Leo Kernick fängt sofort an, sich zu verteidigen, als ich ihn am Telefon zu den Fotos von Sabine und Hannah Weber befrage. Er behauptet, dass es seine große Leidenschaft sei, das Inselleben zu dokumentieren, und er deshalb eine Art visuelles Tagebuch führe; er fotografiere jeden, dem er auf St. Mary’s begegne. Als ich mich erkundige, warum er letzte Woche aufs Festland geflogen ist, will er eine Galerie in Penzance besucht haben, die gerade Werke von ihm ausstellt. Der Fotograf bestreitet, Hannahs Namen zu kennen oder länger als ein paar Sekunden mit ihr gesprochen zu haben. Nach dem Telefonat bin ich frustriert; ich habe keinen konkreten Beweis für seine Verwicklung in den Fall, es steht lediglich sein Wort gegen meines. Möglicherweise ist er einfach ein Besessener, der sein ganzes Leben der Fotografie unterordnet. Als Nächstes rufe ich bei Isla an, die mir erklärt, dass sie in Penzance beim Kieferorthopäden war, was ich leicht überprüfen kann. Das Fehlen einer fachärztlichen Versorgung gehört zu den Beschränkungen, die das Inselleben mit sich bringt. Wenn man zum Zahnarzt oder Optiker gehen will, kann einen allein die Fahrt bis dorthin leicht ein paar hundert Pfund kosten.

Als Eddie und ich durch die Pilot Retreat zurücklaufen, fliegt eine Drohne über uns. Sie ist groß und sieht technisch

Während ich mit Eddie zur Küstenstraße hinuntergehe, rufe ich Lawrie Deane an und sage ihm, dass wir am Abend die Insel nach Jade absuchen müssen, weil alle Übergriffe in den Abend- oder Nachtstunden passiert sind. Die Sonne wird erst gegen einundzwanzig Uhr untergehen, also haben wir noch Zeit, weitere Befragungen durchzuführen.

Am Fuß des Hügels lasse ich meinen Blick schweifen. Die vorgelagerten Inseln liegen flackernd hinter einem Hitzeschleier. Mitglieder der Seenotrettung schippern mit dem Rettungsboot am Hugh Town Beach vorbei zu einer Einsatzübung. Bei ihrem Anblick bekomme ich Sehnsucht nach einem Job mit klar definierten Grenzen. Im Augenblick würde ich nur zu gern mit ihnen tauschen. Sie nehmen bei der Bergung havarierter Schiffe zwar hohe Risiken auf sich, werden aber dadurch belohnt, dass sie Leben retten. Mein Job ist weniger heroisch, vor allem, da nicht jeder Mörder geschnappt wird. Eddie wirkt geistesabwesend, als wir die Strand hinuntergehen. Die Luft wird zunehmend feucht,

»Was ist das?«, frage ich.

»Das sind nur die Vögel, sie streiten sich ums Futter.« Doch als erneut ein lautes Stöhnen erklingt, verändert sich auch seine Miene.

Wir rennen auf die Häuser zu. Das Ächzen wird lauter, als wir uns Harry Jagos Adresse nähern. Ich blicke hoch zu seinem Schlafzimmerfenster, aber die Vorhänge sind zugezogen.

»Das kommt aus dem Gässchen«, sagt Eddie.

Er rennt in den schmalen Durchgang neben dem Haus, wo ein Mann vorgebeugt an der Mauer sitzt. Jagos Gesicht ist zerschunden, über seine Wange ziehen sich tiefe Schrammen, und sein linkes Auge ist zugeschwollen. Ich kann nicht sagen, ob er zusammengeschlagen wurde oder letzte Nacht so viel getrunken hat, dass er auf sein Gesicht gefallen ist und nach Hause kriechen musste.

»Was für ein Gestank«, grummelt Eddie. In der Luft hängt der saure Geruch von Alkohol, an der Backsteinmauer kleben Schimmel und Urin.

»Können Sie aufstehen, Harry?« Da er sich nicht regt, sind Eddie und ich gezwungen, ihn hochzuziehen. »Sie müssen zum Arzt.«

»Verpisst euch, alle beide.« Er fuchtelt mit seinen Fäusten herum, trifft aber nicht.

»Beruhigen Sie sich, sonst wandern Sie in eine Zelle. Als Erstes brauchen Sie mal Wasser und Seife.«

Noch bevor Jago antworten kann, sackt er gegen meine Schulter. Stuart Helyer steht glotzend an seiner Haustür,

»Wer hat Sie so zugerichtet, Harry?«

»Niemand«, antwortet er lallend. »Raus aus meinem Haus.«

»Das ist eine nette Art, uns danke zu sagen.« Aber er grinst nur selbstgefällig zu mir hoch. »Sabine Bertans war letzte Woche auf Ihrem Boot, wie ich hörte. Dabei dachte ich, Sie würden sich kaum kennen?«

Der junge Mann ist nicht dazu in der Lage, mit uns zu reden. Der Schlaf übermannt ihn, und sein Kopf kippt nach hinten. Es könnte Stunden dauern, bis er meine Fragen beantworten kann. Ich schaue auf die Uhr. Uns läuft die Zeit davon, und solange Jade Finbury vermisst wird, darf ich sie nicht damit vergeuden, mich um einen jungen Typen zu kümmern, der unerbittliche Selbstzerstörung betreibt.

Ich lasse Jago in Eddies Obhut zurück und gehe zu der katholischen Kirche auf der anderen Straßenseite hinüber. Sie ist leer, aber an dem Geruch von frischem Weihrauch erkenne ich, dass der Pfarrer heute mindestens eine Messe gelesen hat. Pfarrer Michael sieht aus wie jeder x-beliebige Mann mittleren Alters, als er an die Tür kommt. Er trägt Jeans, Sneakers und ein kurzärmeliges Hemd und hält einen Becher Kaffee in der Hand. Sein Priesterkragen ist das Einzige, was auf seinen Beruf hinweist. Die Frömmelei, die mich an den meisten Religionen abschreckt, zeigt sich bei ihm nicht mal im Ansatz. Er stellt seinen Becher auf dem

»Harry hat ein sehr schlechtes Jahr«, erklärt er. »Seine Mutter hat ihn und Lily früher mit in die Messe gebracht, aber seit sie tot ist, habe ich ihn nie wieder hier gesehen.«

»Harry will nicht zum Arzt. Könnten Sie Eddie helfen, ihn auszunüchtern?«

»Ich werde mich bemühen.«

Der Pfarrer verzieht keine Miene trotz des Gestanks von Erbrochenem und abgestandenem Alkohol, der uns aus Jagos Wohnzimmer entgegenschlägt. Der junge Mann schwankt gewaltig, als er Eddie anschreit, er solle verschwinden. Erst als Pfarrer Michael hereinkommt, wird er ruhig. Es sieht aus, als würde er ohnmächtig, aber Eddie packt ihn gerade noch rechtzeitig und setzt ihn zurück auf das Sofa. Jagos Gesicht ist so verquollen, dass ich seine Reaktion auf den Geistlichen nicht richtig erkennen konnte, aber wenigstens beruhigt er sich. Pfarrer Michael kniet sich vor ihn und reinigt ihm mit dem Tuch und dem warmem Wasser, das Eddie geholt hat, die Wunden. Mein Deputy wirkt erleichtert über die Unterstützung. Der Pfarrer spricht besänftigend auf den jungen Mann ein, während er ihm das getrocknete Blut von den Wangen wischt. Irgendetwas an der ganzen Situation erfüllt mich mit Unbehagen. Vielleicht liegt es einfach an meinen eigenen Vorurteilen, weil ich weiß, dass Harry Jago zu der kleinen Schar bereits vorbestrafter Insulaner gehört. Aber Rhianna Polkerris hatte keinen Grund, mich anzulügen, als sie mir erzählte, dass sie Sabine in Harrys Boot gesehen hat. Es ist möglich, dass er überhaupt nichts mit den Vorfällen zu tun hat, aber ich brauche schnellstens ehrliche Antworten von ihm.

Gannick verschwindet fast in ihrem weißen Arbeitsoverall und scheint über mein Eintreffen verärgert zu sein. Als ich ebenfalls in einen sterilen Anzug und Überschuhe schlüpfe, fühle ich mich wie in Frischhaltefolie eingeschweißtes Fleisch, das in der Nachmittagssonne vor sich hin rottet.

»Nicht Sie schon wieder!«, blafft Gannick mich an. »Ich bin doch gerade erst angekommen.«

»Es ist aber dringend, Liz. Eine Frau ist verschwunden.«

»Wie man hört.« Sie wirft mir erneut einen wütenden Blick zu. »In Kernicks Wohnung war nichts, keine Blutspuren, keine potenziellen Waffen oder Anzeichen für Gewaltanwendung. Das hier ist was anderes. Ich zeige Ihnen die

Gannick schwingt sich über den Holzboden; das Klicken ihrer Krücken klingt wie eine Schrotflinte. Jades Küche wirkt unverändert. Auf einer ihrer Arbeitsflächen steht eine teure Kaffeemaschine, der Esstresen ist sauber. Ich sehe weit und breit keine belastbaren Beweise, bis Gannick mit ihrem UV-Strahler auf den Linoleumboden leuchtet. Plötzlich erscheint in der Nähe der Hintertür ein dunkler Fleck von mehr als dreißig Zentimetern Größe.

»Das Blut muss frisch sein, wenn man es so deutlich sieht«, sagt die Leiterin der KTU.

»Wie lange wird es dauern, bis wir wissen, ob es von Jade stammt?«

»Transportieren Sie meine Proben noch heute nach Penzance, dann kann das Labor es uns morgen früh sagen.«

»Ich bezahle jemanden, der es mit dem Boot hinbringt.«

Gannick lässt den Strahl ihrer Leuchte erneut über den Fleck gleiten. »Mit dem UV-Licht kann man kleinste Rückstände sichtbar machen, aber da hat jemand seine Spuren gründlich verwischt. Mit meinem Lackmustest habe ich Ammoniak und Eisenoxid bestimmen können.«

»Der Täter hat Bleichmittel verwendet?«

»Und einen Topfreiniger, um den Fleck wegzuwischen. In der Spüle habe ich ebenfalls Spuren gefunden. Es muss eine tiefe Wunde gewesen sein; die Tropfen führen direkt zur Hintertür.«

Gannick leuchtet die Spüle an und enthüllt eine diagonale Linie tränenförmiger Flecken, doch als sie die Leuchte ausschaltet, sieht das hölzerne Abtropfgitter sauber und unschuldig aus. Die Chefin der Kriminaltechnik ist so auf