Im Polizeirevier riecht es nach Kaffee und Stress. Fünf Einwegbecher und ein halbes Dutzend Baguettes vom Strudel’s Café haben den Weg in Madrons Büro gefunden, und der Espressoduft hebt meine Stimmung. Der DCI wäre entsetzt, wenn er sehen könnte, dass sein glänzender Mahagoni-Schreibtisch als Picknickunterlage missbraucht wird, aber nur hier ist genug Platz für das gesamte Team. Liz Gannick kommt als Letzte und lässt ihre Krücken an der Tür stehen, als meine Einsatzbesprechung beginnt. Der finstere Blick der Chefkriminaltechnikerin erinnert mich daran, dass sie lieber selbständig operiert und es hasst, wenn sie Anweisungen bekommt. Draußen vor dem Fenster zum Hof döst Shadow auf einer Insel aus Sonnenlicht. Er hat den Kopf auf die Pfoten gelegt und kümmert sich ausnahmsweise mal um seinen eigenen Kram, interne Machtkämpfe brauchen ihn nicht zu interessieren. Eddie und Isla beobachten gespannt, wie ich meine Notizen ordne; sie scheinen zu erwarten, dass ich die Lösung des Falls aus dem Ärmel schüttele. Lawrie Deane und Liz Gannick sind lange genug dabei, um zu wissen, dass Mordfälle langwierig sind, auch wenn sie sich auf einer kleinen Insel abspielen – es sei denn, man hat Glück. Erst als sie hören, dass Sabine erwürgt wurde, bevor man sie am Pulpit Rock aufgehängt hat, kommt Leben in sie.
»Aber was ist das Motiv?«, fragt Eddie. »Der kornische Ehering an ihrem Finger muss doch was zu bedeuten haben. Ich hab auch schon überall rumgefragt wegen des Textes auf der Rückseite des Fotos, aber niemand kennt ihn. Für mich klingt er wie der Anfang eines Gedichts.«
»Haben Sie irgendwas wegen des Datums rausfinden können, Lawrie?«
Der Sergeant schüttelt den Kopf. »Die Suche im Archiv des Standesamtes hat nichts gebracht. Zwei Inselbewohnerinnen wurden an einem dritten August geboren, aber sie sind beide über siebzig.«
»Dann müssen wir uns an die Seemannsglückbringer halten. Durch das Medaillon um ihren Hals wurde Sabine zu einer echten kornischen Braut. Vielleicht wollte der Täter nicht, dass sie wieder weggeht, auch wenn sie nie vorhatte zu bleiben.« Ich lasse meinen Blick von einem zum anderen wandern. »Wir sollten heute damit anfangen, die Touristen, die ein wasserdichtes Alibi haben, nach Hause zu schicken. Wir wissen, dass der Mörder ein Auto zur Verfügung hat, womit die meisten von ihnen durchs Raster fallen. Wir müssen die Personenzahl auf der Insel verringern, damit der Täter sich nirgendwo mehr verstecken kann. Die Scillonian wartet am Kai; sie kann heute Nachmittag bis zu fünfhundert Leute nach Penzance bringen und leer wieder zurückkommen, um morgen den Rest zu holen. Bedenken Sie, dass die Insel noch immer für Besucher gesperrt ist, es sei denn, sie haben eine Sondergenehmigung.«
»Unser Mörder hat also offenbar Spaß daran, Sachen mitgehen zu lassen. Fragen Sie mal in Hugh Town herum, ob irgendwer jemanden gesehen hat, der sich nachts am Haus der Seenotrettung rumgetrieben hat.« Als Nächstes wende ich mich Isla zu. »Gibt’s was Neues über die Herkunft des Hochzeitskleides?«
»Ich habe jede Menge E-Mails verschickt, aber keiner der Secondhandläden kann mir irgendwas dazu sagen«, erwidert sie, Bedauern im Blick.
»Versuchen Sie es weiter, es kann sich trotzdem noch was ergeben.« Ich schaue auf meine handschriftlichen Notizen. »Liam Trewin, dieser Gast aus den USA, hat zugegeben, Sabine die Ohrringe geschenkt zu haben, die sie bei ihrem Tod trug. Aber bislang haben wir nichts gegen ihn in der Hand. Der Mörder kann sich ganz schön was auf sich einbilden. Wir wissen nicht mal, ob wir es mit einer Frau oder einem Mann zu tun haben, aber dem Täter oder der Täterin ist es gelungen, in einer kleinen Gemeinde ein komplexes Verbrechen zu begehen und dabei eine so seltsame Vorgehensweise zu wählen, dass er am Ende in einem True-Crime-Buch landen könnte. Auch über das Opfer wissen wir noch viel zu wenig. Sabine war intelligent genug, um einen Studienplatz an einer der besten Universitäten Lettlands zu ergattern und sich einen Ferienjob im Star Castle zu organisieren, um ihr Englisch zu verbessern. Ihre Familie ist katholisch, aber laut
»Und wir wissen auch noch nicht, ob sie zum Pulpit Rock verschleppt oder dorthin gelockt wurde«, wirft Liz in gereiztem Ton ein. »Ich sollte sofort ihr Zimmer durchsuchen, bevor noch mehr Beweismittel verlorengehen.«
»Sie können gleich los, das verspreche ich«, erwidere ich ruhig. »Aber wir sollten koordiniert vorgehen. Wir wissen, dass Sabines Mörder ein Auto oder einen Lieferwagen benutzt hat, um ihre Leiche zu transportieren, deshalb sollten wir heute alle Fahrzeuge überprüfen.«
»Das wird ewig dauern«, antwortet Gannick.
Ich schüttele den Kopf. »Es gibt hier mehr als vierhundert Autos in Privatbesitz, aber nur drei Mietwagen. Die möchte ich heute Nachmittag gern als Erste untersuchen. Die meisten Feriengäste bewegen sich auf Fahrrädern oder mit Golfbuggys über die Insel. Könnten Sie sich jetzt gleich den Wagen vornehmen, den Liam Trewin gemietet hatte, Liz, und überprüfen, ob Sabines Leiche darin gelegen hat? Wir wissen, dass er auf sie stand, aber vielleicht hat er auch einfach nur eine plumpe Art zu flirten.« Gannick stößt ein verächtliches Zischen aus. »Der Täter kann sich in einer entlegenen Ecke der Insel verstecken oder sich direkt vor unserer Nase aufhalten, aber ich vermute, dass er es wieder versuchen wird. Wie wir wissen, werden die meisten Gewaltverbrechen von Männern zwischen achtzehn und fünfundvierzig begangen, deshalb sollten wir zwar in alle Richtungen denken, uns aber vorrangig die Inselbewohner dieser Kategorie vornehmen, die Sabine gekannt haben. Die Namen bleiben auf unserer Verdächtigenliste, bis wir ihre Schuld ausschließen können. Unser Mörder geht äußerst
Gannick schaut mürrisch drein vor Ungeduld, als ich Aufgaben verteile und mein Team über die Bestätigung des Polizeigraphologen unterrichte, dass die Handschrift auf der Rückseite des Fotos die von Sabine ist. Der Mörder war klug genug, uns keine Kostprobe seiner eigenen Schrift zu geben. Ich möchte, dass wir unsere Liste von über vierhundert Insulanern mit Zugang zu einem Wagen zügig eingrenzen, damit wir vorankommen.
»Eddie und ich werden heute Nachmittag das Star Castle absuchen. Die Staatsanwaltschaft hat uns einen offenen Durchsuchungsbeschluss für Garagen, landwirtschaftliche und Betriebsgebäude genehmigt. Sie brauchen also nur dann die Erlaubnis der Hausbesitzer, wenn Sie Privatgebäude durchsuchen. Falls die Erlaubnis verweigert wird, dauert es Stunden, einen entsprechenden Beschluss zu erwirken.«
Deane beauftrage ich damit, die Besucher mit wasserdichten Alibis aufzusuchen und ihnen zur Abreise zu raten. Eddies wichtigste Aufgabe wird nach unserer gemeinsamen Suche darin bestehen, mit den übrigen Insulanern zu reden und ihnen zu versichern, dass sie in Sicherheit sind. Als ich diese Anweisung erteile, fällt mir Nina wieder ein. Ich weiß nach unserem kurzen Gespräch nicht einmal, ob sie allein hierhergereist ist oder in einer Gruppe.
Liz Gannick ist sofort auf den Beinen, als die Besprechung endet. Ich will ihr folgen, um sie zum Star Castle zu begleiten, aber Isla stellt sich mir in den Weg.
Die Miene meiner Constable ist so angespannt, dass ich Eddie bitte, Gannick zum Hotel zu bringen, und sofort in Madrons Büro zurückkehre.
»Was ist los, Isla?«
»Es gibt da was, was ich Ihnen eigentlich besser sofort gesagt hätte.« Ihr scheinen die Worte zu fehlen, was mich erstaunt. Normalerweise ist die junge Frau offen und geradeheraus.
»Setzen Sie sich und geben Sie sich einen Ruck.«
Sie setzt sich und verschränkt die Hände, als wollte sie beten. »Sabine hat gern gefeiert und viel getrunken, wenn sie einen Abend freihatte. Sie war manchmal ganz schön wild drauf.«
»Und?«
»Wir haben mal eine Nacht miteinander verbracht, nachdem wir zusammen was trinken waren. Sie hat mich in ihr Zimmer eingeladen, aber ich bin vor Tagesanbruch wieder von da weg.«
Ich habe mir über Islas sexuelle Vorlieben bislang keinerlei Gedanken gemacht, doch sie sieht ängstlich aus, als sie weiterspricht, so als fürchtete sie, jetzt entlassen zu werden. »Das war kurz nach ihrer Ankunft, Ende Juni.«
»Aber es wurde keine Beziehung daraus?«
»Das war ihre Entscheidung, nicht meine. Sie wollte keine Komplikationen.«
»Und wie ging es Ihnen damit?«
»Zuerst hat es weh getan, obwohl ich ja wusste, dass sie hetero ist. Wahrscheinlich wollte sie nur deshalb mit einer Frau schlafen, um diese Erfahrung von der Liste der Dinge streichen zu können, die sie unbedingt ausprobieren wollte.
»Wer weiß darüber Bescheid?«
»Sie wird es niemandem erzählt haben, allenfalls vielleicht Lily Jago. Und ich prahle nicht mit meinen Eroberungen.«
»Aber Sie beide schienen sich recht nahezustehen.«
»Wir haben uns danach kaum mal allein getroffen, aber wir waren nicht zerstritten.« Islas Blick ist starr auf den Linoleumboden vor ihren Füßen gerichtet. »Werde ich jetzt von dem Fall abgezogen?«
»Sie kennen die Vorschriften, was Beziehungen von Polizeibeamten und Opfern angeht. Normalerweise bedeutet das zwingend, dass sie von der Ermittlung ausgeschlossen werden. Aber vielleicht bekomme ich eine Sondergenehmigung. Möchten Sie denn weiter an dem Fall arbeiten?«
»Natürlich, Boss.« In ihrer Miene wetteifern Hoffnung und Beklommenheit.
»Gut, dann rede ich mit DCI Madron und der Polizeibehörde.« Ich blicke sie direkt an. »Was haben Sie Samstagnacht gemacht?«
Isla fährt mit den Fingern durch ihre raspelkurzen Haare. »Ich war zu Hause und hab mit Mum ferngesehen. Ich war lange schwimmen gewesen und darum zu müde zum Ausgehen.«
»Kann Ginny das bestätigen?«
Sie nickt unglücklich. »Jetzt werden es alle erfahren, oder?«
»Wir suchen nach jemandem, mit dem Sabine Zeit verbracht hat, egal, ob männlich oder weiblich. Da können wir nichts vertraulich behandeln.«
»Meine Freunde wissen, dass ich was mit ihr hatte, aber
»Das ist nichts, wofür Sie sich schämen sollten, und es war gut, dass Sie es mir erzählt haben. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm.«
»Dann rede ich jetzt mit Lawrie.« Isla steht umständlich auf. »Danke fürs Zuhören, Sir.«
»Es war richtig, ehrlich zu sein. Warten Sie beim nächsten Mal nicht so lange.«
»Soll ich denn weiter nachforschen, wer das Brautkleid gekauft hat?«
Ich nicke energisch. »Ja, versuchen Sie es noch eine Stunde lang. Den restlichen Nachmittag möchte ich Sie draußen auf Streife sehen. Versichern Sie den Insulanern, dass wir Fortschritte machen. Einige von ihnen werden Panik bekommen. Und bitte nehmen Sie Shadow mit. Es wäre ein Fehler, ihn allein hier drinnen zu lassen.«
»Warum?«
»Er würde die Möbel, die Teppiche und die Tapete ruinieren.«
»Klingt, als wäre er ein Krimineller.«
»Mein Sofa hat er schon auf dem Gewissen. Dafür hat er eigentlich eine Freiheitsstrafe verdient, finden Sie nicht?«
Sie lächelt zaghaft, bevor sie den Raum verlässt. Die Wände des Polizeireviers sind so dünn, dass ich hören kann, wie sie Lawrie Deane von ihrer Nacht mit Sabine erzählt. Die meisten Inselbewohner nehmen, was das Sexleben ihrer Mitmenschen angeht, eine Haltung ein, die man am besten mit »leben und leben lassen« beschreiben kann, aber vielleicht ist Deane da eine Ausnahme. Ich bereite mich darauf
Ich bin froh, dass unsere neue Kollegin mir die Wahrheit gesagt hat, auch wenn der Fall dadurch noch komplizierter wird. In London würde Isla wegen ihrer Verbindung zum Opfer sofort von dem Fall abgezogen, aber ich brauche alle Officer, die ich kriegen kann. Ich werde hart um sie kämpfen und Madron und die Polizeibehörde überzeugen müssen, damit ich sie im Team behalten kann. Ich hoffe, dass sich der Aufwand lohnt. Je mehr ich über Sabine erfahre, desto facettenreicher kommt sie mir vor. Bewunderer aller Couleur scheinen auf die junge Frau geflogen zu sein wie Motten ins Licht.