Ich erwache mit Spannungskopfschmerzen, die hinter meinen Augen pulsieren. Wenn ich noch in London wäre, würde mein Chef darauf bestehen, dass das Team seine Erlebnisse mit einem Psychologen bespricht; schließlich waren wir alle mit einem bizarren Tatort konfrontiert. Aber hier gibt es keinen offiziellen Support. Sobald der Fall abgeschlossen ist, werde ich Jeff Pendelow bitten, mit allen Mitglieder meines Teams Einzelgespräche zu führen. Aber ich muss unbedingt mit irgendjemandem sprechen, bevor ich zur Arbeit gehe. Meinen Bruder Ian in New York kann ich nicht anrufen, denn dort herrscht gerade finstere Nacht, aber in Indien ist es jetzt mitten am Tag, und meine beste Freundin wird schon seit Stunden auf den Beinen sein. Ich nehme meinen Laptop, starte via Skype einen Videoanruf in Mumbai und bin sofort erleichtert, als Zoes sorglose Miene auf meinem Bildschirm erscheint. Die Anspannung in meinen Schultern löst sich. Zoe sieht aus wie die junge Marilyn Monroe und könnte mit ihrem Lächeln einen ganzen Raum erhellen. Als Jugendlicher war ich total in sie verknallt, aber aus der Verliebtheit hat sich eine lebenslange Freundschaft entwickelt.
»Hallo, großer Mann, du lebst ja doch noch. Warum hast du nie zurückgerufen?«
»Ach, hier herrscht gerade absolutes Chaos.«
Letzten Monat habe ich fast meinen ganzen Jahresurlaub verpulvert, um zu ihrer Hochzeit nach Indien zu reisen. Eigentlich wollte ich den Mann ja hassen, der ihr Herz während ihres Aufenthalts als Musiklehrerin in Mumbai im Sturm erobert hat, aber Devs freundliches Lächeln machte das unmöglich. Die aufwendige Hochzeitszeremonie hat mir noch einmal klargemacht, wie weit meine Freundin jetzt von den Scilly-Inseln entfernt ist, aber das Grinsen auf ihrem Gesicht beweist, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Sie beugt sich zum Bildschirm vor und beäugt mich kritisch.
»Was ist los? Du rufst doch sonst nie so früh an.«
»Ich habe einen anstrengenden Fall. Ich wollte nur mal deine Stimme hören.«
»Na dann, schieß los. Was ist passiert?«
»Eine Mitarbeiterin des Star Castle, die nur für den Sommer hier war, ist ermordet worden.«
Zoes Augen weiten sich. »Ist der Mörder noch auf St. Mary’s?«
»Definitiv.«
»Und auf deinen Schultern lastet mal wieder der gesamte Druck.«
»Yup.«
»Kein Wunder, dass du angespannt bist. Aber dich bedrückt noch was anderes, oder?« Sie beugt sich noch näher heran, als hätte sie vor, durch meinen Bildschirm zu springen.
»Die Arbeit ist im Augenblick ein echter Stress, das ist alles.«
»Es muss was Privates sein – spuck’s aus, sonst singe ich Kylie-Minogue-Songs, und zwar so laut ich kann.«
»O nein, bitte nicht.«
Sie schmettert die erste Zeile eines kitschigen Pop-Songs und zwingt mich so zur Kapitulation. »Nina Jackson ist gerade auf St. Mary’s.«
Ihr Lächeln wird breiter. »Hast du sie eingeladen?«
»Um Himmels willen, nein! Warum sollte ich?«
»Sie hat es geschafft, in deinem kugelsicheren Herzen ein paar Dellen zu hinterlassen. Sonst kommst du immer unbeschadet davon, aber bei Nina hast du Federn lassen müssen.«
»Vergiss es. Wie waren deine Flitterwochen?«
»Toll, danke. Warum lädst du sie nicht mal zum Essen ein?«
»Gott, du bist ja wirklich gnadenlos.«
»Reserviere einen Tisch im Ruin Beach Café und lass deinen männlichen Charme spielen.«
»Kann ich nicht. Es gibt keinen Fährverkehr nach Tresco, und mein Charisma hat beim letzten Mal auch nicht viel ausrichten können.«
»Die Frau muss doch sehen, dass du eine Mischung aus Chris Hemsworth und Ryan Gosling bist.«
»Vielleicht geht sie nicht ins Kino.«
»Es war schon beim ersten Mal verrückt von dir, sie ziehen zu lassen. Versprich mir, dass du sie zumindest besuchst.« Zoe kann immer noch meine Gedanken lesen, obwohl sie fünftausend Meilen entfernt ist. »Du willst doch eine eigene Familie, oder?«
»Ja, eines Tages.«
»Das passiert aber nicht durch Zauberei, Ben. Du musst die richtige Frau finden.«
»Echt jetzt? Das wusste ich nicht.«
Zoe ignoriert meinen Sarkasmus und bearbeitet mich weiter, von sanften Sticheleinheiten bis zu hin zu unverhohlener emotionaler Erpressung, aber irgendwann geht sie dann doch dazu über, mir von ihren Flitterwochen in Kerala zu erzählen. Ihre Schilderungen von verlassenen Stränden, dem azurblauen Meer und faulen Tagen in der Hängematte erfüllen mich mit Neid. Als ich durch die Vorhänge nach draußen spähe, ist der Himmel von fedrigen Zirruswolken durchzogen, die den Atlantik perlgrau erscheinen lassen. Hier wechselt das Wetter manchmal von einem Moment auf den anderen und liefert einem alle vier Jahreszeiten an einem Tag. Am Ende unseres Gesprächs bin ich guter Dinge, doch während Zoe in erster Linie mein Liebesleben in Ordnung bringen will, ist meine oberste Priorität die Mordermittlung. Und selbst wenn ich mal freihätte – warum sollte ich jemandem nachstellen, der es vorzieht, allein zu sein?
Ich denke noch über Zoes Ratschlag nach, als eine Nachricht aus dem Krankenhaus eintrifft. Hannah Webers Zustand bleibt ernst, ist aber stabil, über Nacht gab es keinerlei Veränderung. Ich habe Isla damit beauftragt, Hannah Webers Verwandte ausfindig zu machen, aber das ist offenbar gar nicht so einfach.
Um sieben Uhr gehe ich nach unten in den noch menschenleeren Speiseraum. In der Küche wird mit Töpfen geklappert, es dauert jedoch noch eine ganze Stunde, bis das Frühstück serviert wird. Ich würde vor der Arbeit gern etwas essen, aber bevor ich dem Koch einen Toast aus den Rippen leiern kann, erscheint plötzlich Rhianna Polkerris in der Tür. Ihre grünen Augen schauen ausnahmsweise mal nicht durch mich hindurch, sondern ihr Blick durchbohrt mich geradezu. Ihr Erscheinungsbild ist von den blonden Haaren, die ihr über den Rücken fallen, bis zum blutroten Lippenstift auf Perfektion getrimmt, das Seidenkleid sitzt wie angegossen. Ich bin überrascht, als sie sich herablässt, mit mir zu sprechen, denn bis jetzt hat die Frau mich wie einen Schubabtreter behandelt.
»Setzen Sie sich, Ben. Ich organisieren Ihnen ein Frühstück.«
»Das wäre toll, danke.«
Rhianna stolziert durch den Speisesaal und signalisiert durch ihre Körpersprache, dass das Hotel ihr eigenes Reich ist, was Tom bestimmt ärgert, da die beiden um die Macht wetteifern. Wenig später kommt sie mit einer Kaffeekanne und zwei Porzellantassen zurück.
»Sie sind meine Rettung«, sage ich zu ihr, und das ist kaum übertrieben. Ich brauche riesige Mengen Koffein, um richtig wach zu werden.
»Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?« Bevor ich antworten kann, sitzt sie schon auf dem Platz gegenüber. »Ich sollte mich entschuldigen, dass ich so entnervt war, als Sie uns erzählt haben, was mit Sabine passiert ist. Das Hotel wird nächsten Monat für die British Travel Awards bewertet, und wir haben uns alle schwer ins Zeug gelegt, damit hier alles tipptopp ist.«
»Ich bin sicher, Sie werden gut abschneiden. Das Haus ist beeindruckend.«
»Wenn man im Hotel arbeitet, bekommt man schnell einen Tunnelblick.« Ihre Tonlage ist sanfter als zuvor. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass Sabine wirklich tot sein soll.«
Jetzt zeigen sich Gefühle auf ihrem Gesicht, und mir wird klar, dass sie vielleicht doch nicht so stahlhart ist. In ihren Porzellanpuppenaugen stehen Tränen, die sie aber schnell wegblinzelt.
»Die ganze Gemeinde steht unter Schock, und die Zusammenarbeit mit Tom ist sicher nicht jeden Tag ein Zuckerschlecken. Ich wette, die meisten Ehepaare zerstreiten sich irgendwann.«
Sie blickt stirnrunzelnd auf den diamantenen Verlobungsring und den breiten goldenen Ehering an ihrem Finger. »Wir haben gerade mal zehn Jahre geschafft.«
»Hatten Sie eine große Hochzeit?«
»Ja, mit allem Drum und Dran. Sogar mit Blumenmädchen und einem weißen Rolls Royce. Ich hab früher als Hochzeitsplanerin gearbeitet, aber auch eine märchenhaft schöne Trauung ist keine Garantie dafür, dass es gut geht.«
»Ich kann nicht nachvollziehen, warum es reizvoll sein sollte, seine gesamten Ersparnisse an einem einzigen Tag rauszuhauen.«
»Ich habe Jahre gebraucht, um das zu realisieren.« Sie umfasst ihre Tasse mit beiden Händen. Es erstaunt mich, dass sie einem Fremden ihre Ehezwistigkeiten offenbart. »Mir ist noch was zu Sabine eingefallen, es kann aber auch sein, dass es ohne Bedeutung ist. Ich hab sie an ihrem freien Nachmittag letzten Donnerstag in der Porthloo Bay auf einem Motorboot gesehen. Es fuhr so schnell, dass ich stehen geblieben bin, um es zu beobachten. Harry Jago saß am Steuer.«
»Interessant.«
»Das ist mir eben erst wieder eingefallen. Die ganze Geschichte hat mich so durcheinandergebracht, dass ich es vergessen habe.« Sie nippt vorsichtig an ihrem Kaffee. »Wie kommen Sie denn mit der Ermittlung voran?«
»Es gibt einige konkrete Anhaltspunkte, denen wir nachgehen.«
»Und Verdächtige?«
»Ich fürchte, Details darf ich Ihnen keine verraten.«
Sie errötet. »Tut mir leid, wir warten nur so dringend auf Neuigkeiten.«
»Werden Sie bald bekommen, versprochen. Ich muss heute Morgen von allen, die hier arbeiten, Fingerabdrücke nehmen lassen. Ich hoffe, das ist okay.«
»Auch von mir und Tom?«
»Ja, bitte.«
»Gut, ich sorge dafür, dass alle Bescheid wissen. Sie können das gern oben in der Lounge machen.« Sie steht auf und streicht ihr Kleid glatt.
»Sie haben nicht zufällig meinen Hund gesehen, oder?«
»Montagabend war er draußen vor der Küche, aber danach hab ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Würden Sie mich bitte anrufen, wenn er wieder auftaucht?«
»Natürlich, wir haben Ihre Nummer ja in unserem System.« Sie schaut genau in dem Moment auf die Uhr, als die Kellnerin eine riesige Platte mit Essen hereinträgt. »Ich wünsche Ihnen guten Appetit.«
Unsere Unterhaltung gibt mir zu denken, während ich Bacon, Eier und Würstchen in mich reinschaufele. Ich muss dringend mit Harry Jago sprechen – und mein Hund meidet mich aus unerfindlichen Gründen. Rhiannas Verhalten ist mir ebenfalls ein Rätsel. Anscheinend liebt sie ihren Mann nicht mehr, und außerdem war sie zu neugierig, was den Fall angeht, aber vielleicht will sie nur schnellstmöglich wissen, wann der normale Hotelbetrieb weitergehen kann.
Als ich das Hotel verlasse, ist es immer noch früh. Ich suche die engen Straßen von Hugh Town nach Shadow ab, doch er ist nirgends zu sehen. Bis zur Öffnung der Läden wird es hier ruhig sein. Die wenigen verbliebenen Urlauber stehen wahrscheinlich eher spät auf und verlassen ihre Hotels und Gästehäuser erst irgendwann im Laufe des Vormittags. Mein kurzer Spaziergang führt mich in die Strand. Harry Jago wohnt im letzten Haus der Straße. Es ist ein Mietshaus, und obwohl auf der Fußmatte »Willkommen« steht, wirkt es wenig einladend. Ich klopfe an die Tür. Sie ist nicht verschlossen, und als sie aufschwingt, wehen mir warme Luft und der Gestank des Essens von gestern entgegen. Der Couchtisch im Wohnzimmer steht voller leerer Bierflaschen und Pizzakartons. Ich habe keine Ahnung, wovon Harry seit dem Tod seiner Mutter die Miete bestreitet. Seine Tage verbringt er damit, Touristen zu den örtlichen Buchten zu schippern, aber im Winter, wenn es deutlich weniger Gelegenheitsjobs gibt, wird sein Einkommen drastisch sinken. Ich rufe noch einmal laut nach Harry, doch es dringt nur die nörgelnde Stimme eines alten Mannes durch die Wand zu mir.
»Können Sie nicht mal mit dem Radau aufhören?«
Kurz darauf steht Stuart Helyer im Flur. Seit er vor vierzig Jahren als Hummerfischer gearbeitet hat, wohnt er mit seiner Frau Esme im Haus nebenan. Aber Helyer ist schon Rentner, solange ich auf der Welt bin. Er behauptet, der älteste Bewohner von St. Mary’s zu sein, ist aber in einer zu guten Verfassung, um wirklich so alt sein zu können. Er trägt noch Pyjama und Morgenmantel und mustert mich ruhig mit seinen wässrigen Augen. Seine weißen Haare stehen ihm in dicken Büscheln vom Kopf ab.
»Tut mir leid, wenn ich Ihren Schönheitsschlaf gestört habe, Stuart.«
»Ich brauche nicht mehr viel Schlaf, Esme aber schon.«
»Haben Sie Harry in letzter Zeit mal gesehen?«
Er seufzt laut, bevor er mir antwortet. »Seit gestern nicht mehr. Der Junge ist eine echte Plage. Er bringt Mädchen mit nach Hause, trinkt und dreht die Musik zu laut auf. Die meisten Leute machen einen Bogen um ihn, aber seine Mutter war ein Schatz. Ich hoffe, der Vermieter schmeißt ihn nicht raus.«
»Sehen Sie ihn denn häufig?«
»Wenn er nüchtern ist, ist er ein feiner Kerl. Er kümmert sich um unseren Garten und will nie einen Penny dafür haben. Esme bringt ihm als Dankeschön hin und wieder eine warme Mahlzeit rüber. Es ist wirklich ein Jammer, dass er den Alkohol nicht verträgt.«
»Noch was anderes, Stuart. Haben sie schon mal irgendwo den Satz ›Die Braut trägt heute ihr Geschmeide, auf ewig schön im weißen Kleide‹ gehört?«
Der alte Mann spricht die Worte noch einmal nach. »Klingt wie der Anfang von einem alten Hochzeitslied aus meiner Jugend, aber ich bezweifele, dass Sie davon heute noch irgendwo den Text finden. Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, wie das Lied weitergeht, aber mein Gedächtnis taugt nichts mehr.«
»Kein Problem, Stuart. Sagen Sie Harry bitte, dass er aufs Revier kommen soll. Ich muss ihn noch heute sprechen.«
Er steckt meine Karte in die Tasche seines Morgenmantels, doch ich bezweifle, dass er je davon Gebrauch machen wird, denn in seiner Miene steht Argwohn. Die meisten Insulaner lösen Konflikte lieber ohne fremde Einmischung. Einige betrachten es als persönliches Scheitern, wenn die Behörden sich einschalten. Ich werde noch mal hierherkommen müssen, um herauszufinden, wie gut Harry Sabine kannte.
Als ich das Haus verlasse, klingelt mein Telefon. Der Sicherheitschef des Flugplatzes ist dran, und er spricht hastig. Der letzte Flug zum Festland wurde abgesagt, weil einer der Piloten nicht zur Arbeit erschienen ist. Es ist das erste Mal in den sechs Jahren ihrer Beschäftigung, dass Jade Finbury einen Flug verpasst hat, und sie geht auch nicht an ihr Handy. Ich denke an das kurze Gespräch, das ich am Sonntag mit der Pilotin geführt habe, nachdem sie Liz Gannick von Penzance hierhergeflogen hatte. Sie wirkte freundlich und entspannt. Was auch immer passiert ist, ich muss sie schnell finden. Mir fällt auf, dass das Meer zum ersten Mal seit Tagen seine Farbe von Türkis zu Kobaltblau ändert. Wie es aussieht, lag Ray goldrichtig, was den Wetterwechsel angeht. Als ich meinen Blick über den Town Beach schweifen lasse, kommt mein ehemaliger Schulleiter in Sicht. Er absolviert mal wieder seine morgendliche Joggingrunde, diesmal zusammen mit seiner Frau Elaine, und der Labrador läuft hinterher. Das Paar überquert den nassen Sand in einem Tempo, das viele jüngere Läufer alt aussehen lassen würde. Auch ich bewege mich weitaus weniger elegant, während ich zurück zum Revier eile.