Von Shadow ist immer noch keine Spur zu sehen, als ich mich zur Keast-Farm aufmache. Ich gehe zu Fuß, weil ich hoffe, durch die Bewegung einen klaren Kopf zu bekommen. Es herrscht gerade Ebbe, und sobald ich an der High Street bin, laufe ich unten am Strand weiter, um neugierigen Fragen der Inselbewohner aus dem Weg zu gehen. Ich halte mich dicht an der Hafenmauer, damit ich nicht über die Halteleinen stolpere, die sich quer über den nassen Sand ziehen. Ich bin erst ungefähr fünf Minuten unterwegs, als eine große Gestalt in einem adretten Trainingsanzug auf mich zugetrabt kommt. Der ehemalige Rektor meiner Schule, Frank Rawle, dreht eine nachmittägliche Runde mit seinem Labrador, wobei der Hund mit Vorliebe durch die Pfützen aus Meerwasser springt. Rawle ist in seinen Sechzigern, aber, wie sein Tempo zeigt, glänzend in Form. Im hellen Sonnenlicht sieht sein Gesicht so zerklüftet und wettergegerbt aus, als wäre es aus dem Hang von Mount Rushmore gemeißelt. An seinem interessierten Blick erkenne ich gleich, dass er auf Informationen hofft.

»Ben«, ruft er, »wie geht’s mit den Ermittlungen voran?«

»Ganz gut, danke, lassen Sie sich nicht von mir aufhalten.«

»Ich bin froh über eine Atempause. Sind Sie auf dem Weg

»Ich mache einen Hausbesuch, reine Routine, aber wir kommen voran.«

»Mein Hilfsangebot steht, falls Sie Unterstützung brauchen. Ihr Hund war übrigens vorhin oben am Shooters’ Pool. Wussten Sie, dass er frei herumläuft?«

»Er hat sich gestern losgerissen. Shadow hasst es, eingesperrt zu sein.«

»Sie müssen ihn abrichten, das ist das A und O.« Rawle steuert auf mich zu, als wollte er seinen Rohrstock schwingen. »Zeigen Sie ihm, wer der Boss ist, sonst untergräbt er Ihre Autorität.«

»Ich hab noch nie welche besessen. Ich hab den Hund von einer Freundin geerbt, die gestorben ist. Sie hat seinen Hang zu Unabhängigkeit immer gefördert.«

»Man kann jeden Fehler korrigieren. Denken Sie dran: Ich bin da, wenn Sie etwas brauchen.«

Er steht jetzt so dicht vor mir, dass ich die vielen geplatzten Äderchen in seinen Augen sehen kann. Es erscheint mir ein bisschen seltsam, dass er uns so häufig seine Unterstützung anbietet. Vielleicht hat Sabines Tod bei ihm Erinnerungen an den Verlust seiner Tochter heraufbeschworen, die im selben Alter war, als sie starb. Ich bedanke mich für seine Hilfsbereitschaft, und er joggt weiter, aber seine Kontrollsucht beschäftigt mich noch eine Weile, während ich dem Küstenweg nach Norden folge.

Mein Spaziergang führt mich an touristischen Attraktionen vorbei, die eigentlich im Sommer stets sehr gut

»Steve«, rufe ich.

Er stellt die Eimer an der Wand ab und grinst. »Hallo, Fremder. Was willst du denn hier?«

»Ich muss kurz mit euch sprechen. Ist Paul auch da?«

»Er prüft den Boden oben auf der Weide. Der braucht Stickstoff.«

»Was auch immer das bedeutet.«

»Bleib mal bei der Polizeiarbeit, Ben. Du wärst ein schlechter Bauer, aber komm doch rein.«

Steve stellt zwei Kaffeetassen auf den Tisch und setzt sich dann entspannt auf den Stuhl gegenüber. Er ist achtunddreißig, nur zwei Jahre älter als ich, aber die Arbeit unter freiem Himmel hat seine Haut vor der Zeit altern lassen. Krähenfüße verlaufen strahlenförmig von seinen äußeren Augenwinkeln zu den Schläfen, und Lachfalten umrahmen

»Wann kommt deine neue Freundin denn mal her?«

»Such dir selbst eine, Kumpel«, sagt er mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. »Soll ich dich verkuppeln?«

»Woher weiß ich denn, dass deine Freundin nicht nur erfunden ist?«

»Du hast doch das Foto gesehen. Ich hätte es ja gern, dass sie kommt, aber sie arbeitet als Krankenpflegerin und kriegt nur selten frei.« Seine Miene wird ernst. »Wenn Paul wüsste, dass ich überlege, aufs Festland zu ziehen, würde er austicken.«

»Ach, der ist tougher, als man denkt.« Ich trinke einen Schluck Kaffee.

»Glaub ich nicht. Seit Dads Tod war er nie mehr derselbe.«

»Wir haben das alle unterschiedlich verarbeitet.« Mein Bruder hat die Rolle des Mannes im Haus übernommen, auf unsere Mum aufgepasst und sich immer angestrengt, um gute Noten zu schreiben, wohingegen ich meine Zuflucht in der Lektüre von dicken amerikanischen Romanen gesucht habe, nach denen ich seitdem süchtig bin.

»Wir entwickeln uns auseinander«, murmelt Steve. »Ich sage ihm dauernd, er soll mal eine Therapie machen, aber er weigert sich.«

»Glaubst du, er ist depressiv?«

»Weiß der Himmel, was ihm fehlt. An manchen Tagen kriegt er kaum ein Wort raus.«

»Bist du deshalb hier? Paul hat ihm nur Arbeit gegeben, weil seine Mum bei uns geputzt hat. Er hat ein weiches Herz.«

»Nein, ich bin nicht deswegen hier. Ich muss mit euch beiden über Sabine sprechen: Ihr kanntet sie ziemlich gut, oder?«

»Wir haben mit ihr trainiert wie du, aber eigentlich war’s das auch schon.«

»Irgendwer muss wissen, warum sie ermordet wurde.«

»Ich jedenfalls nicht, so viel steht fest. Ich kapiere das einfach nicht, aber Paul macht die Geschichte total zu schaffen.«

»Wie kommt’s?«

»Wie ich schon sagte, er ist sensibel.«

Als wir Kinder waren, stand ich Paul am nächsten, aber er hat sich im Laufe der Jahre unbestreitbar immer mehr in sich zurückgezogen. »Mir hat jemand erzählt, er hätte sie um ein Date gebeten.«

»Soll das ein Witz sein? Das hätte er sich nie getraut.«

Bevor Steve mehr dazu sagen kann, kommt Paul zur Tür herein. Ich weiß nicht, ob sich die beiden unbewusst oder mit Absicht fast gleich kleiden, auf jeden Fall betont das ihre Ähnlichkeit noch. Erst als Paul neben seinem Bruder Platz nimmt, werden die Unterschiede deutlich. Er ist schmaler, und seine tiefliegenden Augen sind mehr schwarz als braun; insgesamt wirkt er eher wie ein Dichter als wie ein Bauer. Die beiden Männer sitzen so nahe beieinander, dass sich ihre Schultern fast berühren, so als wären sie durch eine Nabelschnur verbunden.

»Nur beim Schwimmen.«

»Hab ich auch gesagt.«

Ich beuge mich vor, um Pauls Blick einzufangen. »Aber du hattest eine Schwäche für sie, oder?«

»Ich wette, das ging jedem Typen hier auf der Insel so.« Er errötet. Er hat es schon immer gehasst, in Verlegenheit gebracht zu werden. »Sie war zu jung für mich.«

»Aber ausgehen wolltest du trotzdem mit ihr.«

»Das war im Juni, seitdem ist eine Menge passiert.« Er wendet den Kopf ab. »Ich wusste gar nicht, dass das allgemein bekannt ist.«

»Jetzt bin ich aber platt«, unterbricht Steve ihn. »Du hast mir nie was erzählt.«

»Als wenn ich deinen Segen bräuchte«, fährt Paul ihn genervt an. »Es hätte auch eh nicht funktioniert, selbst wenn sie gewollt hätte. Sie war ja nur auf der Durchreise.«

»Was hast du denn gemacht, als sie Nein gesagt hat?«

»Distanz gehalten, nehme ich an.«

»Wann hattest du zuletzt eine Beziehung?«

»Worum geht’s hier eigentlich, Ben? Ich brauche von dir keine Ratschläge in Beziehungsfragen.« Paul spricht nur äußerst ungern über sich selbst und lenkt das Gespräch immer schnell auf jemand anders.

»Seine Ex ist jetzt mit dem Inselspinner zusammen«, sagt Steve. »Die hat ihm wirklich das Herz gebrochen, ist aber schon ein paar Jahre her.«

»Das ist eine uralte Geschichte«, sagt Paul noch gereizter. »Lass mich gefälligst für mich selbst sprechen.«

Die Wut, mit der er seinen Bruder anschaut, lässt darauf

Die Großvateruhr in der Ecke tickt plötzlich zu laut. Sie erinnert mich daran, dass Hannah Weber um ihr Leben kämpft, während der Mörder frei herumläuft und den Sonnenschein genießen kann.

»Was habt ihr beiden denn am Samstagabend gemacht?«

»Ist das dein Ernst?«, fragt Steve. »Du glaubst doch wohl nicht, dass wir ihr was angetan haben.«

Paul klingt bitter, als er wieder spricht. »Viel Vertrauen scheinst du ja nicht gerade in uns zu haben.«

»Ich muss jeden Einzelnen überprüfen. Glaubt mir, das ist nichts Persönliches.«

»Herrgott noch mal, du kennst uns, seit wir auf der Welt sind!« Paul steigert sich in seine Wut hinein, bis Steve ihm eine Hand auf den Arm legt.

»Wir waren am Samstag zum Abendessen im Atlantic«, erklärt Steve. »Gegen dreiundzwanzig Uhr sind wir zurück nach Hause gelaufen. Ich bin dann direkt ins Bett, weil ich morgens das Vieh versorgen musste.«

»Habt ihr irgendwen am Strand getroffen?«

»Nein, niemanden.« Paul klingt missmutig. »Ich bin kurz nach Steve ins Bett.«

»Darf ich mich mal umschauen? Wir durchsuchen alle Grundstücke auf St. Mary’s.«

Die Brüder nicken, doch ihre Mienen sind ernst, unser Vertrauensverhältnis hat Kratzer bekommen. Ich fühle mich unbehaglich, während ich ihr Haus absuche. Das alles

Ich lasse mir Zeit bei der Überprüfung der Scheunen und Außengebäude, finde jedoch lediglich wohlgenährtes Vieh, einen verrostenden Traktor und vor der Mauer gelagerte Pflugschare. Auch hier deutet absolut nichts auf irgendeine Gewaltanwendung hin, trotzdem hält mein Unbehagen an. Lily Jago hat behauptet, Paul wäre sauer über Sabines Ablehnung gewesen. Er hat sein ganzes bisheriges Leben auf St. Mary’s verbracht. Für den Fall, dass er jemandem etwas antun wollte, würde er hier jede Höhle kennen, die die Winterwinde in die Kliffs gegraben haben. Der Angriff auf Hannah Weber erfolgte in der Nähe der Farm – Paul könnte locker in einer halben Stunde zum Halangy Down und zurück gegangen sein, ohne dass seine Abwesenheit bemerkt wurde.