Dienstag, 6. August
Die erste Stunde des Tages geht für die Verhandlungen mit der Polizeibehörde drauf. Die DCI in Penzance hat einen Anruf von Madron erhalten, der sie offenbar gebeten hat, ein Team von erfahrenen Polizisten nach St. Mary’s zu entsenden, um die Ermittlungen zu unterstützen. Sie erklärt, dass ihr Revier unterbesetzt sei, da gerade viele ihren Jahresurlaub machen; sie wird uns nicht aushelfen können. Diese Antwort löst in mir gemischte Gefühle aus: Die Inselbewohner sind schon nervös genug; ein Dutzend uniformierter Officer würde ihre Panik nur noch steigern. Ich danke ihr für ihren Anruf und fluche laut, nachdem ich aufgelegt habe. Ich könnte ein paar zusätzliche Kräfte durchaus gebrauchen, aber die Einmischung von meinem Boss bringt mich auf die Palme. Ich kann nicht fassen, dass er hinter meinem Rücken Kontakt zur Behörde auf dem Festland aufgenommen hat.
Bis Liam Trewin um zehn Uhr auf dem Revier erscheint, habe ich mich wieder beruhigt. Da die Sonne aufs Dach knallt, steigt die Temperatur im Gebäude stetig, aber die Kleidung des Amerikaners ist makellos, seine blauen Shorts und sein Polohemd sind frisch gebügelt. Ich muss mich daran erinnern, dass es außer seiner Angewohnheit, Kellnerinnen zu belästigen, keinerlei Hinweis darauf gibt, dass er in Sabines Tod verwickelt sein könnte. Allerdings gibt es noch ein paar unschöne Details von seiner Scheidung. Trewin erstarrt, als Eddie sich zu uns gesellt, und wieder fällt mir auf, wie unnatürlich das Gesicht das Mannes wirkt. Seine Haut ist straff über seine Wangenknochen gespannt. Ich warte noch eine Weile, bis ich meine erste Frage stelle; die Arbeit als Mordermittler hat mich gelehrt, wie wertvoll Stille in Vernehmungen sein kann. Durch Schweigen entstehen Lücken im Gespräch, die zu füllen Verdächtige sich verpflichtet fühlen.
»Worum geht’s hier eigentlich?«, ereifert er sich. »Ich sollte draußen sein und meine Ferien genießen.«
»Entschuldigung, Mr. Trewin. Wir möchten bloß wissen, wo Sie sich in den letzten Tagen aufgehalten haben.«
»Was ist mit meinem Recht auf einen Anwalt?«
»Sie sind nicht verhaftet. Das hier gehört nur zu unserer routinemäßigen Ermittlungsarbeit. Würden Sie uns sagen, was Sie gestern gemacht haben?«
»Um neun Uhr habe ich auf meinem Zimmer gefrühstückt«, antwortet er und errötet. »Ungefähr eine Stunde später habe ich das Hotel verlassen. Da schönes Wetter war, bin ich zur Pelistry Bay gelaufen, um zu schwimmen. Dort habe ich dann den Vormittag verbracht. Danach bin ich zu einem späten Mittagessen nach Old Town spaziert und anschließend zurück ins Hotel.«
»Sie waren zu keinem Zeitpunkt an der Ostküste der Insel?«
»Es war zu heiß. Vielleicht mache ich das mal wann anders.«
Pelistry liegt etwa zwei Meilen vom Halangy Beach entfernt, aber vielleicht hat Trewin sich die ganze Geschichte auch nur ausgedacht.
»Haben Sie irgendwen getroffen?«
»Es war niemand da, als ich das Hotel verlassen habe.«
»Haben Sie auf Ihrem Spaziergang irgendwelche Fotos gemacht?«
Er zögert und schüttelt dann den Kopf. »Ich hatte nur eine Flasche Wasser, mein Portemonnaie und meine Schwimmsachen dabei.«
»Schade, denn die Bilder hätten beweisen können, dass Ihre Geschichte stimmt. Haben Sie mit irgendwem gesprochen?«
»Ich habe keine Gesellschaft gesucht. Und mir sind weder am Porthcressa Beach noch auf dem Küstenweg zum Hotel irgendwelche Leute aufgefallen.«
»Haben Sie im letzten Jahr das Museum in Hugh Town besucht?«
»Ja, sogar mehrmals. Ich mag die Ausstellungen, die es dort über die Zeit gibt, als meine Vorfahren hier gelebt haben. Ich finde es unglaublich, wie die Bewohner es geschafft haben, eine so entlegene Insel nur durch Blumenanbau und Fischfang zu einem florierenden Ort zu machen.«
»Und durch Schmuggel«, fügt Eddie hinzu. »Das war über drei Jahrhunderte hinweg unsere Haupteinnahmequelle.«
»Ich hoffe, meine Verwandten waren gesetzestreu«, erwidert er mit einem gezwungenen Lächeln.
»Sie sind selbst schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten, stimmt’s? Würden Sie uns sagen, warum Sie im letzten Jahr vor Gericht standen?«
Trewin schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Eine Frau, mit der ich zusammen war, hat mich erpresst. Sie hat sogar unsere Beziehung bestritten.«
»Und das Gericht hat ihr das auch geglaubt, oder? Sie sind ihr mehrfach abends von der Arbeit nach Hause gefolgt. Das klingt für mich nach Stalking.«
»Das hat sie sich bloß ausgedacht.«
»Haben Sie gedacht, Sabine Bertans wäre einfacher zu kontrollieren?«
Er fährt hoch. »So einen Schwachsinn muss ich mir nicht anhören.«
»Wir haben in Ihrem Zimmer starke Schmerzmittel gefunden. Wozu brauchen Sie die?«
»Für meine Migräne. Ich leide unter der Art, die einen tagelang völlig ausknockt.«
»Drei von diesen Tabletten würden eine Frau von Sabines Statur ausknocken. Bitte sagen Sie uns, was Sie Samstagnacht gemacht haben.«
»Ich habe einen Absacker in der Hotelbar getrunken und bin dann schlafen gegangen.«
Ich werfe einen Blick auf meine Notizen. »Mein Kollege sagt, der Nachtportier hätte Sie gegen Mitternacht auf dem Parkplatz gesehen.«
Trewin blinzelt schnell. »Ich hab noch eine letzte Runde über das Hotelgrundstück gedreht, damit ich besser einschlafen konnte.«
»Das ist schon ein großer Zufall, dass eine Frau in Florida Sie wegen Belästigung anzeigt und Sabine nur Tage, nachdem Sie sie bedrängt haben, tot aufgefunden wird.«
»Ich habe Sie doch nur umworben.«
»Aber Ihre Geschenke haben keine Wirkung gezeigt, stimmt’s? Sie wollte trotzdem nichts von Ihnen wissen.« Er schweigt. »Das wäre für heute alles, Mr. Trewin. Sie können jetzt zurück ins Hotel gehen. Tut mir leid, wenn Ihr Zimmer gestern unordentlich war; wir haben es einer kriminaltechnischen Untersuchung unterzogen, aber es kann sein, dass wir noch weitersuchen müssen.«
»Sabine hat fast jeden Tag dort sauber gemacht; dabei wird sie jede verdammte Oberfläche berührt haben«, erwiderte Trewin mit kalter Wut in der Stimme.
Der Amerikaner sieht so aus, als würde er mir gern eine reinhauen. Sein Selbstbewusstsein ist verschwunden. Er scheint sich nicht mehr sicher zu sein, dass die Dinge in seinem Sinne laufen. Er grummelt, dass er sich beschweren wird, und verlässt dann mit gesenktem Kopf den Raum. Sobald er gegangen ist, kommt das Team zusammen, und wir tauschen uns aus. Die isolierte Lage des Hotelzimmers unseres Verdächtigen kann es ihm ermöglicht haben, das Grundstück in seinem Mietwagen zu verlassen, ohne dass es jemand mitbekommen hat.
Isla sieht frustriert aus, als sie von dem Stapel mit Berichten aufblickt. »Zwei andere Frauen aus dem Hotel geben an, er hätte direkt nach Sabines Tod mit ihnen geflirtet. Wenn er schuldig ist, hat er nicht lange damit gewartet, sich ein neues Opfer zu suchen.«
»Wir haben keinerlei Beweise gegen ihn«, sagt Eddie. »Vielleicht ist er nur einsam.«
Der Kommentar des Sergeant erinnert mich daran, dass einiges im Verhalten von Trewin auf unangenehme Art meinem eigenen ähnelt. Ich lebe seit fünf Jahren allein und gehe häufig in den Pub meiner Patentante auf Bryher, um nicht allein essen zu müssen, aber wenigstens stalke ich keine Kellnerinnen.
»Der Typ ist voll widerlich«, grummelt Isla.
»Da stimme ich Ihnen zu, aber mit Bauchgefühlen erreicht man keine Verurteilung. Eddie, können Sie rausfinden, ob Trewin gestern Morgen von irgendwem gesehen wurde? Wenn er gegen zehn Uhr über den Porthcressa Beach gegangen ist, könnte Linda Thomas ihn bemerkt haben, als sie die Bibliothek aufgeschlossen hat. Sie ist sehr umsichtig. Ich wette, sie erinnert sich noch an ihn – sofern er die Wahrheit sagt.«
Lawrie Deane geht Hannahs Notizbuch auf der Suche nach Informationen über ihre Aktivitäten in den letzten Tagen noch einmal durch. Er ist so darauf konzentriert, dass er kaum hochschaut, während er mir eine Nachricht ausrichtet.
»Ihr Onkel hat vorhin angerufen, Boss. Er hat gefragt, ob Sie zum Kai runterkommen können.«
Mein Onkel darf sich frei bewegen, weil er ein wasserdichtes Alibi hat: Es gibt Leute, die bezeugen, dass sein kleines Boot in der Tatnacht am Church Quay auf Bryher festgemacht war. Ich bin froh über den Vorwand, das Revier verlassen zu können. Der Frust und die Mittagshitze haben das Gebäude in einen Dampfkochtopf verwandelt. Auf meinem Weg die High Street hinunter sehe ich nur wenige Menschen; die meisten Touristen sind inzwischen abgereist. Der Mörder muss sich exponiert fühlen, seit die Bewohnerzahl deutlich geschrumpft ist und er weniger Möglichkeiten hat, um sich zu verstecken.
Als ich am Hafen ankomme, ist Ray an Bord seines Bootes, eines Kabinenkreuzers mit zwei Kojen, bei dessen Bau ich ihm in meiner Jugend geholfen habe. Sogar aus der Ferne ist erkennbar, dass mein Onkel ein Meister der Stille ist. Während andere mit ihren Handys herumspielen, kann Ray stundenlang reglos dasitzen und aufs Meer schauen. Er bewegt sich erst, als ich näher komme; er dreht seinen Kopf in meine Richtung, aber weil er eine Sonnenbrille trägt, kann ich seine Augen nicht sehen. Ich habe keine Ahnung, was ihn hierherführt, zumal in seiner Werft ein Klinkerboot auf einen neuen Anstrich wartet.
»Maggie schickt dir ein paar Vorräte«, sagt er.
»Das ist nicht nötig. Es gibt rund um das Polizeirevier jede Menge Cafés.«
»Sie fürchtet aber, du könntest ohne ihr selbst gekochtes Essen verhungern.« Er studiert meine Miene. »Wie kommt ihr in dem Fall voran?«
»Um ehrlich zu sein, nicht sonderlich gut.«
Mein Onkel überreicht mir zwei mit Essenspaketen gefüllte Tüten. Meine Patentante Maggie betreibt das Pub auf Bryher und ist davon überzeugt, dass ein Mann meiner Körpergröße nicht ohne ständige Nahrungszufuhr auskommt. Sie hat genug Vorräte für eine kleine Armee herübergeschickt.
»Ich kann nicht lange bleiben, Ray. Wir arbeiten unter Hochdruck.«
»Mach mal kurz Pause, um einen klaren Kopf zu kriegen.«
Als Ray mir bedeutet, an Bord zu kommen, betrete ich ohne weitere Widerrede das Boot. Gegen seine stille Autorität kommt man nur schwer an, selbst wenn einem seine Anweisungen gegen den Strich gehen. Mein Onkel hat es nicht eilig, mir mitzuteilen, was er mir sagen will, sondern schaut erneut aufs Wasser. Der Horizont ist ein türkis-blauer Strich; da, wo Himmel und Meer verschmelzen, sind die Wellen vollkommen flach. Als ich den Kopf in den Nacken lege, ist auch der Himmel vollkommen klar; nur eine einzelne Seeschwalbe nutzt weit über uns den Aufwind, um durch die Luft zu segeln. Nachdem wir fünf Minuten zusammen geschwiegen haben, lässt die Anspannung des Tages allmählich nach.
»Besser?«, fragt Ray.
»Absolut«, antworte ich und klettere zurück auf den Kai.
Jetzt steht auch mein Onkel auf und schiebt ein paar Hummerkörbe durch die Ladeluke. »Wusstest du, dass Nina hier Urlaub macht?«
»Warum fragst du?«
»Sie kam vor ein paar Tagen zur Werft. Ich hab ihr was zu essen gemacht und sie dann zurück zur Watermill Cove gebracht.«
Ich schaue ihn verdutzt an. »Wie lange ist sie geblieben?«
»Den ganzen Nachmittag.«
Meine Verwunderung wächst. Rays Redebeiträge sind stets kurz und einsilbig, es sei denn, er unterhält sich mit einem alten Freund oder Verwandten. Nina muss Zauberkräfte besitzen.
»Und es ist dir nie in den Sinn gekommen, mir einen Wink zu geben?«
»Das ist ihre Sache, nicht meine.« Er rollt seine Halteleine auf und lässt den Motor wieder an. »Achte in den nächsten Tagen auf das Wetter. Wir kriegen kräftigen Regen.«
»Es ist kein Wölkchen am Himmel.«
»Nicht mehr lange. Pass auf, dass dich das Unwetter nicht draußen erwischt.«
Endlich erscheint das charakteristische träge Lächeln auf seinem Gesicht, dann schippert er ohne ein weiteres Wort davon. Ich bleibe noch fünf Minuten am Kai stehen und schaue seinem kleinen Boot nach, das den Hafen verlässt und über einen Teppich aus Blau in Richtung Bryher tuckert. Rays Mitteilung ist ein typisches Beispiel für das Verhalten der Menschen auf den Inseln. Sie sind von Natur aus verschlossen, was mich daran erinnert, vor welcher Herausforderung ich stehe. An einem so kleinen Ort muss es jemanden geben, der weiß, wer der Mörder ist, doch er ist nicht bereit, mir seinen Namen zu nennen.