Um zwanzig Uhr schicke ich das letzte Mitglied meines Teams nach Hause, und das kalte Hühnchen mit Nudelsalat, das Maggie mir von Ray bringen ließ, ist so gut wie aufgegessen. Eddie wirkt enttäuscht, dass er gehen soll, aber er muss morgen unbedingt fit sein. Ich werde noch eine letzte Aufgabe hinter mich bringen, bevor ich mich mit Liz Gannick im Hotel treffe. Als ich die Nummer von meinem Boss in Frankreich wähle, knistert es in der Leitung. DCI Madron lauscht mir schweigend, während ich ihn auf den neuesten Stand bringe. Wenn er enttäuscht ist zu hören, dass eine weitere Frau attackiert wurde, behält er es für sich. Auf meine Schilderung unserer Bemühungen, die Insulaner zu schützen und eine Verbindung zwischen den Opfern zu finden, folgt von ihm zustimmendes Grummeln, aber als ich von Islas One-Night-Stand mit Sabine Bertans erzähle, ist er weniger erfreut. Erst als ich ihm sage, dass die Polizei von Cornwall Islas weiteren Einsatz befürwortet, akzeptiert er, dass sie an den Ermittlungen teilnimmt. Er bietet an, früher zurückzukommen, aber ich lehne ab. Seine Neigung zu einem autoritären, detailversessenen Führungsstil würde die Ermittlung nur behindern.
Als ich mich verabschiede, tun mir die Schultern weh, die Anspannung des Tages hat sich in meinem Körper festgesetzt. Ich schreibe eine persönliche Empfehlung, in der ich bestätige, dass Isla in meinem Team bleiben soll, dann sehe ich zufällig mein Spiegelbild: Aus dem dunklen Fenster starrt mir ein finster dreinschauender, schwarzhaariger Goliath entgegen, der über eine Mappe mit Zeugenaussagen gebeugt ist. Sabine Bertans’ Ermordung hat in den drei Tagen, die seither vergangen sind, einen großen Stapel Papier produziert, trotzdem sind wir noch kein Stück weitergekommen. Ich betrachte die Häuser gegenüber, deren Lichter durch die Dunkelheit dringen. Der Mörder ist womöglich mitten unter uns und doch unsichtbar; er könnte sogar verheiratet sein und die Fähigkeit eines Psychopathen besitzen, ein Doppelleben zu führen.
Meine Sorge wächst beständig. Sabines Mörder hat nur achtundvierzig Stunden gewartet, bis er sich ein neues Opfer gesucht hat, und mir ist wieder eingefallen, was ich während meiner Ausbildung in der Vorlesung eines Kriminalpsychologen gelernt habe. Der hat damals erklärt, über die Abstände zwischen den Taten könne man auf die psychische Verfassung eines Mörders schließen. Eine kurze Zeitspanne dazwischen zeige Selbstbewusstsein an und einen starken Drang, anderen Schmerz zuzufügen. Ich reibe mir den Nasenrücken, um die Anspannung wegzumassieren, aber in meinem Kopf arbeitet es pausenlos weiter. Ich kann nicht vergessen, dass der Mörder jetzt wahrscheinlich gemütlich zu Hause vor dem Fernseher sitzt und die Füße hochgelegt hat.
Den Weg zum Hotel laufe ich extra schnell zurück, aber auch das reicht nicht aus, um mich zu entspannen. Als ich an Liz Gannicks Tür klopfe, läuft andere Musik. Die Motown-Hits von gestern sind einer englischen Ballade gewichen, und Scott Matthews eindringliche Stimme hallt durch den Flur. Gannick ist über ihr Mikroskop gebeugt, als ich eintrete, und zu konzentriert, um aufzublicken. Sie starrt noch eine ganze Weile auf ihren Objektträger, bis sie schließlich eine Begrüßung murmelt.
»Auf dem Tisch steht Wein, aber lassen Sie noch was für mich übrig.«
»Dann versuche ich, nicht gleich die ganze Flasche auszutrinken.«
Ich trinke lieber Bier, aber heute Abend ist mir das egal. Der Rioja schmeckt grün und sauer beim ersten Schluck, aber ich nehme ihn ein wie Medizin und sinke dann auf einen Stuhl. Irgendwann lässt Gannick ihre Arbeit ruhen und schwingt sich auf ihren Krücken durchs Zimmer. Ihre körperliche Fitness beschämt mich. Es ist fast zweiundzwanzig Uhr, aber sie sieht immer noch hellwach aus, so als wäre Schlaf nur etwas, das Normalsterbliche brauchen.
»Ich hoffe, Sie bringen gute Nachrichten«, presst sie hervor.
»Warum?«
»Der Innenraum von Liam Trewins Mietwagen wurde gleich nach der Rückgabe gereinigt. Die Leute von der Mietwagenfirma sagen, ihnen wäre nichts Ungewöhnliches aufgefallen, als er ihn zurückbrachte. Bei einer einfachen Reinigung werden nicht unbedingt die Art von Spuren entfernt, die ich finden kann, aber es gab in dem Kofferraum kaum eine Faser, die da nicht hingehörte, und das Wageninnere war auch blitzsauber.«
»Was ist mit seinem Zimmer?«
»Da konnte ich mit meiner UV-Lampe auch nichts entdecken. Allerdings kann er sie ja auch woanders umgebracht haben, oder?«
»Er ist erst seit wenigen Wochen hier. Wie soll er da abgelegene Verstecke kennen? Es muss ewig gedauert haben, sie in dieses Brautkleid zu kriegen und zu schminken. Draußen wäre das noch mühsamer gewesen.«
»Was ist mit aufgegebenen landwirtschaftlichen Gebäuden?«
»Die meisten davon sind in Ferienhäuser umgewandelt worden. Man müsste sich hier schon sehr gut auskennen, um ein leerstehendes Gebäude zu finden.«
»Gareth Keillor hat mir die toxikologischen Befunde durchgegeben. Außer Spuren von Alkohol war nichts in Sabines Blut; wahrscheinlich hat sie bei ihrer Arbeit hinter dem Tresen ein Glas Wein getrunken. Vicodin konnte keines nachgewiesen werden. Ich hatte gehofft, Hautzellen unter ihren Nägeln zu finden, aber nichts deutet darauf hin, dass sie sich gegen ihren Angreifer gewehrt hat. Deshalb gehe ich davon aus, dass sie von hinten niedergeschlagen wurde und ihr die Hände gefesselt wurden, während sie bewusstlos war.«
»Trewin betrachtet Frauen als Beute, die es zu erlegen gilt.« Ich reibe mir wieder den Nacken, um die Verspannung zu lösen. »Aber das macht ihn noch nicht zum brutalen Mörder.«
»In einem Zimmer habe ich ein paar Haare auf dem Teppich gefunden. Sie sind lang und dunkel wie die von Sabine, aber ich mache noch einen DNA-Test, um sicherzugehen.«
»Damit kriegen wir ihn nicht. Die Hotelangestellten sind jeden Tag für andere Aufgaben eingeteilt, und Sabine hat morgens meistens als Zimmermädchen gearbeitet.«
Gannick seufzt laut. »Die Manager sind ganz schöne Ausbeuter, oder? Ich wette, die jungen Leute kriegen alle nur den Mindestlohn.«
»Haben Sie sonst noch was gefunden?«
»Vier unterschiedliche Fingerabdrücke in Sabines Zimmer. Werden schon auf Treffer in der Datenbank überprüft.«
»Ich lasse morgen vom gesamten Hotelpersonal Fingerabdrücke nehmen. Wir wissen, dass sich mindestens eine Freundin gelegentlich nach der Arbeit in Sabines Zimmer aufgehalten hat, aber einen Versuch ist es wert.« Ich trinke mein Glas aus. »Ein Freund von mir hat das Opfer kurz nach seiner Ankunft zum Essen eingeladen. Sie hat ihm eine Abfuhr erteilt, womit wir also eine neue Spur haben, der wir nachgehen können.«
»Was wollen Sie denn jetzt machen?«
»Ihn erst mal nur überwachen. Paul ist hochangesehen bei den anderen Insulanern. Er gehört zur Crew der Seenotrettung und ist seit einem Jahr oder so Hilfspolizist.«
»Selbst Helden begehen Verbrechen.« Gannicks elfenhaft zartes Gesicht sieht älter aus, als sie fortfährt: »Ich fürchte, was das Brautkleid angeht, habe ich ebenfalls schlechte Nachrichten. Die Behandlung mit dem Joddampf hat zwar Fingerabdrücke zutage gefördert, aber die sind zu unscharf, als dass man sie richtig erkennen könnte. Bislang konnte ich erst fünf Autos von denen, die auf der Verdächtigenliste stehen, auf Blutspuren untersuchen. Und die waren sauber. Morgen nehme ich mir dann den Rest vor.«
»Wir kriegen ihn, Liz. Ihre makellose Erfolgsbilanz wird nicht getrübt.«
Sie lacht auf. »Ihre Weste kriegt Flecken, wenn wir’s nicht schaffen, nicht meine. Hatten Sie denn wenigstens bei der Suche nach dem Handy Glück?«
»Es lässt sich nicht mehr orten. Da wir die gesamte Gegend um den Garrison schon zweimal ohne Ergebnis abgegrast haben, konzentriere ich mich jetzt auf die Beweise, die wir vor uns haben.«
»Verstehe.« Dann weist sie abrupt mit dem Kopf auf die Tür. »Und jetzt raus mit Ihnen. Lassen Sie mich den Wein austrinken. Meine Augen schmerzen von dem verdammten Mikroskop.«
»Dann bestellen Sie sich aber was zu essen dazu, sonst geht’s Ihnen morgen dreckig.«
»Hören Sie auf, mich zu bemuttern. Sie klingen schon wie mein Mann.«
Gannick verrät so selten etwas über ihr Privatleben, dass ich völlig perplex bin. »Ich wusste gar nicht, dass Sie verheiratet sind.«
»Der arme Kerl hält’s schon seit fünfzehn Jahren mit mir aus.«
»Wo ist Ihr Ring?«
»Wer braucht denn so was? Ob ich verheiratet bin oder nicht, das geht andere einen Scheiß an.«
»Sie sind wirklich ausnehmend charmant, Liz.« Ich grinse zum Abschied. »Ihr Mann kann sich glücklich schätzen.«
Scott Matthews Stimme dringt mit jedem Ton klarer durch die Wand zwischen uns. Unsere Zusammenarbeit hat Gannick und mich in die gleiche räumliche Nähe gezwungen wie die Keast-Brüder. Als Kinder schienen sie es toll zu finden, immer zusammen zu sein. Aber inzwischen zeigen sich Risse in ihrem Verhältnis, und Pauls Wut dringt zu guter Letzt doch noch an die Oberfläche.
Ich reiße das Fenster auf, in der Hoffnung, mit dem Geruch nach Möbelpolitur und neuem Teppich auch einen Teil meines Frusts loszuwerden. Mein Blick gleitet suchend über das Hotelgelände, aber Shadow ist nirgends zu sehen. Nach dem Tod meiner ehemaligen Kollegin ging er mir zuerst höllisch auf die Nerven, aber trotzdem konnte ich mich nicht überwinden, ihn ins nächste Tierheim zu bringen. Und seitdem ist er mir ans Herz gewachsen; auch wenn seine Ausgelassenheit anstrengend sein kann, bin ich gern mit ihm zusammen. So lange ist er bislang noch nie weggeblieben.
»Wo, zum Teufel, steckst du?«
Ich beuge mich aus dem Fenster und schaue zu, wie der Leuchtturm alle neunzig Sekunden eine neue weiße Linie übers Meer zieht. Vielleicht ist Shadow am Strand von der Flut überrascht worden, nachdem er den ganzen Tag Fischkadaver ausgegraben und picknickende Touristen angeschnorrt hat. Ich ziehe ein Sweatshirt über und gehe wieder nach unten. Bei einem Spaziergang kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, nämlich die aufgestaute Energie des Tages loswerden und zugleich nach Shadow suchen.
Die Treppe, die vom Hotelgarten zum Strand hinunterführt, wird von elektrischen Lichtern erhellt, doch kaum bin ich unten angekommen, verschluckt mich die Dunkelheit. Auf den Scilly-Inseln gibt es so gut wie keine Lichtverschmutzung. Der Nachthimmel sieht aus wie eine Stoffbahn aus Samt mit Millionen von winzig kleinen Sternen. Sie werfen ein fahles Licht auf die Landzunge, wo die Flut bereits einen Großteil des Strands für sich in Anspruch nimmt und nur noch einen schmalen Streifen Kies übrig gelassen hat. Außer den ausrollenden Brechern und dem angehaltenen Atem der Flut ist kein Laut zu hören. Ich bleibe stehen und rufe nach meinem Hund, da bemerke ich Schritte. Irgendjemand geht schnell über den Kies. Die Lichter des Hotels liegen hinter mir, und die Dunkelheit ist noch undurchdringlicher geworden. Das Einzige, was ich sehe, sind die Schaumkronen auf den Scheiteln der Wellen in der Ferne, die vom Mondlicht versilbert werden.
»Wer ist da?«, rufe ich.
Von der Felswand über mir wird Stille zurückgeworfen. Vielleicht habe ich mir die Geräusche eingebildet, weil angesichts unseres schleppenden Vorankommens die Nerven mit mir durchgehen. Aber als die Schritte wieder zu hören sind, sind sie schneller als zuvor, und es klingt, als würde jemand über den Strand vor mir davonrennen. Nach den schnellen, leichten Schritten zu urteilen, ist es jemand, der gut in Form zu sein scheint. Da ich nichts sehen kann, hat es jedoch keinen Sinn, die Verfolgung aufzunehmen.
»Du verdammter Feigling!«
Ich schreie die Worte nur für mich selbst in die schwarze Nacht hinaus. Ich bin sicher, dass derjenige, der mir gefolgt ist, sich dazu entschieden hat, nicht anzugreifen. Vielleicht hat meine Körpergröße mir ausnahmsweise einen Vorteil verschafft: Wenn der Mörder vorhatte, mich bewusstlos zu schlagen wie seine weiblichen Opfer, hätte er einen langen Arm haben müssen. Nach und nach gewöhnen sich meine Augen an die Finsternis, und ich erkenne am Horizont die scharfen Spitzen der Serica Rocks. Mein Verfolger ist weg, und das Einzige, was geblieben ist, ist meine zunehmende Gewissheit, dass Sabines Mörder die Gegend kennt wie seine Westentasche.