Als es Abend wird, schrubbt Lily auf allen vieren den Küchenboden ihres ehemaligen Zuhauses. Sie tut es nicht Harry zuliebe, sondern um das Andenken ihrer Mutter zu ehren. Die körperliche Arbeit beruhigt sie jedoch nicht, in ihrem Kopf jagt noch immer ein Gedanke den nächsten. Sie sitzt wie auf glühenden Kohlen, als ihr Bruder endlich zur Tür hereingeschlendert kommt. Wenigstens ist er nüchtern. Von dem gefährlichen Funkeln in seinen Augen, das ihr signalisiert, dass sie sich in Sicherheit bringen sollte, ist nichts zu sehen.
»Du lebst in einem Saustall, Harry.«
»Geh mir bitte nicht auf den Wecker. Das kann ich heute nicht gebrauchen.« Er klingt sanfter als beim letzten Mal. Er sieht erschöpft aus und so, als fürchtete er sich vor etwas, was er nicht benennen will.
»Wovor hast du solche Angst?«
»Vor gar nichts. Ich hab letzte Nacht schlecht geschlafen, das ist alles.«
Sie steht auf und zeigt ihm das Polaroidfoto von Sabine. »Warum war das in deiner Jackentasche?«
»Du sollst nicht in meinen Sachen rumwühlen!«
»Hab ich auch nicht. Es lag auf dem Boden.«
Harrys Miene verfinstert sich, als sie ihm das Foto überreicht. Er hält es vorsichtig zwischen den Fingerspitzen, als könnte er sich daran verätzen. »Das ist nicht von mir.«
»Aber du hast eine Polaroidkamera, oder?«
»Die ist kaputt. Schon seit Jahren.«
Lily packt sein Handgelenk und zwingt ihn, sie anzuschauen. »Sabine ist tot, Harry. Du warst mit ihr zusammen. Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Das fing erst vor zwei Wochen an. Sie wollte nicht, dass es eure Freundschaft beeinträchtigt, wenn es zwischen uns nicht gut ausgeht. Hör zu, ich weiß, gestern habe ich gesagt, dass es nichts zu bedeuten hatte, aber ich hatte sie gern, Lily. Ich wollte sie in Riga besuchen.«
»Dann erklär mir, was passiert ist.«
»Das Foto hat jemand unter der Tür durchgeschoben, in einem Umschlag mit meinem Namen drauf.« Er schaut sie traurig an, aber er weint nicht. Er hat schon seit Jahren nicht mehr geweint. Selbst bei der Beerdigung ihrer Mutter hat er nicht eine einzige Träne vergossen. »Ich muss die ganze Zeit an den Wagen denken, den ich am Pulpit Rock gesehen hab. Vielleicht gehörte er ja dem Mörder. Es war ein SUV, aber ich kann mich nicht an die Farbe erinnern. Ich hab ihn schon überall gesucht.«
»Du kannst ihn nicht auf eigene Faust suchen – am Ende stößt dir noch etwas zu. Warum erzählst du es nicht der Polizei?«
»Die würden mich festnehmen. Ich bin hier doch eh für alles der Sündenbock. Dabei hab ich noch nie einer Frau was getan. Das weißt du doch, oder?«
»Allerdings prügelst du dich ständig im Mermaid Inn.«
Er schaut auf seine Hände. »Es tut mir leid, okay? Ich hab Dads Blut in den Adern. Ich kann nichts dagegen machen, aber ich schwöre, dass ich ihr nie weh getan habe.«
»Du hast was gesehen am Pulpit Rock, hab ich recht? Darum hast du auch wieder angefangen zu saufen, bevor irgendwer wusste, dass sie tot war.«
»Ich war betrunken, als ich dort ankam, das habe ich dir ja schon gesagt. Ich kann mich an nichts mehr erinnern, außer, dass dieser SUV weggefahren ist.«
Harry sackt auf seinem Stuhl zusammen und lässt den Kopf hängen. »Ich kann nicht noch mal ins Gefängnis gehen. Das überlebe ich nicht.«
Lily bekommt Mitgefühl, doch sie vertraut ihm nicht. Nach so vielen falschen Versprechen, nüchtern zu bleiben, klingen seine Beteuerungen nicht mehr wahr.