Ich habe Lawrie Deane bereits gebeten, die Hotels zu ermahnen, für die Sicherheit ihrer Gäste zu sorgen, aber jetzt werden wir gezielter vorgehen müssen. Nach dem zweiten Anschlag des Täters möchte ich, dass sie vor allem auf alleinreisende Frauen ein Auge haben. Wer auch immer die deutsche Touristin angegriffen hat, ist selbstbewusst genug, am helllichten Tag eine Wanderin zu überfallen. Also herrscht Alarmstufe Rot. Möglicherweise hat Hannah so viel Zeit allein verbracht, dass sie gar nicht wusste, dass eine Frau ermordet worden ist, als sie zu ihrer Wanderung aufbrach. Ich blicke zum Halangy Down hinauf, während ich das Motorrad wieder starte. Mein Bruder und ich haben hier als Kinder manchmal in der Dämmerung gespielt und so getan, als wären die langen Schatten uralte Geister, die von den Gräbern auf der Hügelkuppe herunterflogen, um ihre alten Häuser zu besuchen. Die Siedlung aus der Bronzezeit ist eine der größten in Europa, und ihre steinernen Umgrenzungen erstrecken sich, so weit das Auge reicht.
Lawrie klingt genervt, als ich telefonisch nachhake, ob alle Mieterinnen von Ferienhäusern inzwischen darüber informiert sind, dass sie nicht allein bleiben sollen.
»Ich hab’s ja versucht, Boss, aber dauernd rufen Leute an, um zu fragen, ob’s was Neues gibt, und blockieren die Leitung.«
»Arbeiten Sie so schnell wie möglich, Lawrie. Ich fahre jetzt zum Krankenhaus und erkundige mich, wie es dem Opfer geht.«
Er seufzt mir ins Ohr. »Bei einer Nummer hab ich’s schon sechsmal probiert. Die Frau wohnt im Watermill Cottage.«
»Da kann ich unterwegs vorbeifahren. Wie heißt sie?«
»Nina Jackson.«
Ich verabschiede mich verärgert. Es ist meine Pflicht, sie aufzusuchen, aber ich würde es lieber nicht tun. Wir haben zuletzt miteinander geredet, als sie die Fähre zurück aufs Festland genommen hat, ohne unserer Beziehung Zeit und damit eine echte Chance zu geben. Ich beiße die Zähne zusammen und brause um achtzehn Uhr die Watermill Lane entlang, in der Hoffnung, dass dieses heutige Treffen unser letztes vor ihrer Abreise sein wird. Die Landschaft hier ist sehr reizvoll, bei Trenoweth bilden Ulmen ein Laubdach über der Straße, doch selbst die malerische Umgebung kann mich jetzt nicht aufheitern. Meine Miene ist immer noch finster, als ich in den Weg zu einer der schönsten Buchten der Inseln einbiege.
Das Watermill Cottage steht isoliert am Ende eines Fischerpfades, der zum Strand hinunterführt. Das traditionelle zweistöckige Gebäude ist aus Gestein von der Insel errichtet und hat Sturmklappen, die es vor den Winterstürmen schützen. Nur jemand, der gern allein ist, würde hier wohnen wollen, auch wenn es offensichtliche Vorzüge hat. Ich kann von hier aus die Eastern Isles auf der anderen Seite des Crow-Sunds sehen, und die höchsten Punkte von St. Martin’s und Tresco liegen schimmernd in der Ferne. Als ich meinen Sturzhelm abnehme, ruft Nina meinen Namen.
»Nicht übel, die Aussicht, oder?«
Sie steht auf der Veranda. Ihre braunen Haare glänzen in der Sonne; sie sind länger geworden und wehen über ihre Schultern, als sie auf mich zukommt. Auf ihrer olivfarbenen Haut ist keine Spur von Make-up zu sehen. Ihr Sommerkleid reicht bis zur Mitte der Schenkel und gibt den Blick auf lange, gebräunte Beine und nackte Füße frei. Bei ihrem Anblick verschlägt es mir die Sprache. Plötzlich wird mir schmerzhaft bewusst, dass meine Kleider schmutzig sind und meine Haare noch nass von der Erfrischung vorhin. Sie erwischt mich immer auf dem falschen Fuß, wie ein Schlag aus heiterem Himmel.
Nina betrachtet mich schweigend und sagt dann: »Du siehst immer noch eher wie ein wilder kornischer Schmuggler aus, nicht wie ein Polizist.«
»Kann gar nicht sein. Meine Vorfahren waren über fünf Generationen gesetzestreue Fischer«, erwidere ich und achte darauf, auf Abstand zu bleiben. »Hattest du vor, mir die ganze Woche aus dem Weg zu gehen, Nina?«
»Ich wusste, dass sich unsere Wege irgendwann kreuzen würden.« Ihre Stimme klingt ein bisschen heiser, so als hätte sie gerade ein Glas Cognac getrunken.
»Ich bin überrascht, dass du überhaupt hier bist.«
»Diese Landschaft kann man nur schwer vergessen. Und wie gesagt, ich hatte vor, dich anzurufen, aber im Augenblick hast du ja viel zu tun.«
»Heute Nachmittag ist wieder eine Frau attackiert worden. Warum gehst du nicht an dein Telefon?«
»Ich war schwimmen.« Sie blickt mich besorgt an mit ihren bernsteinfarbenen Augen, ihre Miene zeigt jedoch keinerlei Anzeichen von Panik. »Geht es der Frau gut?«
»Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus, um das herauszufinden.«
»Trink erst mal was – die Hitze ist mörderisch.«
Mein Plan, dieses Treffen kurz zu halten, gerät ins Wanken, als ich das Cottage betrete. Große Fenster fluten die Zimmer mit Licht, und es duftet nach ihr: Jasmin, Seesalz und Moschus. Am liebsten würde ich fliehen, bevor meine Erinnerungen mich in die falsche Richtung lenken. Nina hat sich bereits häuslich eingerichtet, auf dem Sofa liegt ein Roman von Jane Austen, ihr Geigenkasten lehnt an der Wand. Durch das offene Fenster sehe ich einen einzelnen Liegestuhl auf der Terrasse, also ist sie ohne Begleitung angereist. Offenbar ist sie immer noch lieber allein, als jemanden um sich zu haben. Nina wendet mir den Rücken zu, während sie den Kühlschrank öffnet und Saft aus einer Karaffe in ein Glas gießt. Dann reicht sie mir das Glas, und ich lasse die eiskalte Flüssigkeit im Stehen durch meine Kehle rinnen. Auf dem Küchentisch liegt ein Stapel Bücher, deren Titel ich gut lesen kann: Personenzentrierte Therapie, Das Drama der Kindheit, Posttraumatische Belastungsstörung.
»Sind das deine?«
Sie grinst, bevor sie antwortet: »Ich mache eine Ausbildung zur Therapeutin und lerne gerade für eine Prüfung.«
»Noch eine berufliche Neuorientierung.« Ich stelle das leere Glas auf den Tisch. »Du wohnst hier viel zu abgelegen, Nina. Du solltest in der Stadt bleiben, bis wir den Mörder geschnappt haben.«
»Mir passiert hier nichts, die Besitzer haben mir ihr Auto geliehen.«
»Trotzdem bist du hier nicht sicher.«
Sie zeigt auf die doppelverglasten Fenster. »Ich kann mich nachts einschließen. Dieses Haus ist quasi wie Fort Knox.«
»Du hast dich nicht verändert. Du konntest noch nie Hilfe annehmen.«
»Ich reise am Sonntag ab. Bis dahin pass ich auf mich auf, versprochen.«
Ich hatte vergessen, wie stur und unabhängig sie ist und wie gleichgültig sie auf mögliche Gefahren reagiert. Damals hat mich ihr Stärke angezogen, aber jetzt frustriert sie mich nur. Ich gehe zur Tür.
»Ich werde zu Protokoll geben, dass du meine Aufforderung ignoriert hast.«
Ihre Miene bleibt neutral. »Komm noch mal vorbei, wenn du Lust zu reden hast, Ben.«
Ich setze meinen Sturzhelm wieder auf, ohne mich zu verabschieden. Früher hat Ninas Eigensinn mich fasziniert, heute verdirbt er mir jedoch nur noch weiter die Laune. Verärgert setze ich meinen Weg fort. Die Uhr scheint rückwärts zu laufen, während ich mich auf die Gegenwart konzentrieren sollte.
Ich bin erleichtert, als die weiße Silhouette des Krankenhauses in Sicht kommt, doch die Dame am Empfang wirkt abgelenkt, als sie mich bittet, Platz zu nehmen. Ich warte auf dem Flur und lese die Nachrichten, die ich vom Polizeirevier aufs Handy bekommen habe, bis plötzlich Ginny Tremayne vor mir steht. Sie hat ihre grauen Locken zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt, in der Tasche ihres weißen Kittels konkurrieren eine ganze Reihe Kugelschreiber um den wenigen Platz. Islas Mutter behandelt alle gleich, die ihr Krankenhaus betreten, und versorgt ihre Patienten nicht nur mit Medikamenten, sondern auch mit freundlichen Worten. Ich bin froh, dass sie heute Dienst hat; bei ihr ist das Opfer in guten Händen.
Ihr Lächeln ist verhalten. »Hannah klagte über Übelkeit, als sie hier ankam, und sie war nicht ansprechbar. Das ist ein schlechtes Zeichen bei Kopfverletzungen.«
»Ich hatte den Eindruck, dass es ihr schon besser ging.«
»So ein Schädel-Hirn-Trauma ist unberechenbar, Ben. Patienten, die eben noch mit dir geplaudert haben, können im nächsten Moment schon um ihr Leben kämpfen.« Ginny mustert mich über den Rand ihrer Brille hinweg. »Wissen Sie, wie Hannah mit Nachnamen heißt? Ich würde mir gern ihre Krankenakte ansehen.«
»Ich werde mich erkundigen und sage Ihnen dann Bescheid. Was passiert denn jetzt?«
»Sie liegt im Koma; in solchen Fällen kann dieser Zustand lange anhalten. Wenn die Schwellung des Gehirns zurückgeht, können wir sie in die Unfallklinik in Penzance fliegen.«
Ich lasse die schlechte Nachricht auf mich wirken, aber wegen meines Gesprächs mit Eddie kommt mir noch eine andere Idee. »Ich wollte Sie bitten, mir detaillierter zu erzählen, wie Sie und Isla den Samstagabend verbracht haben.«
»Das habe ich Ihnen doch am Telefon schon gesagt.« Der plötzliche Themenwechsel scheint sie zu überraschen. »Wir haben uns The Notebook auf Netflix angesehen, zu viel Popcorn gegessen und uns entspannt.«
»Und danach?«
»Isla ist noch mal kurz raus, um einen letzten Blick aufs Meer zu werfen; das ist so eine Art Ritual von ihr. Ich bin gegen elf ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen.«
»Haben Sie sie zurückkommen hören?«
»Daran erinnere ich mich nicht. Aber spielt das eine Rolle?«
»Wir müssen genau nachvollziehen, wo sich alle in der Tatnacht aufgehalten haben, mein Team eingeschlossen.« Mir kommt der Gedanke, dass Isla zum Leuchtturm gefahren sein kann, ohne dass ihre Mutter davon etwas mitbekommen hat. Es gibt keinen stichhaltigen Beweis dafür, dass sie Sabine nicht doch dafür bestrafen wollte, dass sie ihr Interesse nicht erwidert hat. Ihre Mutter scheint von dem Verdacht, der mir durch den Kopf schießt, nichts zu ahnen.
»Vielen Dank übrigens dafür, dass Sie Isla ermutigt haben, sich zu outen. Ich weiß seit Jahren, dass sie lesbisch ist, aber sie musste es mir selbst sagen.«
»Freut mich, dass ich helfen konnte.«
Als ich Ginnys entspanntes Lächeln sehe, frage ich mich, wie es ihr gehen würde, wenn sie wüsste, dass Isla mit dem Mordopfer geschlafen hat und vielleicht von dem Fall abgezogen werden muss.
»Darf ich die Patientin jetzt sehen?«
Hannah atmet unregelmäßig, als ich ihr Zimmer betrete. Ihr Gesicht hinter der Sauerstoffmaske sieht so zerbrechlich aus, als wäre es aus Glas. Erst jetzt wird mir die Trostlosigkeit ihrer Situation richtig klar. Der Mörder hat sich erneut eine einsame junge Frau ausgesucht, neben deren Bett niemand Wache hält. Ich greife instinktiv nach ihrer Hand, und dabei fällt mir etwas ins Auge. Der Täter hatte zwar keine Zeit, sein Hochzeitsritual zu vollenden, aber seine Visitenkarte hat er dennoch hinterlassen. Der goldene Ring an Hannahs Ringfinger passt zu dem von Sabine. Als ich ihren Namen sage, während ihre Hand schlaff in meiner liegt, zucken nicht einmal ihre Augenlider. Ich kann nur hoffen, dass sie die Kraft hat, durchzukommen, sonst wird der Mörder die zweite Braut für sich reklamieren.