Jade Finbury wohnt nur wenige Minuten von Hugh Town entfernt in Porth Minick. Eddie begleitet mich, und wir fahren mit dem Transporter am verlassen daliegenden Old Town Beach vorbei. Jade hat mir mal erzählt, wegen ihrer Leidenschaft fürs Fliegen hätte sie das Haus gekauft, das dem Flugplatz am nächsten liegt, und das war nicht gelogen. Von der Doppelvilla aus hat man einen direkten Blick auf die Start- und Landebahn, die abrupt endet, kurz bevor das Kliff ins Meer abfällt. Jades roter Mini steht in der Einfahrt. Durch die Latten in ihrem Gartenzaun quillt der auf der Insel heimische Agapanthus, alle Fenster sind strahlend sauber.
Auf mein Klingeln reagiert nur eine Katze, die miauend danach verlangt, herausgelassen zu werden. Mein Deputy sieht besorgt aus, als er durch den Briefkastenschlitz in der Tür späht. Er muss Dutzende Male mit Jade zum Festland geflogen sein, wie ich auch. Sie ist eine mitteilsame, beliebte Frau, die den Eindruck macht, dass sie nichts zu verbergen hat.
»Wie lange wird sie schon vermisst?«, fragt Eddie.
»Seit einer Stunde, die Meldung ist eben erst reingekommen.«
Ich schaue durchs Fenster in ihr Wohnzimmer, kann aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Die vielen bunten Kissen auf dem Sofa strahlen Behaglichkeit aus. »Versuchen wir’s mal hinten.«
Eddie folgt dicht hinter mir, als ich um das Haus herumgehe. Jade hat unsere Sicherheitshinweise genauestens befolgt: Beide Türen sind abgeschlossen. Aber wenn eine gewissenhafte Pilotin nicht zur Arbeit erscheint, muss es dafür einen Grund geben. Sollte ihr bei ihrer Rückkehr nach Hause ein Eindringling aufgelauert haben, kann niemand ihre Hilferufe gehört haben. Das Ferienhaus nebenan steht seit Monaten leer, weil es renoviert werden muss.
»Wir müssen da rein«, murmele ich.
»Oben steht ein Fenster einen Spaltbreit offen. Soll ich es da mal versuchen?«
»Wie denn?«
»Machen Sie mir die Räuberleiter, dann schaue ich, was ich tun kann.«
Mit wachsender Bewunderung beobachte ich, wie er über das flache Dach läuft, ein Regenrohr hinaufklettert und dann durch das offene Fenster hineinspringt. Nur wenige Augenblicke später öffnet er mir unten die Tür.
»Spiderman ist nichts gegen Sie.«
Sein Chorknabengesicht verzieht sich zu einem Lächeln. »Turnen war mein bestes Schulfach.«
Meine größte Angst ist, dass wir Jade in demselben Zustand finden wie Sabine, aber das Haus ist leer, ihre Küche makellos. Als ich aus dem Fenster sehe, steht das Flugzeug, mit dem sie von Penzance gekommen ist, noch auf seiner Parkposition neben der quadratischen Silhouette des Flughafengebäudes. Auf dem Tisch liegen einige Briefe, die fertig zum Verschicken sind. Jade hat eine gut lesbare Handschrift mit leicht nach rechts geneigten Buchstaben, die so wirken, als hätten sie es eilig, die Zeile zu füllen.
»Aber sie würde doch niemals einfach so blaumachen, oder?« In Eddies Gesicht flackert Panik auf.
»Wenn sie hier überwältigt wurde, ändert der Täter seine Methode. Die anderen beiden Frauen wurden an abgelegenen Orten attackiert, nicht direkt auf ihrer Türschwelle, in Sichtweite anderer Häuser.«
»Vielleicht wird er selbstbewusster.«
»Wir müssen nachsehen, ob sie bei Leo Kernick ist.«
Jades Freund ist der einzige professionelle Fotograf auf der Insel. Kernick wurde auf St. Mary’s geboren, war aber viele Jahre als Paparazzo unterwegs und hat Promis dabei fotografiert, wie sie sich an weit entfernten Stränden in der Sonne aalten, bevor er in seine Heimat zurückkehrte. Ich habe ihn und Jade im Laufe des letzten Jahres häufig zusammen gesehen, aber das Paar wohnt weiterhin in getrennten Wohnungen. Als wir vor Kernicks Fotostudio in der Nähe von Porth Mellon halten, ist es gerade mal neun Uhr. Das Gebäude ist ein besserer Schuppen mit einem rostigen Dach, die Fensterläden sind fest verschlossen.
Ich klopfe an die Tür. Ein Mann weist uns barsch an, draußen zu warten. Als der Fotograf uns kurze Zeit später aufmacht, schlägt uns der Gestank von Chemikalien entgegen, und drinnen herrscht ein schummriges rotes Licht. Kernicks Erscheinungsbild erinnert mich daran, warum die Leute über seine Beziehung tratschen. Er ist zwanzig Jahre älter als Jade und sieht mit seiner grau melierten Lockenmähne aus wie ein alternder Rockstar. Er trägt eine enge Jeans, und sein Hemd ist mit einer Flüssigkeit bekleckert, so als hätte er sich mit Champagner übergossen. Fehlt nur noch ein bisschen schwarzer Eyeliner, dann wäre er ein Ebenbild von Jack Sparrow in den Pirates of the Caribbean-Filmen, die ständig im Fernsehen wiederholt werden.
»Tut mir leid, dass Sie warten mussten, aber ich war gerade dabei, die Bilder von gestern zu entwickeln.« Er lächelt nur knapp zur Begrüßung, das lebenslange Rauchen lässt seine Stimme rau klingen.
»Dürfen wir reinkommen, Leo?«
Er blockiert noch immer die Tür. »Wenn’s um meine Kfz-Steuer geht, brauchen Sie mich nicht festzunehmen. Ich kann sie heute noch überweisen.«
»Es liegt nichts gegen Sie vor, wir haben nur ein paar Fragen.«
Der Fotograf drückt auf einen Schalter, und das Licht in seiner Dunkelkammer verändert sich von Rot zu Weiß. An einer Leine sind Dutzende von monochromen Fotos zum Trocknen aufgehängt. Sie zeigen die Fischerboote im Hafen von Hugh Town und Nahaufnahmen von Fischern, die ihre Fangkörbe entladen. Die Männer sehen so entspannt aus, als würden sie gar nicht mitkriegen, dass sie fotografiert werden.
Kernick bemerkt, dass ich die Bilder betrachte. »Ich porträtiere die Hummerfischer das ganze Jahr hindurch.«
»Wie kommt’s?«
»Das ist das Ende einer Ära. Die meisten dieser Männer sind in der vierten oder fünften Generation Fischer, aber ihr Wissen über das Meer geht verloren. Ihre Kinder sind weggezogen, weil sie sich hier keine Häuser leisten können. Ich hätte die Porträts auch mit der Digitalkamera machen können, doch bei einem so fragilen Gegenstand fühlt Film sich authentischer an.«
»Sie haben sie perfekt eingefangen«, antworte ich und trete einen Schritt näher. »Wann haben Sie Jade zuletzt gesehen, Leo?«
»Gestern Abend.« Er räumt einen Stapel Fotopapier von einer Bank, damit wir uns setzen können. »Wir haben bei mir zu Abend gegessen, dann ist sie nach Hause gefahren.«
Leos Körpersprache ist entspannt. Ich kann nicht sagen, ob er mir aus Schüchternheit oder aus Unbehagen nicht in die Augen sieht.
»Haben Sie heute schon mit ihr gesprochen?«
»Wir hatten gestern Abend eine kleine Meinungsverschiedenheit. Ich warte jetzt erst mal, bis sie sich wieder abgeregt hat.«
»Jade ist nicht zur Arbeit erschienen. Könnten Sie sie bitte für uns anrufen?«
Kernick greift, ohne zu zögern, nach seinem Handy. Sein Gesicht ist bleich, als er den Anruf beendet. »Sie geht nicht dran. Sind Sie deshalb hier?«
»Wir machen uns Sorgen, dass sie in Gefahr sein könnte.«
»Wo steht denn ihr Auto?«
»In ihrer Einfahrt. Um wie viel Uhr ist sie hier weg?«
»Gegen zehn, glaube ich. Vielleicht geht’s ihr nicht gut; ich sollte mal zu ihr fahren.« Seine Körpersprache ist unverändert, doch ich höre ein Zittern in seiner Stimme.
»Sie ist nicht zu Hause. Haben Sie sie gestern gebeten, über Nacht bei Ihnen zu bleiben?«
»Das war der Grund, warum wir uns gestritten haben. Ich möchte, dass wir zusammenziehen, aber sie hat gern ihren Freiraum. Ich bin hier geblieben, nachdem wir uns so einiges an den Kopf geschmissen hatten.« Er zieht ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, lässt es zu meiner Erleichterung dann aber auf den Tisch fallen. Die Luft hängt so voller Chemie, dass bestimmt ein einziger Funke ausreicht, um das ganze Haus in Flammen aufgehen zu lassen.
»Wer kann das bestätigen?«
»Meine Nachbarn werden gehört haben, wie sie gegangen ist – und wie wir uns gefetzt haben.«
»Streiten Sie sich häufig?«
»Nein, eigentlich fast nie. Die meiste Zeit verstehen wir uns sehr gut.«
»Hatte Jade jemals mit irgendwem auf St. Mary’s Probleme?«
»Nein, sie hat nie was erwähnt. Es muss eine einfache Erklärung geben.«
»Besitzen Sie eine Polaroidkamera, Leo?«
»Nein, seit meiner Kindheit nicht mehr«, sagt er und schaut mich amüsiert an. »Meine billigste Kamera ist eine alte Nikon.«
»Haben Sie jemals Sabine Bertans im Star Castle getroffen?«
»Dort bin ich nie. Das ist nicht meine Preisklasse.«
»Darf ich Sie um Ihre Schlüssel bitten? Ich fürchte, Sie können erst wieder in Ihre Wohnung, wenn sie durchsucht wurde.«
Widerstrebend zieht er seinen Schlüsselbund aus der Tasche. »Jade und ich sind seit zwei Jahren zusammen. Warum, in Gottes Namen, sollte ich ihr etwas tun?«
»Wir werden Sie später kontaktieren. Danke für Ihre Hilfe.«
Eddie schaut mich verblüfft an, als wir wieder in den Wagen steigen. Wegen seiner ruhigen Art kann man sich Leo Kernick nur schlecht als Mörder vorstellen, doch er hat zugegeben, gestern Streit mit Jade gehabt zu haben. Erst wenn wir seine Wohnung gründlich überprüft haben, wird klar sein, ob seine Entspanntheit nur gespielt ist.