Sabine beendet ihre Schicht um Mitternacht. Sie ist froh, als sie den letzten Drink ausschenken und die Hotelgäste vor ihren Likörgläsern zurücklassen kann. Der Nachtportier ersetzt sie hinter dem Tresen. Die junge Frau schlüpft in den ummauerten Garten hinaus; dort konkurriert der süße Duft der Rosen mit dem Salzgeruch, der vom Meer heraufzieht. Als sie noch mal zum Hotel zurückschaut, kann sie sich leicht vorstellen, wie es vor fünfhundert Jahren ausgesehen haben muss. Die alte Festung liegt hoch über dem Strand und schützte St. Mary’s mit ihren dicken Mauern vor Invasionen. Sabine durchquert die Anlage rasch bis zu dem Gebäude, in dem die Mitarbeiter untergebracht sind, aber als sie dort ankommt, ist sie enttäuscht. Niemand erwartet sie, nur der leere Korridor, in dem ihre Schritte widerhallen.

Doch ihre Laune hebt sich wieder, als sie einen Zettel findet, den jemand unter ihrer Tür durchgeschoben hat. Darauf steht in leuchtend roten Großbuchstaben:

KOMM ZUM LEUCHTTURM

Sie stellt das Fahrrad auf dem Rasen ab und verharrt, um die Stille zu genießen. Das ist der erste Moment, den sie für sich hat, seit sie mit ihrer Freundin Lily und den anderen Hotelmitarbeitern zusammen gefrühstückt hat. Die Landzunge wird hier unten von den Gezeiten des Atlantiks umspült und ist der romantischste Ort auf St. Mary’s. Große Felsformationen ragen wie Silhouetten von Riesen über der Küstenlinie auf, aber wenn ihr neuer Freund kommt, wird die Landschaft vergessen sein. Sie werden Wein trinken oder nackt im Meer baden, und dann werden sie sich am Strand lieben wie beim letzten Mal. Sie weiß, dass er keine gute Wahl ist, aber die Anziehung ist zu groß, als dass sie sie ignorieren könnte. Sabine schließt die Augen und stellt sich vor, wie er sie im Arm hält, während der Leuchtturm seinen Lichtschein über den Ozean wirft.

Sabine träumt noch vor sich hin, als jemand ihren Namen

»Hey, aufhören!«, sagt sie lachend. »Das blendet doch.«

Aber sie erhält keine Antwort, und dann knallt etwas mit voller Wucht gegen ihren Kopf. Das Licht schwindet, und ihre Gedanken zersplittern, bis Stille herrscht. Sie bekommt kaum noch etwas mit, als ihr Körper durch die Heidelandschaft geschleift wird.

Als Sabine wieder aufwacht, kann sie nicht sagen, wie lange sie ohne Bewusstsein war. Sie verspürt einen dumpfen Schmerz in der Schläfe, aber keine Panik. Sie weiß, dass auf einer so kleinen Insel nichts Schlimmes passieren kann, doch als sie die Augen aufzuschlagen versucht, bleibt es dunkel. Um ihre Taille ist enger Stoff gewickelt worden, der ihr das Atmen schwer macht. In ihren Lungen ist so wenig Luft, dass sie das Gefühl hat zu ersticken. Sie mobilisiert all ihre Kraft, und trotzdem hängen ihre Arme weiter einfach nutzlos herab, und eine gedämpfte Stimme zischt ihr ins Ohr.

»Halt still! Du ruinierst mein Werk.«

»Lassen Sie mich gehen. Bitte. Sie tun mir weh.«

»Sei tapfer, Schätzchen. Deine Haare müssen doch schön aussehen an deinem großen Tag.«

Ein Kamm fährt ihr durch die Locken so wie früher, als ihre Mutter ihr jeden Morgen vor der Schule die Haare gebürstet hat. Doch diese Gesten jetzt sind grob, und es werden ihr so viele Haare ausgerissen, dass ihr der Schädel brennt. Sabine ruft mit vor Schmerz und Angst schriller Stimme um Hilfe, aber die einzige Antwort, die sie bekommt, ist ein hässliches Lachen.