind. Schon in meiner Kindheit war er ein begeisterter Angler. Er ist jahrelang zwischen der Insel und dem Festland gependelt, wo er unter der Woche am Plymouth Hospital arbeitete. Die größten Fotos zeigen jedoch seine Frau, und plötzlich stürmen viele Erinnerungen auf mich ein. Valerie Pendelow mochte ich als Kind ausnehmend gern. Sie arbeitete als Köchin im Old Town Inn und hat meinen Bruder und mich immer mit den tollsten Kuchen und Keksen verwöhnt. Zusammen mit meinem Vater haben wir viele Nachmittage in diesem Haus verbracht. Die beiden Männer tranken dann Bier und spielten Schach, während mein Bruder und ich am Strand Drachen steigen ließen oder im Garten Fußball spielten. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht einmal wusste, dass Val die Insel für immer verlassen hat.
Jeff ist auf St. Mary’s geboren und tief hier verwurzelt. Er singt im Gemeindechor, doch heute zittert seine Stimme, als er mich aus dem Wohnzimmer zu sich ruft. Als ich eintrete, liegt er mit seinem Notebook auf dem Schoß auf der Couch. Er ist gealtert seit unserer letzten Begegnung. Ich erinnere mich an Jeff als kräftigen, bärenstarken Typen, der gern lange Spaziergänge unternahm, doch der Schmerz hat ihm tiefe Furchen ins Gesicht gezeichnet. Seine Haare und sein Bart sind bereits schlohweiß, obwohl er nicht viel älter als sechzig sein kann. Mein Vater schwärmte oft von seinem tollen Sinn für Humor, aber davon ist heute nichts zu spüren. Die Halbbrille auf seiner Nase lässt ihn wie einen alten Bibliothekar aussehen.
»Bleib liegen, Jeff. Ich wollte nur schnell Hallo sagen.«
»Schickt Ginny dich, um mich zu bemitleiden? Wenn du sehen würdest, wie ich die Treppe hochgehe, würdest du dich totlachen. Ich brauche zehn Minuten bis zum ersten Absatz.« Sein Gesicht zeigt ein müdes Lächeln, so als wäre sein Gesundheitszustand nicht mehr als ein schlechter Witz.
»Wie ich höre, hängst du hier zu Hause fest.«
»Val war die Autofahrerin, nicht ich. Ich hab nicht mal einen Führerschein.« Er zuckt vor Schmerz zusammen, als er seine Position verändert.
»Hast du was gegen die Schmerzen?«
»Ginny hat mir drei verschiedene Sorten Tabletten gegeben, aber wahrscheinlich ist das ja eh psychosomatisch.«
»Weil du Val vermisst?«
»Solange der Ischias nicht besser wird, kann ich nicht mal aufs Festland fahren, um sie zu besuchen.« Seine Augen werden feucht, doch er blinzelt die Tränen weg. »Wenigstens habe ich eine Menge zu tun. Ich muss mich einen ganzen Monat lang auskurieren, da komme ich endlich dazu, mein Buch fertig zu schreiben.«
»Wovon handelt es denn?«
»Psychosen. Ich habe viele Jahre Patienten mit komplexen Persönlichkeitsstörungen und Wahnvorstellungen behandelt. Der National Health Service hat mir ein Abschiedsgeschenk gemacht, als ich in Pension ging. Sie haben mir den Auftrag erteilt, ein Handbuch für Fachkräfte zu schreiben, die psychische Krankheiten behandeln und zum ersten Mal mit Psychosen zu tun haben.«
»Werden solche Patienten denn je wieder gesund?«
»Dagegen ist kein Kraut gewachsen, aber mit der richtigen Unterstützung und Medikation können sie ihre Symptome regulieren.« Er klingt nüchtern, als er weiterspricht: »Ich habe im Radio gehört, dass eine junge Frau umgebracht wurde. Warst du es, der sie heute Morgen gefunden hat?«
»Ja, aber mein Team war bei mir.«
»Das muss sehr hart gewesen sein für euch alle.« Der ruhige Blick des Psychologen prüft mich auf Anzeichen von Stress.
»In meiner Londoner Zeit hab ich Schlimmeres gesehen.«
»Du bist gut darin, deine Gefühle zu verdrängen wie alle Kittos.« Er lacht und betrachtet mich dann erneut. »Ist schon ein bisschen unheimlich, wie ähnlich du deinem Dad siehst. Ich muss in letzter Zeit häufig an ihn denken.«
Die nächsten zehn Minuten tauschen wir Neuigkeiten aus. Jeff gelingt es, seine Trauer über Vals Abwesenheit zu verbergen, und seine Ruhe und Klugheit sorgen dafür, dass die Anspannung des Tages von mir abfällt. Als mein Blick zum offenen Fenster wandert, geht die Sonne gerade unter. Von der Bucht von Old Town aus blickt man meilenweit aufs offene Meer hinaus; bis nach Land’s End stellt sich den Wellen nichts in den Weg. Diese Aussicht erlaubt es Pendelow, die Gezeiten genau zu studieren, doch jetzt, wo er allein ist, muss die Schönheit des Meeres ihm bedeutungslos erscheinen. Als ich durch ein Fenster auf der anderen Seite des Zimmers schaue, sehe ich, dass im Garten hinter dem Haus schulterhohe Brombeersträucher vor sich hin wuchern; die Natur erobert sich ihren Platz zurück. Er war in der letzten Zeit vermutlich zu sehr damit beschäftigt, seine Frau zu pflegen, um seine Zeit draußen zu verbringen.
»Ich muss los, Jeff. Ich hab noch einiges zu tun, bevor ich für heute Schluss machen kann.«
»Arbeite nicht zu viel«, ermahnt er mich. »Und denk an mich, wenn mal einer aus deinem Team Unterstützung braucht.«
»Danke, Jeff. Vielleicht komme ich darauf zurück.«
»Auch große Kerle wie du können ohne die richtige Therapie in die Knie gehen. Viele Polizisten und Militärangehörige leiden an arbeitsbedingtem Stress.«
»Ich passe auf mich auf, keine Sorge.«
Schließlich entspannt sich seine sorgenvolle Miene. »Dein Vater wäre stolz auf dich, Ben. Das ist dir hoffentlich klar, oder?«
Auf dieses Lob war ich nicht gefasst, und einen Moment lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. Mein Blick wandert zu dem Holzkruzifix über dem Kamin. Als Kind ist es mir nie aufgefallen, aber das Symbol ergibt durchaus Sinn: Hinter Pendelows Wunsch, Menschen in verzweifelten Situationen zu helfen, muss ein starker Glaube stecken. Ich fühle mich ruhiger nach unserem Gespräch, aber die Realität holt mich ein, als ich einige Feriengäste am Sandstrand sehe, die zuschauen, wie die Sonne hinter dem Horizont versinkt. Der Frieden auf der Insel ist eine Illusion. Wenn ich meinen Job nicht gut mache, könnte jeder Urlauber, der hier gerade sein Handtuch und seine Flipflops einpackt, das nächste Opfer des Mörders werden.