Mein nächster Besuch wird mich erheblich mehr belasten als eine Lehrstunde in antikem Schmuck. Ich muss dabei sein, wenn Dr. Keillor um elf Uhr Sabines Leichnam im Leichenschauhaus untersucht. Trotz meiner langjährigen Arbeit in der Mordkommission machen mir tote Körper mehr zu schaffen, als ich zugeben will. Shadow bleckt die Zähne, bevor ich ihn losbinde; er ist offensichtlich nicht bereit zu vergessen, dass er in der letzten halben Stunde hier draußen gefangen gehalten wurde. Die morgendliche Hitze erreicht den Höhepunkt, als ich durch die Church Road in Richtung Krankenhaus gehe. Shadow verschwindet aus meinem Blickfeld, und ich beneide ihn. Nur zu gern würde ich die vor mir liegende Pflichtübung zugunsten eines Sonnenbads mit einem kühlen Drink in der Hand ausfallen lassen.
Hugh Town ist so klein, dass hier alle Einrichtungen nahe beieinander liegen; die Einwohnerzahl ist niedrig, aber die Hälfte der ständigen Bewohner der Insel haben sich hier niedergelassen. Das Krankenhaus setzt sich aus einigen einfachen, sorgfältig weiß gekalkten Häusern zusammen, mit einer Grünfläche außen herum. Es steht oben auf dem Carn Gwaval, wo Hugh Town in die ungezähmte Heidelandschaft von Peninnis Head übergeht; die Patienten haben von hier aus eine gute Sicht über das Kleingartengelände der Insel bis zum hellen Sand von Porthcressa Beach. Ich überquere den Parkplatz, um zum Leichenschauhaus hinter dem Krankenhaus zu gelangen. Die Fensterscheiben des Gebäudes sind mattiert, um die Privatsphäre der Toten zu wahren. Gareth Keillor ist bereits da. Er trägt blaue OP-Kleidung und legt Skalpelle, Messer und Schalen auf einem Tablett bereit. Er begrüßt mich mit einem Nicken, bevor er sein Aufnahmegerät startet und dem über dem OP-Tisch hängenden Mikrophon den Beginn seiner Untersuchung verkündet.
Als er das schwarze Tuch zurückschlägt, füllt sich der Raum mit dem Geruch von Chemikalien und Verwesung. Sabines Hals weist dunkelrote Hämatome auf, ihre Schminke ist nicht verwischt. Die geschlossenen Augen ziert grauer Lidschatten, blassrosa Lippenstift den Mund. Die Girlande in ihren Haaren ist verschrumpelt, nur die Kornblumen haben ihre Farbe noch nicht verloren. Sie könnten überall auf St. Mary’s gepflückt worden sein. Auf dem übrigen Körper sind nur wenige Verletzungen erkennbar. Es fühlt sich falsch an, ihre exponierten Brüste und ihre athletische Figur anzustarren; die Muskeln, die sie beim Distanzschwimmen entwickelt hat, sind gut zu erkennen. Keillor lässt sich Zeit. Als Erstes kratzt er mit einer Nadel Schmutz unter ihren Fingernägeln heraus und lässt ihn in Probenröhrchen aus Plastik fallen. Dann murmelt er bedächtig seine Befunde ins Mikrophon. Sabines Familie hat einer umfassenden Autopsie noch nicht zugestimmt, trotzdem führt er ein Saugröhrchen in ihren Mund ein und dreht sie dann auf die Seite, um ihren Hals zu untersuchen.
»Halswirbelfraktur zwischen C6 und C7, Ödem rund um die gebrochene Wirbelsäule«, sagt er und wendet sich dann mir zu: »Das müssen Sie sich ansehen, Ben.«
Als ich einen Schritt vortrete, rieche ich es bereits: Die Leiche der jungen Frau strömt den Gestank von Ammoniak und von etwas Schärferem, Ätzenderem aus.
»Was sagt Ihnen die Verfärbung oberhalb ihres Schlüsselbeins?«, fragt er. »Kommt Ihnen daran irgendwas merkwürdig vor?«
Rings um ihren Hals sieht man dunkelrote Seilverbrennungen, aber da sind noch kleinere violette Flecken, die keinen Sinn ergeben.
»Wo kommen diese runden Flecken her?«
»Sie weisen auf eine Strangulation hin. Oft hinterlassen die Fingerspitzen der Mörder Blutergüsse, weil sie so fest zudrücken. Dabei reicht eigentlich schon ein leichter Druck auf die Halsschlagader aus, um kein Blut mehr ins Hirn fließen zu lassen, was die meisten Täter aber nicht wissen. Sie versuchen, ihren Opfern die Luftzufuhr über die Luftröhre abzuschneiden.«
Der Gerichtsmediziner setzt seine Arbeit schweigend fort, bis er eine Viertelstunde später die Handschuhe abstreift und seine Hände mit einer Seife wäscht, die seine Haut grellgelb färbt. Er sieht müde aus, als er sich mir wieder zuwendet.
»Ich sollte meine Gutachtertätigkeit aufgeben und endlich richtig in den Ruhestand gehen, Ben. Fälle wie diese bringen meinen Glauben an die Menschheit ins Wanken.«
»Geht mir nicht anders. Haben Sie etwas Neues herausgefunden?«
Er nickt langsam. »Die Hämatome an der Schädelbasis stammen von einem stumpfen Gegenstand. Jemand hat von hinten auf sie eingeschlagen, mit einer Brechstange oder einem Knüppel. Danach wird sie einige Stunden bewusstlos gewesen sein. Davon abgesehen weist ihr Körper bis auf die Strangulationsmale so gut wie keine Verletzungen auf.«
»Glauben Sie, dass Sabine bereits tot war, als sie am Pulpit Rock aufgehängt wurde?«
»Sie wurde niedergeschlagen und dann erwürgt. Danach hat er sie zum Pulpit Rock geschafft. Ihr Genick ist gebrochen, als er sie vom Kliff stieß.«
»Warum hat er sie nicht einfach am Strand abgelegt und von der Flut wegtragen lassen?«
»Für die Motive sind Sie zuständig, Ben.« Er schaut noch einmal auf das Gesicht der jungen Frau hinab. »Aber ich würde sagen, der Mörder ist ein Angeber. Ihre Leiche wurde an einem der berühmtesten und schönsten Flecken der Insel aufgehängt. An der Stelle wurden schon immer gern Hochzeitsfotos gemacht; meine Frau und ich haben uns vor dreißig Jahren auch dort ablichten lassen.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum sie wie eine Braut gekleidet war. Der Mörder scheint auf so was zu stehen: die Verkleidung, die Blumen, der Lippenstift. Wie ein Kind mit einer Kostümkiste.«
»Es könnte eine Art Fetisch sein, aber es gibt an der Leiche keine sichtbaren Anzeichen dafür, dass das Ganze sexuell motiviert war. Die größten Chancen, eine DNA-Spur vom Täter zu finden, haben wir in dem Material, das unter ihren Fingernägeln war. Sie war jung und fit und hat ganz bestimmt um ihr Leben gekämpft. Wenn es eine körperliche Auseinandersetzung mit ihrem Angreifer gab, wird das Labor Hautzellen finden.«
»Danke für Ihre Hilfe, Gareth.«
»Viel Glück bei der Suche nach ihm.« Er schaut mich an. »Die Sache geht Ihnen nahe, stimmt’s? Wenn das hier vorbei ist, sollten Sie mit dem Golfspielen anfangen. Über das Fairway zu gehen ist ein tolles Mittel gegen Stress. Ich gebe auch gern eine Zeitlang Ihren Coach.«
»Eine Runde Golf könnte ich jetzt echt gut gebrauchen, Gareth, aber das wird warten müssen.«
Als ich das Leichenschauhaus verlasse, ist schon wieder eine Stunde vorbei, und Sabine Bertans’ Leiche ist unter einem sauberen weißen Tuch verborgen. Ihr kurzes Leben entgleitet bereits unserem Blick.