Es ist bereits stockdunkel, als ich das Polizeirevier abschließe und den Hügel zum Star Castle Hotel hinaufgehe. Seit den Sandwichs am Mittag habe ich kaum etwas gegessen, aber ich muss mit Liz Gannick sprechen, bevor ich daran etwas ändern kann. Die Chefkriminaltechnikerin hatte viele Stunden Zeit, um allein zu arbeiten, und sie wird Neuigkeiten vom Tatort haben. Shadow rennt voraus, wartet aber am Eingang zum Hotelgelände. Ich binde ihn draußen an und hoffe, dass er nicht die ganze Nacht aus Protest heult.

Die Hotelangestellten müssen inzwischen über Sabines Tod informiert worden sein, aber es sieht so aus, als hätte man ihnen aufgetragen, sich nichts anmerken zu lassen, damit der Mordfall die Gäste nicht verängstigt. Der Hotelportier begrüßt mich mit einem entspannten Lächeln. Er fragt mich nach meinem Gepäck, aber ich habe nicht mal eine Zahnbürste dabei, geschweige denn saubere Kleider. Ray hat versprochen, Eddie und mir morgen ein paar Sachen vorbeizubringen, da wir St. Mary’s nicht verlassen können, bevor der Mörder gefunden ist. Der Portier sagt wenig, während er mich den Flur hinunterführt. Mein Zimmer im ersten Stock ist mit einem Himmelbett und Antiquitäten und der Aussicht auf den endlos weiten Ozean, auf dem schon

Durch die Wand dringt laute Motown-Musik und erinnert mich daran, dass Liz Gannick nebenan wohnt und sich um die friedliche Atmosphäre im Hotel offenkundig keinen Deut schert. Zu Hause höre ich auch oft Musik, vom Rock der Neunziger, mit dem ich aufgewachsen bin, bis hin zu Jazz und klassischer Musik, aber Gannicks Geschmack ist auch nicht schlecht. Stevie Wonder singt »Uptight«, und der Song erscheint passend. Als sie an die Tür kommt, stützt sie sich schwer auf ihre Krücken, aber ihr Blick ist noch immer hellwach und steht voller Fragen. Die Kriminaltechnikerin hat ihre Suite in ein wissenschaftliches Labor verwandelt, inklusive Arbeitstisch, Mikroskop und Fläschchen mit Pulvern und Flüssigkeiten. In der Luft hängt der Geruch von Chemikalien, der mich an die todlangweiligen Chemiestunden in der Schule erinnert.

»Sie hören Ihre Musik offenbar gern laut, Liz. Ich wette, Sie stehen auf Northern Soul.«

»Das will was heißen.«

»Wo haben Sie den ganzen Tag gesteckt? Am Schreibtisch gesessen und Zigarren geraucht?«

»Die Kleinigkeit einer Mordermittlung hat mich auf Trab gehalten. Wir kommen nur langsam voran. Eddie hat mit einigen Freiwilligen den Garrison Hill den ganzen Nachmittag lang nach dem verschwundenen Handy durchkämmt, aber leider vergeblich.« Ich lasse mich auf einen Stuhl am Fenster fallen. »Was haben Sie gefunden?«

Sie reicht mir einen Asservatenbeutel. »Ich hab eine ganze Weile gebraucht, um den da vom Ringfinger der jungen Frau abzukriegen; ihr Knöchel ist stark geschwollen.«

Der Beutel enthält einen goldenen Ehering mit einer Punze auf der Innenseite.

»Er muss alt sein, genau wie das Medaillon«, sagt Gannick. »Und er ist voller Kratzer und Dellen. Aber der Täter war clever und hat keine Spuren hinterlassen. Ich habe jeden Zentimeter dieses Kleides mit UV-Licht abgesucht und absolut nichts gefunden. Es wurde mit Chemikalien aus einer Textilreinigung durchtränkt, so dass es darauf weder ein Haar noch irgendeine Faser von seinen Kleidern gibt. Wahrscheinlich trug er einen Overall und Maske, als er an die Arbeit ging. Ich brauche das Labor in Penzance, um zu überprüfen, ob das Blut auf den Ärmeln des Hochzeitskleids von Sabine stammt; es könnten Reibungsverbrennungen von dem Seil sein. Ansonsten gibt es kaum Flecken.«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich hoffe, das Labor findet was in den Proben, die ich genommen habe. Ich möchte das Kleid morgen rüberfliegen lassen, damit es untersucht werden kann. Heutzutage können wir auch von Stoffen Fingerabdrücke nehmen, aber nicht mit der Basisausrüstung, die ich hier habe.«

»Und wie funktioniert das?«

»Durch Bedampfung mit Jod. Die Chemikalie wird erhitzt, so dass Dämpfe abgegeben werden, die sich an die fettigen Substanzen von Fingerabdrücken anlagern, welche auf diese Art sichtbar werden und fotografiert werden können.«

»Wenn der Täter so vorsichtig ist, wird es keine Spuren geben, hab ich recht?«

»Dermaßen sauber und ordentlich arbeitet niemand.«

Ich schaue in den funkelnden Nachthimmel über uns. »Der Mistkerl ist fest entschlossen, sich nicht erwischen zu lassen, und ich wette, Sabines Handy wurde irgendwo vergraben.«

Gannick ist zu beschäftigt, um mir zu antworten. »Auf dem Kleid ist noch ein anderer Fleck. Eine Spur von Motoröl.«

»Und das bedeutet – was?«

»Sie wurde in den Kofferraum eines Autos geladen. Ich könnte mir vorstellen, dass er mit einer Plastikfolie ausgelegt war, aber der Saum ist am Kofferraumdeckel hängen geblieben.«

»Er hat also am Leuchtturm auf sie gewartet?«

»Das kann ich noch nicht beweisen. Es sieht so aus, als hätte der Täter sie in einer sauberen Umgebung

Das fügt Sabines Leiden noch einen weiteren Aspekt hinzu. War sie tot oder lebendig, als dieser Kofferraumdeckel nur wenige Zentimeter über ihrem Gesicht zuschlug? Sie könnte stundenlang um Hilfe geschrien haben. Ich füge die Details zusammen, während Gannick mir Fotos von undeutlichen Fußspuren am Tatort zeigt, die wertvolle Beweise sein oder aber von Touristen stammen können, die in den letzten Tagen über den Küstenpfad gelaufen sind. Wie es aussieht, hat der Täter Sabine überwältigt und an einen sauberen Ort gebracht, um ihr das Brautkleid anzuziehen. Wer auch immer es war, er tut alles dafür, um seine Identität geheim zu halten, aber einige Aspekte seiner Persönlichkeit treten bereits zutage. Der Mörder ist geübt darin, seine Spuren zu verwischen. Von keinem der Inselbewohner oder Hotelgäste wurde irgendein verdächtiges Verhalten berichtet. Ich habe keine Ahnung, ob der Täter auf Sabine fixiert war oder ob er sein perverses Ritual auch an jedem anderen weiblichen Opfer durchexerziert hätte.

Gannick ist wieder über ihr Mikroskop gebeugt und untersucht Erdkörnchen vom Tatort. Sie presst entschlossen die Lippen aufeinander, während die Supremes das nächste Lied schmettern. Normalerweise bekomme ich von der schwungvollen Musik Lust, aufzustehen und zu tanzen, vorzugsweise, wenn es niemand sieht, doch heute Abend erinnert sie mich nur daran, wie viele Partys Sabine Bertans verpasst, weil ihr Leben zu früh beendet wurde.

Es ist zweiundzwanzig Uhr, als ich die Bar im Kellergeschoss des Hotels betrete. Der niedrige Raum hat heute nur noch wenig Ähnlichkeit mit einem Verlies, aber in

Mein Blick bleibt an einem blonden Typen auf der anderen Seite der Bar hängen. Er tut so, als würde er Zeitung lesen, um sein Interesse an der Kellnerin zu verschleiern. Der Mann verwickelt die junge Frau in ein Gespräch, aber obwohl sie bald wieder in der Küche verschwindet, scheint ihre Zurückweisung ihn nicht zu entmutigen. Bei der nächsten Kellnerin, die zu ihm geht, um ihm einen Brandy zu servieren, versucht

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, frage ich. »Ich trinke nur sehr ungern allein.«

»Natürlich, mein Freund, aber ich wollte eigentlich gleich schlafen gehen.«

Er hat einen gepflegten amerikanischen Akzent mit einem britischen Einschlag, was so klingt, als wäre nicht ganz klar, wo seine Loyalität liegt. Seine kurzen Haare sind so sauber, dass sie glänzen. Erst bei genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass er eine kosmetische Operation hinter sich hat. Seine Haut sitzt straff auf den Wangenknochen, und seine Stirn weist nicht eine Falte auf.

»Ich bin DI Ben Kitto, und Sie sind Mr. Trewin. Hab ich recht?«

Er blickt mich erstaunt an. »Sagen Sie Liam. Es hat mir sehr leidgetan, zu hören, dass Sabine nicht mehr lebt.«

»Aber auf meiner Versammlung waren Sie nicht.«

»Ich habe eine Inselrundfahrt gemacht. Ein anderer Hotelgast hat mir heute Nachmittag davon erzählt.«

»Wie gut kannten Sie Sabine?«

»Nicht besser als die anderen.« Seine Hand legt sich so fest um das Brandyglas, dass seine Fingerspitzen weiß werden. »Mit den meisten Angestellten hier bin ich per Du. Ich war letztes Jahr schon mal hier – ich liebe dieses Hotel.«

»Wie furchtbar.« Seine Augenlider flattern. »Kurz nach meiner Ankunft erwähnte sie, dass sie Geburtstag hatte. Manchmal mache ich kleine Geschenke, statt Trinkgeld zu geben – das fühlt sich persönlicher an.«

»Haben Sie ihr sonst noch was geschenkt?«

»Nichts von Wert.« Als er weiterspricht, scheint er sich noch unbehaglicher zu fühlen. »Nur ein paar Blumen und eine Flasche Champagner.«

»Sind Sie verheiratet, Liam?«

»Warum fragen Sie?«

»Ich kann es leicht nachprüfen.«

Seine Miene verfinstert sich. »Ich bin seit letztem Jahr geschieden.«

»Tut mir leid, das zu hören. Nur eine Frage noch, dann lasse ich Sie in Ruhe. Wann haben Sie Ihren Mietwagen abgeholt?«

»Gestern, und heute Nachmittag wieder zurückgebracht.« Endlich schaut er mir in die Augen. »Das klingt jetzt wahrscheinlich herzlos, aber wissen Sie schon, wann ich nach Hause fliegen kann? Ich hab zu Hause in Florida was Geschäftliches zu erledigen.«

»Eine junge Frau, die Sie mit Geschenken überhäuft haben, wurde gerade ermordet, Mr. Trewin. Ich fürchte, ich kann Ihnen da keinen genauen Zeitpunkt nennen.«

Er sagt nichts mehr, aber auf seiner Oberlippe haben sich Schweißperlen gebildet. Als ich ihm eine Gute Nacht wünsche, reagiert er kaum, und als ich mich noch mal nach ihm umdrehe, hat sich seine Körpersprache verändert. Trewin hält den Kopf gesenkt und zeigt kein Interesse mehr an

Als ich aus der Bar hochkomme, entdecke ich Lily Jago auf einer niedrigen Mauer neben dem Hoteleingang. Ihr Gesicht wird vom Licht ihres Handydisplays erhellt, und sie trägt eine Arbeitsuniform. Die zierliche junge Frau hat die Schultern hochgezogen, ihr Bob fällt ihr unordentlich ins Gesicht. Mit unglücklicher Miene liest sie ihre Nachrichten. Als sie mich sieht, lässt sie fast das Handy fallen und steckt es dann schnell ein. Ich erinnere mich noch, wie ängstlich sie schien, als ihr Bruder nach seiner Haftentlassung zu seinem ersten Bewährungsgespräch kam. Sie war damals derart um sein Wohl besorgt, dass ich den einzigen hauptberuflichen Sozialarbeiter der Insel gebeten habe, die beiden zu Hause zu besuchen. Aber auch jetzt wirkt sie sehr verletzlich auf mich. Ihre angespannte Körpersprache weckt mein Mitgefühl. Sie hatte ein schlechtes Jahr, seitdem ihre Mutter an Krebs gestorben ist: Ihr Vater verbüßt eine lange Haftstrafe auf dem Festland, auf Harry ist kein Verlass, und jetzt wurde auch noch eine gute Freundin von ihr ermordet. Sie steht eilig auf, als sie mich sieht, und wirkt wie ein gehetztes Reh.

»Sie brauchen nicht wegzulaufen, Lily. Ich bin nicht hier, um Sie festzunehmen.«

»Meine Pause ist vorbei, ich sollte wieder an die Arbeit gehen.«

»Bitte bleiben Sie, nur ganz kurz. Wie ich höre, waren Sie

»Sie hatte keine Feinde hier.«

»Hatte sie denn einen Freund? Oder mehrere?«

Die junge Frau streicht sich eine Locke aus dem Gesicht, ihre Hand zittert. »Sabine war Single. Sie wusste ja, dass sie bald wieder nach Hause fliegt.«

Ich reiche ihr meine Karte. »Wenn Ihnen noch was einfällt, rufen Sie mich an. Sie möchten doch sicher, dass wir den Mörder Ihrer Freundin finden, oder?«

»Ja, unbedingt.« Ihr stehen Tränen in den Augen, als sie sich abwendet.

Lily verschwindet im Gebäude, und zurück bleibt nur der Geruch von Angst und der Duft eines billigen Shampoos. Ich bin mir fast sicher, dass sie diejenige war, die sich im Flur versteckt hat, als ich Sabines Zimmer durchsucht habe. Ihre Nervosität könnte ein Zeichen dafür sein, dass sie etwas verbirgt; oder aber sie ist zu erschüttert, um über den Tod ihrer Freundin sprechen zu können. Ich habe das Gefühl, dass sie kollabieren würde, wenn ich sie unter Druck setze.

Als ich wieder in mein Zimmer komme, blinkt mein Bildschirm, und nachdem ich auf den Skype-Button geklickt habe, erscheint das Gesicht meines Bosses. DCI Madrons einziges Zugeständnis an die Ferienstimmung ist, dass er statt Anzugjacke und Krawatte ein bis oben hin zugeknöpftes Polohemd trägt. Seine grauen Haare sind so ordentlich gekämmt, dass der Scheitel mit einem Lineal gezogen worden sein könnte. Am liebsten würde ich ihm gar nichts von dem Mord an Sabine erzählen, aber die Zeitungen werden morgen darüber berichten. Er klingt total wütend, als er schließlich reagiert.

»Wir hatten sehr viel zu tun, Sir. Ich wollte es morgen früh gleich nachholen.«

»Ich sollte über jeden Schritt informiert werden.«

»Wir befolgen alle Vorschriften, das kann ich Ihnen versichern.«

»Vergessen Sie unsere Hilfspolizisten nicht, wenn Sie zusätzliches Personal brauchen.« Alan Madron betrachtet mich kritisch. »Und rasieren Sie sich, um Himmels willen, bevor Sie morgen wieder an die Arbeit gehen. Warum sollten die Leute einem Kerl vertrauen, der wie ein Landstreicher aussieht?«

Seit der DCI mich im letzten Jahr zu seinem Stellvertreter ernannt hat, beklagt er sich ständig über meine Weigerung, Uniform zu tragen. Die nächsten zehn Minuten quält er mich mit verfahrenstechnischen Fragen, bevor er schließlich einlenkt.

»Ich will nicht, dass Sie irgendwelche Abkürzungen nehmen, Kitto, und vor allem sorgen Sie für die Sicherheit der Insulaner!«

Wutschnaubend fahre ich den Computer herunter. Es nervt mich zu Tode, dass mein Boss bei jeder Gelegenheit auf die Bremse tritt. Liz Gannicks Musik ist zu einem dezenten Geräuschpegel heruntergedreht, und leise Bässe sickern durch die Wand. Ich würde jede Wette eingehen, dass sie auch um Mitternacht noch über ihrem Mikroskop hängt und nach vereinzelten Molekülen sucht, die die Identität des Mörders verraten. Als ich gerade unter die Bettdecke kriechen will, dringt das nächste unliebsame Geräusch an mein Ohr: Shadow heult aus Leibeskräften. Es ist ein

Der Hund wirft mir einen unschuldigen Blick zu, bevor er sich zufrieden auf einer Decke in der Ecke zusammenrollt und kurz darauf zu schnarchen beginnt. Als ich das Licht ausschalte, ist es still geworden im Hotel, aber meine Augen bleiben offen. Nur in Momenten wie diesen wird mir meine Einsamkeit bewusst. An entspannten Tagen, wenn das Alleinsein sich manchmal wie ein Luxus anfühlt, kann ich sie leicht ignorieren, aber heute Nacht ist sie ein unliebsamer Gast. Nach Ninas Abreise fühlte ich mich monatelang allein und verlassen, und jetzt, wo ich sie fast vergessen hatte, taucht sie plötzlich wieder auf. Ich kann meinem Leben als Single durchaus etwas abgewinnen, aber heute Nacht könnte ich jemanden gebrauchen, der sich meine Ängste anhört. Durch die Vorhänge dringt schwaches Sternenlicht, und das Wissen, dass Sabines Mörder immer noch auf der Insel herumläuft, liegt mir wie ein Bleigewicht mitten auf der Brust.