Kurz nach Tagesanbruch rasiere ich mich gründlich. Zu den Toilettenartikeln in meinem gut ausgestatteten Hotelbadezimmer gehört auch ein Rasierer, trotzdem sehe ich wütend aus, als ich mich im Spiegel betrachte. Sabines Tod und die Nörgeleien des DCI machen mich missmutig, und meine grünen Augen blicken mich so finster an, als könnte der schwarzhaarige Riese in dem Spiegel jede Sekunde durch das Glas boxen. Ich zwinge mich zu einem schnellen Work-out und mache Push-ups, bis meine Muskeln brennen, denn bis zur Aufklärung des Falles werde ich kaum mehr Zeit für Sport haben. Als ich die Vorhänge zurückziehe, ist der Himmel postkartenblau, und auf Round Island in der Ferne scheint die Sonne. Die Cottages von Hugh Town ziehen sich in grauen Reihen bis zum Hafen hinunter, wo Krabbenfischer gerade ihren Fang ausladen. In einer idealen Welt könnte ich hier stehen bleiben und zusehen, wie das Wasser zurückweicht, aber Shadow kann es kaum erwarten, an die frische Luft zu kommen. Mir würde es auch nicht schaden, eine große Runde zu joggen, aber ich habe keine Zeit, ein bisschen mehr von dem Adrenalin zu verbrauchen, das meinen Körper seit Sabines Tod flutet. Ich muss früh auf dem Revier sein, um die Aufgaben meiner Mitarbeiter zu planen, bevor das Team kommt.
Aus den anderen Hotelzimmern dringen nur wenige Geräusche, als Shadow über die Hintertreppe nach unten flitzt. Sobald wir draußen sind, rennt der Hund in seiner üblichen Begeisterung voraus. Ich mache einen schnellen Umweg über den Kai, wo die Fischer Reusen und Hummerkörbe aufgestapelt haben. Die Luft ist warm, es stinkt nach Fischeingeweiden, Salzwasser und Algen, und Shadow ist in seinem Element. Erst als ich die Tür zum Polizeirevier aufschließe, kreuzt er wieder auf und bettelt um Futter, doch über die trockenen Hundekuchen, die ich in seinen Napf im Hof schütte, rümpft er angeekelt die Schnauze.
»Du bist kein Mensch, schon vergessen? Also erwarte nicht, dass du ständig Beefsteak bekommst«, rate ich ihm, bevor ich wieder hineingehe.
Die Magnettafel hängt voller Fotos vom gestrigen Tatort, aber welchen Sinn das Ganze haben soll, lässt sich einfach nicht erkennen. Irgendjemand auf der Insel hat Sabine genügend gehasst, um sie auf bizarre, ritualisierte Weise zu töten, zu fotografieren und in ein Brautkleid zu zwängen. Ich verstehe nicht, warum die Leute, die sie am besten kannten, nicht reden wollen. Sie hat ihrem Pfarrer anvertraut, dass sie einen neuen Partner hatte, seine Identität jedoch nicht preisgegeben. Es ist noch unklar, ob der Mörder jemand ist, mit dem sie geschlafen hat, oder ein Psychopath mit einer seltsamen Obsession. Wenn er schon immer auf den Inseln lebte, könnte er ihre Unabhängigkeit und Furchtlosigkeit besonders gehasst haben. Die einzigen Beweisstücke, die er hinterlassen hat, sind ihr Schmuck, ein einzelnes Polaroidfoto und eine seltsame Gedichtzeile. Als ich mir das Foto noch einmal anschaue, bemerke ich, dass Sabines Haut im Blitzlicht der Kamera fast farblos wirkt. Der Täter muss viel Zeit darauf verwendet haben, Lippenstift und Lidschatten auf ihr Gesicht aufzutragen, wie ein Bestatter, der eine Leiche herrichtet.
Als Nächstes gehe ich die Papiere und Zettel durch, die ich aus Sabines Zimmer mitgenommen habe. Darauf stehen mit blauer Tinte die Flugdaten ihrer Heimreise ab London und eine Liste mit Orten, die sie während ihrer letzten Woche im Land noch besuchen wollte, unter anderem die Tate Gallery und den Buckingham Palast. Ganz unten in dem Stapel liegt eine Postkarte an ihre Eltern in Riga. Ihre Sätze klingen fröhlich und zuversichtlich, dann folgt eine Reihe von Küssen, aber irgendetwas an dieser Karte lässt mich stutzen. Als ich Sabines Schrift mit der auf dem Umschlag des Mörders und auf der Rückseite des Polaroidfotos vergleiche, sehen sie identisch aus. Vielleicht wurde Sabine ja gezwungen, den Satz »Die Braut trägt heute ihr Geschmeide, auf ewig schön im weißen Kleide« irgendwo abzuschreiben und dann den Umschlag mit knallrotem Filzstift zu beschriften, was aussieht, als hätte sie ihren Stift in Blut getaucht.
»Du kranker Mistkerl«, murmele ich leise.
Shadow winselt, er hat den Kopf schiefgelegt und schaut mich aufmerksam an. Ich weiß nicht, ob ich es toll oder nervig finden soll, dass er immer genau versteht, in welcher Stimmung ich gerade bin. Ich bedeute ihm, sich hinzulegen, und wende mich dem Schmuck zu, der bei Sabine gefunden wurde. Ich weiß inzwischen, dass die Ohrringe, die sie trug, ein Geschenk von Liam Trewin waren und dass das Medaillon aus dem hiesigen Museum gestohlen wurde. Woher der Ehering stammt, den der Täter ihr mit Gewalt an den Finger gesteckt hat, bleibt jedoch ein Rätsel. Die Gegenstände könnten eine symbolische Bedeutung haben, die mit dieser makabren Hochzeitszeremonie zusammenhängt. Ich habe Lawrie Deane gebeten, die Personenstandsregister der Insel auf Geburten, Eheschließungen und Todesfälle an einem 3. August zu durchforsten, damit wir herausfinden, ob es mit diesem Datum für einen der Einwohner eine besondere Bewandtnis hat, doch bislang hat er nichts gefunden. Wir können noch nicht wissen, ob der Mörder zu dem Zeitpunkt, als er das Medaillon stahl, bereits den Plan gefasst hatte, eine junge Frau umzubringen. Ich muss wesentlich mehr über den Diebstahl herausfinden.
Das Isles of Scilly Museum liegt wenige Fußminuten vom Polizeirevier entfernt an der Church Street. Der Hund läuft voraus und unternimmt, wann immer er etwas Interessantes erschnuppert, Streifzüge in irgendwelche Vorgärten. Die Straße ist mit den für die Inseln typischen niedrigen Reihenhäusern aus grauem Gestein gesäumt. Früher gehörten sie Fischern, doch heute werden sie zu enormen Preisen an Rentner vom Festland verkauft. Elaine Rawle und ihr Mann Frank wohnen schon seit Jahrzehnten gegenüber vom Museum. Ihr Haus ist größer als die Häuser der Nachbarn und durch einen gepflegten Vorgarten von der Straße getrennt; die Haustür erstrahlt im Glanz eines frischen Anstrichs. Ich drücke auf die Klingel.
Der Mann, der mir öffnet, hat früher sämtliche Kinder der Inseln in Angst und Schrecken versetzt, mich eingeschlossen: Frank Rawle war bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren der Rektor der Five Islands School. Schon zu meiner Schulzeit führte er dort ein strenges Regiment. Bis zum Verbot der Prügelstrafe stand er in dem Ruf, großzügig von seinem Stock Gebrauch zu machen, aber auch danach fürchteten die Schüler sich noch vor ihm. Ich erinnere mich, dass ich einmal in sein Büro zitiert wurde, weil ich mir in allen Fächern außer Englisch und Sport nicht genug Mühe gab. Er sprach mir gegenüber eine strenge Verwarnung aus und riet mir, mehr Rugby zu spielen, was sich als guter Rat erwies. Auch heute scheint mein ehemaliger Rektor noch sehr rüstig zu sein; er hält sich kerzengerade und hat die kurzen grauen Haare aus der Stirn gekämmt, wie eh und je. Allerdings bin ich nun derjenige von uns beiden, der die mächtigere Position bekleidet. Bei größeren öffentlichen Veranstaltungen auf der Insel fungieren er und seine Frau als Hilfspolizisten und müssen meine Anweisungen befolgen. Rawle ist zwar großgewachsen, aber er überragt mich heute nicht mehr, trotzdem wirkt sein faltiges Gesicht immer noch ehrfurchtgebietend. Bevor er mir die Hand gibt, mustert er mich kritisch, so als hätte ich die Schule geschwänzt. Sein schwarzer Labrador taucht neben ihm auf, und unsere Hunde beschnüffeln sich mit der gleichen Vorsicht wie wir.
»Schön, Sie zu sehen, junger Mann. Bringen Sie Shadow mit rein, wenn Sie wollen.«
»Heute nicht, danke, Frank, ich möchte Ihre Frau sprechen. Sie hat mir eine Führung durchs Museum versprochen.«
»Elaine ist gerade drüben. Geht es um den Tod von diesem Mädchen?«
»Ich hoffe auf Informationen über den gestohlenen Schmuck.«
Rawle scheint meine Antwort nicht gehört zu haben. »Welcher Verrückte tut einer Frau so was an? Wenn Sie Hilfe brauchen, bin ich gern zur Stelle.«
»Danke, Frank; kann gut sein, dass ich darauf zurückkomme.«
»Ich habe Eddie geholfen, nach dem Handy der Toten zu suchen, aber das Grundstück rund ums Star Castle ist sauber. Wir haben unter jedem Strauch nachgesehen.«
»Danke, Frank. Die Suche wird heute im Innern des Hotels fortgesetzt.«
»Möchten Sie, dass ich mit ins Museum komme? Ich kenne es wie meine Westentasche.«
Er tritt bereits aus dem Haus und will die Führung übernehmen, wie in alten Zeiten, doch ich bremse ihn höflich aus. »Elaine kann mich auch rumführen, danke. Es wird nicht lange dauern.«
Frank Rawle sieht enttäuscht aus, so als wäre ihm langweilig, wenn seine Frau nicht da ist. Es fühlt sich eigenartig an, ihn mit dem Vornamen anzusprechen, nachdem ich so lange »Sir« sagen musste, aber er ist auf seine alten Tage ein wenig nachsichtiger geworden. Er bleibt auf seiner Veranda stehen und schaut mir nach, als ich die Straße zum Museum überquere. Das Gebäude sieht von außen recht anonym aus; an der Tür klebt ein Werbeplakat, das jedem, der hier seine Wurzeln hat, Hilfe bei der Rückverfolgung seines Stammbaums anbietet. Elaine ist weit und breit nicht zu sehen, und die Sicherheitsmaßnahmen sind trotz des Diebstahls im vergangenen Jahr immer noch ziemlich nachlässig. Die Träger des Museums haben bisher keine Alarmanlage bewilligt.
Das Erdgeschoss des Museums wirkt verlassen. Es riecht nach Staub, feuchtem Segeltuch und Putzmitteln wie an Deck einer gerade frisch gereinigten Yacht. Zeugnisse der Seefahrergeschichte der Inseln zieren die Wände. Vitrinen präsentieren Gegenstände, die von Schiffswracks geborgen wurden – Münzen, Schachteln mit Feuersteinen und rostende Musketen. Eine Schauwand zeigt die Geschichte der Seenotrettung von St. Mary’s von den Ursprüngen, in denen die Retter sogar bei Windstärke neun zu gestrandeten Schiffen hinausruderten, bis heute. Das teuerste Exponat ist jedoch der lebensgroße Nachbau eines viktorianischen Segelschiffs, dessen Rumpf im Keller des Museums steht und dessen Mast und Segel durch das offene Zentrum des Gebäudes aufragen. Als ich mich über das Geländer beuge, um es zu bewundern, sehe ich Elaine gerade einen der Schränke im Untergeschoss polieren. Sie schaut mich an, als wäre sie von meiner Ankunft überrascht, lächelt aber, als ich nach unten gehe.
»Sie sind früh dran«, sagt sie. »Wir öffnen erst um neun.«
»Frank hat mich hergeschickt. Könnten Sie mir zeigen, wo der Schmuck lag, Elaine?«
»Natürlich, die Vitrine steht gleich hier.«
Elaine führt mich an den Auslagen vorbei, die sich seit meiner Kindheit kaum verändert haben. Für eine Frau in den Sechzigern geht sie flott an den zahlreichen Zeugnissen des Lebens auf den Scilly-Inseln seit Beginn der Aufzeichnungen vorbei. Faustkeile und Messer aus der Bronzezeit konkurrieren mit römischen Schwertscheiden um den Platz in den Schränken, und ausgestopfte Seevögel beobachten uns mit glänzenden Augen, als wir vor einer kleinen Glasvitrine stehen bleiben.
»Der Dieb muss genau gewusst haben, was er wollte«, sagt Elaine. »Ich verstehe immer noch nicht, warum nur sechs Stücke gestohlen wurden. Warum hat er nicht alles mitgenommen?«
»Erinnern Sie sich noch daran, was geklaut wurde?«
»Drei Medaillons und drei goldene Ringe. Ich glaube, sie waren alle hier hergestellt worden, aber Julian Power wird mehr darüber wissen. Wir haben Glück, dass ein Experte in unserem Stiftungsrat sitzt.«
»Können Sie mir ein paar der Dinge zeigen, die der Dieb nicht mitgenommen hat?«
Sie holt einen kleinen Goldanhänger in der Form eines Segelschiffs heraus, in den hinten der Name eines Mannes eingraviert ist.
»Hübsch, oder?«, murmelt Elaine. »Die Gravur ist sehr grazil.«
»Warum stiehlt ein Mörder etwas mit so einer langen Geschichte?«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Tut mir leid, ich habe nur laut nachgedacht.«
Ihre Augen sind feucht, als unsere Blicke sich treffen. »Frank und ich sind Sabine ein paarmal begegnet, wenn wir im Star Castle zu Abend gegessen haben. Sie war so ein nettes junges Mädchen.«
»Eine Tragödie für ihre Familie.«
»Sie war noch jünger als unsere Leah.« Elaines Stimme ist nur ein leises Flüstern.
»Ihre Tochter?«
»Ja; wir haben sie vor vielen Jahren verloren.«
»Tut mir leid, das wusste ich nicht.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Ben, Sie waren damals ja noch ein Kind. Sie war zwanzig, als sie starb. Von einem Moment auf den anderen. Erst schien noch alles gut zu sein, und dann war sie plötzlich tot.«
Als ich Elaine an der Schulter berühre, schafft sie es, zu lächeln, doch ihre Miene wird bald wieder angespannt, so als könnte sie diesen großen Verlust auch heute noch nicht begreifen. Sabines Tod scheint ihrer Trauer neue Nahrung zu geben, und ich nehme an, dass es vielen Insulanern ähnlich ergeht. In einer kleinen Gemeinde sind die Leben so eng miteinander verwoben, dass Nachbarn einem wie Verwandte erscheinen, weil man sie jeden Tag sieht.
Ich bleibe noch ein paar Minuten, um das Untergeschoss abzusuchen, und stelle mir vor, wie der Täter die Auslagen durchstöbert hat. Er muss da gestanden haben, wo ich jetzt stehe, und den Geruch der alten Bücher, der Politur und der Putzmittel eingeatmet haben. Es gibt nicht viel zu überprüfen außer einem alten Lagerraum mit Mopps, Besen und Regalen voller alter Ausgaben der Wochenzeitschrift The Cornishman. Mein Blick verharrt auf einem Stapel Pappkartons in einer Ecke des Erdgeschosses, der fast bis zur Decke reicht. Einem Aufkleber entnehme ich, dass die Kartons Gegenstände enthalten, die für eine anstehende Ausstellung über das Leben auf der Insel gespendet wurden, doch sie sind so verstaubt, dass sie dort auch schon gestanden haben könnten, als der Mörder hier war, um den Schmuck zu stehlen. Da das Museum sehr überschaubar ist, ist der Dieb ein gewaltiges Risiko eingegangen und muss entsprechend motiviert gewesen sein.
Ich werfe auch einen Blick in die Besucherzählung, blättere zum 3. August des letzten Jahres zurück und sehe, dass an diesem Tag Dutzende Besucher hier waren; es muss also ständig jemand in den Räumen gewesen sein. Elaine hat eine Strichliste geführt, die Namen der Gäste aber nicht notiert. Wahrscheinlich ist der Mörder mehrfach hier gewesen, um den Diebstahl zu planen, aber sie kann sich an keine speziellen Details mehr erinnern. Sie musste an dem Tag eine Pressemeldung über eine neue Ausstellung lokaler Fotokunst schreiben und hat den Einbruch in die Vitrine erst bemerkt, als sie das Museum um siebzehn Uhr schloss.
»Julian spricht für sein Leben gern über die Exponate«, sagt sie, als ich ihr danke und mich kurz vor zehn Uhr verabschiede. »Er freut sich bestimmt, wenn Sie ihn besuchen.«
Elaine wirkt noch immer traurig, als ich gehe, aber ihr Rat, die Hilfe eines Experten zu suchen, klingt vernünftig. Der Täter hat Sabine das gestohlene Medaillon aus einem bestimmten Grund um den Hals gehängt, und dessen Herkunft könnte uns neue Erkenntnisse verschaffen. Die Tatsache, dass der Diebstahl sich an einem 3. August ereignete und Sabine genau ein Jahr später sterben musste, nagt an mir, doch das Datum hat bisher keine offensichtliche Bedeutung. Shadow tänzelt – unbekümmert um die Gedanken, die mir im Kopf herumgehen – auf dem Gehsteig neben mir her.
Julian Powers Haus liegt nur einen Steinwurf vom Kai von Hugh Town entfernt. Das hohe georgianische Gebäude umweht ein Hauch alter Grandezza, und es wirkt viel düsterer als das Tregarthen’s Hotel daneben, das – seit ein pensionierter Seekapitän sein Haus vor gut zweihundert Jahren in einen Gewerbebetrieb umwandelte – zahlende Gäste aufnimmt. Power macht auf mich einen zwielichtigen Eindruck, als er schließlich an die Tür kommt, und Shadows Reaktion ist auch nicht gerade hilfreich. Der Hund begegnet ihm spontan mit Abneigung und schnappt nach ihm, so dass ich ihn schnell am Halsband zurückziehe. Warum Power solche Aggressionen in ihm auslöst, ist nicht ganz nachvollziehbar. Seine sehr aufrechte Haltung lässt mich vermuten, dass er früher bei der Armee war; er ist um die fünfzig, untersetzt, hat kurzes dunkles Haar und einen gepflegten Schnauzbart. Er weicht trotz Shadows wütendem Gekläffe nicht von der Stelle und behält mich mit seinen grauen Augen genau im Blick. Als ich ihn bitte, mir bei der Bestimmung der gestohlenen Gegenstände aus dem Museum zu helfen, entspannt sich seine Miene.
»Wenn der Hund draußen bleibt, können wir uns gern unterhalten, aber ich fürchte, ich kann Ihnen auch nicht viel mehr sagen als Elaine. Über die Schenkungen wurde nie Buch geführt. Ich weiß nur sicher, dass die Sachen auf der Insel hergestellt wurden, gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts.«
»Jede Information kann uns nützlich sein.«
Shadow benimmt sich immer noch daneben, als ich ihn am Geländer festbinde. Er heult ohne erkennbaren Grund aus Leibeskräften. Ich weiß wenig über Power; nur, dass seine Familie in zweiter Generation hier lebt und er einer der reichsten Männer von St. Mary’s ist. Er hat vor zehn Jahren das Unternehmen Isles of Scilly Travel gekauft, über das der gesamte Fähr- und Flugverkehr mit dem Festland abgewickelt wird. Es ist auf den ersten Blick erkennbar, dass sein Interesse als Sammler weit über einheimischen Schmuck hinausgeht: Die Wände seines Flurs hängen voller alter Seestücke; sie sind alle in demselben realistischen Stil gemalt und zeigen Galeonen, die in wilden Taifunen ums Überleben kämpfen. Im Wohnzimmer stehen Regale voller Glasfiguren und eine französische Kommode, auf der antike Zierteller präsentiert werden.
»Wie lange sammeln Sie schon?«
Er lächelt verlegen. »Solange ich denken kann. Es hat mit Briefmarken und Münzen angefangen und ist dann außer Kontrolle geraten. Aber das ist meine einzige Sucht.«
»Besser als Drogen und Alkohol.«
»Stimmt, geht aber ganz schön ins Geld. Letzte Woche habe ich eine römische Münze für achthundert Pfund erstanden.«
»Ist sie aus Gold?«
»Großer Gott, nein. Die meisten davon befinden sich im British Museum. Es handelt sich um einen Aureus aus Bronze; so einen wollte ich schon seit Jahren haben.«
Diese neueste Erwerbung bringt endlich Leben in ihn, seine Augen leuchten vor Stolz. Er kramt eine Holzschachtel hervor und reicht sie mir. Darin liegen auf schwarzem Samtfutter zahlreiche funkelnde Schmuckstücke.
»Die sind aus kornischem Gold wie die Stücke, die aus dem Museum gestohlen wurden. Fischer haben sie vor hundert Jahren auf St. Mary’s als Talismane für ihre Bräute gekauft. Die Juweliere nannten sie ›Seemannsglücksbringer‹, aber sie haben nicht immer nur Glück gebracht.«
Ich nehme eines der Medaillons heraus. In die Rückseite ist ein Datum eingraviert, und hinter dem Glas befindet sich eine Haarlocke. Ich kann verstehen, warum Fischer ihren Frauen so intime Erinnerungsstücke geschenkt haben für den Fall, dass sie auf See blieben.
»Wurde in Cornwall viel Gold geschürft?«
Power schüttelt den Kopf. »Hauptsächlich Zinn und Kupfer; kornisches Gold ist eine große Rarität. Es ist wirklich ein Jammer, dass der Dieb einige der wichtigsten Stücke der Sammlung entwendet hat. Ich verstehe nicht, warum sie im Bestandsbuch nicht aufgeführt sind, aber sie wurden möglicherweise bereits vor hundert Jahren gestiftet. Erbschaften wie diese werden nur selten zum Kauf angeboten. Ich weiß vom Hörensagen, dass das Medaillon, dass Sie am Pulpit Rock gefunden haben, eine tragische Geschichte hat. Offenbar ist der Mann, der es seiner Frau geschenkt hat, kurz nach der Heirat ertrunken.«
Diese Erklärungen bringen mich für eine Weile zum Schweigen. Viele Familien auf den Scilly-Inseln haben Verwandte an das Meer verloren, auch meine. Mein Vater schenkte meiner Mutter häufig Blumen, bevor er hinausfuhr, um Fische zu fangen – bis sein Trawler eines Tages in der Keltischen See, dem Atlantik, unterging. Im selben Sturm kam auch der Vater der Keast-Brüder ums Leben, was uns zu Mitgliedern eines Clubs machte, dem niemand angehören möchte.
»Wir haben das Medaillon bei der Leiche gefunden«, sage ich.
Power schüttelt mit nachdenklicher Miene den Kopf. »In diesen Seemannsglückbringern stecken so viel Hoffnung und Zärtlichkeit; es ist ein Jammer, dass der Mörder sie befleckt hat.«
»Drei Ringe fehlen ebenfalls in der Sammlung, oder?«
»Ich glaube, das waren einfache goldene Eheringe hier aus der Gegend, aber auch sie stehen nicht im Bestandsbuch des Museums.«
»Elaine sagte, Sie arbeiten an einem Online-Katalog?«
Er zuckt zusammen. »Das wird nicht einfach; das Bestandsbuch reicht einhundertfünfzig Jahre zurück. Ich wünschte, ich hätte mir das gar nicht erst aufgehalst.«
»Würden Sie bitte mal in dieses Buch schauen und nachsehen, ob da verzeichnet ist, welche Familie dem Museum die gestohlenen Gegenstände überlassen hat? Ich glaube, sie haben eine besondere Bedeutung für den Täter.«
»Bis wann brauchen Sie das?«
»Sobald wie möglich, bitte.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Ich kann keine Wunder vollbringen. Die Aufzeichnungen sind schwer zu entziffern, aber ich fange gleich an.«
»Könnten Sie mich bitte anrufen, sobald Sie etwas wissen?«
Ich zeige Power den Ehering, der an Sabines Finger steckte, und er bestätigt anhand der Punze, dass er wahrscheinlich zu dem Diebesgut aus dem Museum gehört. Powers feierliches Benehmen kommt mir seltsam vor; seine Miene ist so unbewegt, als würde er glauben, dass Lächeln weh tut.
»Könnten Sie mir bitte sagen, wie Sie den gestrigen Tag verbracht haben, Julian?«
Er schaut mich verdutzt an. »Ich bin der jungen Frau, die gestorben ist, nie begegnet. Das dürfte Ihnen doch klar sein, oder?«
»Ich fürchte, es ist mein Job, diese Fragen trotzdem zu stellen.«
»Ich war zu Hause und habe mit meinem Computer gekämpft. Unser Buchungssystem ist letzte Woche zusammengebrochen, und ich habe versucht, es wieder zum Laufen zu bringen. Abends war ich dann im Museum. Ich habe mir gegen zwanzig Uhr von Elaine Rawle den Schlüssel geliehen und war zu den Nachrichten um zweiundzwanzig Uhr wieder zu Hause.«
»Waren Sie allein?«
»Ich lebe seit Jahren allein.«
»Macht es Ihnen etwas aus, mir den Grund dafür zu nennen?«
Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich bin seit fünf Jahren geschieden, aber das Geschwätz der Leute hört nie auf, vor allem im Winter, wenn sie wenig zu tun haben. Ich bin lieber allein, als mein Liebesleben im Pub analysieren zu lassen.«
»Sie müssen sich doch manchmal einsam fühlen.«
»Nein, ganz und gar nicht. In meinem Haus herrschen Frieden und Stille; ich muss niemals irgendwen beschwichtigen, sondern kann tun und lassen, was ich will.«
Die präzise Ausdrucksweise des Mannes erinnert mich an das systematische Vorgehen des Mörders, auch wenn ich keinerlei konkreten Hinweis darauf finde, dass Power etwas mit Sabines Tod zu tun haben könnte. Er scheint entschlossen zu sein, seine Mitmenschen, so gut es geht, zu ignorieren und das Sammeln in den Mittelpunkt seines Lebens zu stellen. Bevor ich ihm für seine Hilfe danke und gehe, muss ich an das sorgfältig aufgetragene Make-up auf Sabines Gesicht und an die Blumen denken, die ihr ins Haar geflochten worden waren. Die Persönlichkeit des Mörders scheint zwei Seiten zu haben. Wer auch immer dieses Verbrechen begangen hat, ist zu demselben Zartgefühl fähig, das Power gezeigt hat, als er mir seine Raritäten präsentierte, und doch wurde Sabines Leiche brutal von einem Felsen gestoßen und wie eine kaputte Puppe ausgestellt. Meine Gedanken kehren zu den Seemannsglücksbringern zurück, und mir wird klar, dass es einen Grund dafür geben muss, dass der Mörder mehr als einen davon gestohlen hat.
Deshalb bin ich bereits auf einen Anruf gefasst, in dem man mir mitteilt, dass ein weiteres Opfer verschleppt wurde.