Die Entscheidung der Polizeibehörde von Cornwall bezüglich der Sache mit Isla bekomme ich um siebzehn Uhr auf mein Handy, bevor ich das Krankenhaus verlasse. In der E-Mail steht, dass sie weiter an dem Fall arbeiten darf, wenn ich in einer Stellungnahme ihre Unschuld bestätige. Zwar würde ich gern wissen, was sie in der Tatnacht gemacht hat, nachdem ihre Mutter schlafen gegangen war, doch bislang erscheint mir Islas Verhalten unverdächtig. Da sie zum Zeitpunkt des Angriffs auf Hannah zu Fuß auf Streife war, kann sie damit nichts zu tun haben. Das wird mir bei meinem nächsten Gespräch mit Madron den Rücken stärken. Wenn es so wirkt, als wäre die ganze Angelegenheit bereits so gut wie erledigt, ist es wahrscheinlicher, dass Madron ebenfalls seinen Segen gibt.

Als ich mich mit dem Motorrad auf den Weg zu Juliet’s Garden mache, geht die Sonne gerade unter. Am Strand von Porth Mellon entspannen sich die Leute in Liegestühlen, und die Kinder bauen vor dem Schlafengehen ihre letzten Sandburgen, als wäre die Insel ein einziger großer Spielplatz. Ich komme an der Farm der Keast-Brüder in Porthloo vorbei, wo einer meiner Freunde gerade das Scheunentor aufschiebt. Ob es Steve ist oder Paul, kann ich in der Dämmerung nicht erkennen, aber die schlanke Gestalt winkt mir zu.

ist eine leicht erhöht liegende Gruppe von weiß getünchten Cottages, direkt südlich von Carn Morval. Juliet May hat viel Zeit und Geld in den Umbau der alten Fischerhäuser in Feriencottages und in die Eröffnung eines Restaurants gesteckt, in das die Gäste den ganzen Sommer über in Scharen strömen. Einer der Mitarbeiter schließt mir das Häuschen auf, das Hannah gemietet hat. Darin sieht es überall aufgeräumt aus, abgesehen vom Schlafzimmer, wo Hausschuhe auf dem Boden herumliegen und Zeitungen und Bücher über die Frisierkommode verstreut sind. Hannah scheint mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein, denn in ihrem Schrank liegen außer Shorts, Jeans und T-Shirts nur wenige Sachen. In einem kleinen Koffer finde ich ihre Reiseunterlagen. Sie heißt mit vollem Namen Hannah Weber und ist in Berlin geboren.

Ich rufe im Krankenhaus an, um diese Informationen weiterzugeben, aber ansonsten verraten die Dokumente wenig Neues. Hannah ist Journalistin und unverheiratet. Ihr ausgedruckter Reiseplan zeigt, dass sie auf dem Landweg durch Frankreich und dann durchs Vereinigte Königreich getourt ist. Die Scilly-Inseln sind ihre letzte Station vor der Heimreise. Das einzige andere Interessante ist ein Büchlein mit handgeschriebenen Notizen, aber meine Deutschkenntnisse beschränken sich auf die Wochentage und darauf, wie man ein Bier bestellt. Es könnte ein Tagebuch sein oder ein Reisebericht. Ich nehme es mit, in der Hoffnung, dass mir jemand die letzten Seiten übersetzen kann, damit ich sehe, ob sie die Identität des Angreifers offenbaren.

Ich überprüfe alle Räume gründlich, bevor ich wieder gehe. Von diesem Cottage hat man einen schönen Blick auf den Strand von Hugh Town, wo nach und nach die

Im Polizeirevier herrscht immer noch hektische Aktivität, als ich zurückkomme. Sabines Tod hat das gesamte Team mobilisiert; niemand scheint bereit zu sein, das Gebäude zu verlassen, solange nicht alle Aufgaben erledigt sind. Isla und Eddie tippen fleißig Informationen in ihre Laptops. Selbst Lawrie Deane macht Überstunden. Üblicherweise neigt er eher dazu, das Revier um Punkt siebzehn Uhr zu verlassen, aber heute sitzt er noch an seinem Platz. Die klebrige Hitze macht ihm zu schaffen, auf seiner teigigen Haut glänzen Schweißperlen, obwohl der Ventilator auf der höchsten Stufe läuft. Der Sergeant überreicht mir schwer atmend einen Stapel neuer Zeugenaussagen. Erst als ich ihm sage, dass ein Übersetzer gebraucht wird, der Hannah Webers Notizen übersetzen kann, belebt sich seine Miene.

Deane nickt langsam. »Wir haben vier Jahre da gelebt, und als wir zurückkamen, konnte ich Deutsch einigermaßen fließend sprechen.«

»Könnten Sie da mal einen Blick reinwerfen?«, frage ich.

»Ich bin ziemlich aus der Übung, aber ich kann’s ja mal versuchen.«

Der Sergeant beugt sich mit konzentrierter Miene über das Notizbuch und liest einige Sätze in akzentfreiem Deutsch vor. »Sie schreibt übers Alleinreisen in Europa. Vor allem darüber, wo sie überall war und ob sie dort nett behandelt wurde. Sie arbeitet freiberuflich für den Spiegel

»Erwähnt sie irgendwo, dass sie bedrängt wurde?«

»Nein, nirgends.« Er blättert zur letzten Seite. »Doch, Moment, hier schreibt sie, am Vortag hätte sich ihr ein Fremder genähert, in der Nähe von Toll’s Island. Er hat ihr solches Unbehagen eingeflößt, dass sie froh war, als er wieder weg war.«

»Schreibt sie sonst noch was über ihn?«

Er schüttelt den Kopf. »Nur, dass sie Angst hatte.«

»Das ist doch schon mal ein Anfang, Lawrie. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie so sprachbegabt sind.«

»Ich kann versuchen, das ganz zu übersetzen, wenn Sie wollen.«

Als ich Deanes triumphierenden Blick sehe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Bislang habe ich ihn immer als Aktenschieber abgestempelt, der nie über den Tellerrand hinausblickt. Er könnte die Welt in einem Einbaum bereist haben, aber ich bin zu borniert, um etwas davon

Der Mörder scheint Frauen gern an die Ränder der Insel zu folgen. Toll’s Island ist eine Felsnase an der nordöstlichen Küste, wo es weit und breit kein Haus gibt, nur Ruinen einer alten Geschützstellung aus dem Englischen Bürgerkrieg. Vielleicht wollte Hannah über die historischen Stätten auf der Insel berichten und hat sich in Gefahr gebracht, weil sie allein dort hingegangen ist.

Eddie stößt einen Triumphschrei aus, als ich an seinem Schreibtisch vorbeikomme, und grinst dann zu mir hoch. »Liam Trewin hat Dreck am Stecken. Er hat letztes Jahr in Florida eine Frau belästigt, kam aber laut Aktenlage mit der Zahlung einer saftigen Geldstrafe davon.«

»War das seine Exfrau?«

»Das Opfer arbeitet als Kellnerin in einem Café in der Nähe der Spedition, die er betreibt.«

»Was für ein Arsch«, sagt Isla, die Eddie über die Schulter schaut. »Er sucht sich gezielt Frauen, die sich sein unterirdisches Verhalten gefallen lassen müssen.«

»Gibt es sonst noch was?«

»Über seine Familie findet man einiges auf Wikipedia. Sein Vater kommt aus Cornwall; der Alte hat in New York als Finanzguru Millionen gemacht, aber sein jüngster Sohn ist nie in das Unternehmen eingestiegen. Sieht so aus, als wäre er das schwarze Schaf der Familie.«

»Liz Gannick kann sich morgen früh gleich mal Trewins Hotelzimmer vornehmen. Vielleicht findet sie Beweise, die uns entgangen sind.«

»Sein Mietwagen ist sauber. Sie sagt, dass es darin keinerlei Blutspuren gab.«

»Tut mir leid, Boss, er hat sich unten am Kai losgerissen«, sagt Isla. »Ich hab versucht, ihn wieder einzufangen, aber er ist über den Strand weggerannt.«

»Der kommt zurück, wenn er Hunger hat.« Ich schaue sie an. »Kann ich Sie kurz sprechen, Isla?«

Die Constable folgt mir in Madrons Büro. Sie macht einen entspannten Eindruck auf mich, als ich sie eingehender zu dem Samstagabend befrage. Ich möchte von ihr wissen, wie lange sie noch draußen war, nachdem ihre Mutter ins Bett gegangen ist. Sie behauptet, es seien nicht einmal zehn Minuten gewesen. Seit ihrer Kindheit macht sie jeden Abend noch einen kurzen Spaziergang zum Strand, um vor dem Schlafengehen einen letzten Blick aufs Meer zu werfen. Nach unserem Gespräch bin ich beruhigt, weil ihre Geschichte exakt mit der ihrer Mutter übereinstimmt – wieder ein Argument, das ich Madron gegenüber ins Feld führen kann. Obwohl unsere Versuche, auf sie aufzupassen, ihr nach wie vor gegen den Strich zu gehen scheinen, willigt sie ein, sich von Eddie nach Hause fahren zu lassen.

Shadow ist nirgends zu sehen, als ich das Polizeirevier gegen einundzwanzig Uhr abschließe. Wahrscheinlich ruft morgen früh einer der Bauern von der Insel bei mir an, um sich zu beschweren, weil mein Hund Schafe gejagt hat. Die

Im Krankenhaus ist es still, als ich ankomme. Die Abendschicht geht gerade zu Ende, und meine Lunge füllt sich mit den Gerüchen von Jod, Krankheit und Bohnerwachs. Ich hoffe auf die Nachricht, dass Hannah Webers Zustand sich verbessert hat. Ich habe mir nicht verziehen, dass ich zu spät kam, um Sabine zu helfen, aber vielleicht erholt sich ja wenigstens das zweite Opfer wieder. Ich spähe durch die Glasscheibe in Hannahs Zimmer und sehe einen Mann an ihrem Bett sitzen. Pfarrer Michael wirkt überrascht bei meinem Eintreten; auf seinem Schoß liegt eine Bibel. Der angespannte Ausdruck in seinem Gesicht verschwindet, als ich ihn begrüße.

»Schön, Sie hier zu sehen, Herr Pfarrer.«

Sein Lächeln offenbart gelbe Zähne, so als hätten endlos viele Tassen Tee von Gemeindemitgliedern seinen Zahnschmelz angegriffen. »Ich komme hier meistens abends kurz vorbei, um zu sehen, ob die Patienten irgendetwas brauchen. Eine der Schwestern erzählte mir, die junge Frau sei überfallen worden.«

»Ja, heute Nachmittag. Ihr Name ist Hannah.«

»Die Arme muss schreckliche Angst gehabt haben.« Seine Miene wird ernst. »Als ich vor ein paar Tagen mit ihr sprach, schien sie sich hier sehr wohlzufühlen.«

»Wo haben Sie sie denn getroffen?«

»In der Nähe von Toll’s Island, bei meinem Morgenspaziergang.«

Der Pfarrer schaut mich irritiert an. »Nur ein paar Minuten. Ich habe ihr von unserem samstäglichen Morgenkaffee erzählt, eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten des Kirchendachs. Weil sie sagte, sie sei allein unterwegs, dachte ich, sie würde sich vielleicht über ein bisschen Gesellschaft freuen.«

»Das war sehr nett von Ihnen. War dort sonst noch jemand unterwegs?«

»Nicht, dass ich mich erinnern kann, aber ich musste auch zurück. Ich hatte noch Besuche bei einigen Gemeindemitgliedern vereinbart, die auf mich warteten.« Er hat seine Aufmerksamkeit bereits wieder auf die bewusstlose Frau gerichtet, was mir die Gelegenheit gibt, ihn genauer zu betrachten. Pfarrer Michael wirkt stets zufrieden mit seiner seelsorgerischen Aufgabe, und er hat eine offene, freundliche Art, aber vielleicht hat die Sprachbarriere dafür gesorgt, dass Hannah Weber seine Einladung missverstanden hat.

»Ich wünschte, ich könnte mehr für sie tun«, murmelt er.

»Mehr als ein bisschen Gesellschaft braucht sie im Augenblick nicht. Haben Sie ein Gebet für sie gesprochen?«

»Ich war gerade dabei, ein paar Psalmen vorzulesen. Die Patienten sagen immer, dass sie das beruhigt. Vielleicht ist es meine ruhige Stimme, die diese Wirkung hat, aber ich glaube, die Botschaften helfen auch ein bisschen.« Er schaut mich direkt an. »Würden Sie gern Psalm achtundzwanzig hören?«

»Ich bin nicht gläubig, Herr Pfarrer.«

Ich setze mich auf den Stuhl gegenüber. »Legen Sie los.«

Der Pfarrer muss die Textstelle auswendig kennen, denn sein Blick wandert von seiner Bibel zu Hannahs Gesicht. »Der Herr ist meine Kraft und mein Schild, mein Herz vertraut ihm. Mir wurde geholfen. Da jubelte mein Herz; ich will ihm danken mit meinem Lied.«

Ich weiß nicht, ob Hannah Weber zuhören kann oder nicht, aber er spricht mit solcher Überzeugung, dass ich ihn um seinen Glauben beneide. Seine Worte begleiten mich noch, als ich wieder auf den Flur hinaustrete, wo Ginny Tremayne wartet, um mich auf den neuesten Stand zu bringen. Sie erklärt mir, dass sich Hannahs Vitalparameter und Reflexe seit ihrer Einlieferung nicht verbessert haben.

»Wie es mit ihr weitergeht, ist völlig offen«, sagt sie. »Ich bin froh, dass Michael bei ihr ist; die Patienten sprechen immer gut auf seine Liebenswürdigkeit an.«

Bevor ich noch eine weitere Frage stellen kann, ist Ginny schon wieder verschwunden, doch als ich erneut in Hannahs Zimmer spähe, macht der Pfarrer keinerlei Anstalten, nach Hause zu gehen, obwohl es bald zweiundzwanzig Uhr ist. Er murmelt weiter seine Beschwörungsformeln, und ich kann nur hoffen, dass sein Glaube Wunder wirkt. Hannah Weber schwebt noch immer zwischen Leben und Tod, ihre Haut ist bleich wie Kerzenwachs.