Mittwoch, 7. August
Es ist nach Mitternacht, als Lily aus einem Albtraum erwacht. Sie hat Sabine im Meer schwimmen sehen, hohe Wellen zogen ihre Freundin unter Wasser, während sie selbst nur zuschauen konnte. Zitternd setzt Lily sich auf und greift instinktiv zu ihrem Handy. Sie muss jetzt eine vertraute Stimme hören, die ihr sagt, dass sie in Sicherheit ist, doch ihr Bruder klingt wütend, als er endlich drangeht.
»Warum rufst du so spät noch an?«
»Ich hatte einen schlimmen Traum wegen Sabine.«
Sie hört ihn leise fluchen. »Dann versuch, Schafe zu zählen, aber lass mich in Ruhe.«
»Wusstest du, dass am Montag wieder eine Frau attackiert wurde?«
Es entsteht eine Pause, bevor er antwortet: »Ich hab wirklich größere Sorgen, Lily.«
Als sie genauer hinhört, fällt ihr auf, dass sie nicht nur die Stimme ihres Bruders, sondern auch Wellenrauschen und Seewind hört. »Wo bist du?«
»Zu Hause im Bett.«
»Du lügst. Du suchst nach dem Auto, das du gesehen hast, stimmt’s?«
»Halt du dich da raus.«
»Geh nach Hause, bevor dir was passiert, Harry!«
Lily hört ihn wieder fluchen, dann ist die Leitung tot. Als sie erneut Harrys Nummer wählt, landet sie gleich auf der Mailbox, und ihre Hände zittern noch mehr als vorher. Sie versucht, sich zu beruhigen. Sie steckt in einem Loyalitätskonflikt, fühlt sich ihrer Freundin genauso verpflichtet wie ihrem Bruder. Sie sollte den Zettel, den er Sabine unter der Tür durchgeschoben hat, am Morgen zum Polizeirevier bringen, aber dann wäre Harry mit Sicherheit stocksauer. Ihr schlechtes Gewissen lässt ihr keine Ruhe. Sie legt sich wieder hin, und als draußen vor ihrem Fenster die ersten Seemöwen schreien, ist Lily noch immer hellwach.