Um achtzehn Uhr starte ich die inselweite Fahndung nach Jade Finbury. Der Suchtrupp wurde in vier Gruppen unterteilt, von denen jede einen anderen Teil des Küstenverlaufs von St. Mary’s abdeckt. Von Jade Finburys Entführung abgesehen, ist die Küste der Ort, den unser Täter bei seinen Angriffen favorisiert. Lawries und Islas Gruppen suchen im Süden, während Eddie und ich an der Nordseite der Insel unterwegs sind. Durch diese Aufteilung können wir sichergehen, dass jeder Strand und jede Höhle nach Anzeichen für die Anwesenheit des Mörders überprüft werden, solange Jade noch eine Überlebenschance hat. Die Gemeinde erweist sich als sehr engagiert; über dreihundert Leute sind erschienen, um nach der Pilotin zu suchen, was wenig überraschend ist. Die Inselbewohner stehen in Krisensituationen zusammen und teilen ihre Ressourcen, damit alle in Sicherheit sind. Manche haben sich dennoch entschlossen, nicht mitzumachen. Julian Power und Rhianna Polkerris, zum Beispiel, aber wir haben bereits mehr als genug Helfer, um die Insel zu durchkämmen. Meine Gruppe wartet, mit Taschenlampen und Laternen ausgerüstet, an der Old Town Bay auf mich. Als ich in London wohnte, habe ich vergessen, wie dramatisch die Abenddämmerung auf den Scilly-Islands sein kann. Die Nacht bricht von einem

Ich erkläre, dass die Küste gründlich abgesucht werden und die Hälfte jedes Suchtrupps sich vom Küstenpfad aus ins Landesinnere verteilen soll. Wir werden zwei Stunden brauchen, bis wir am Bar Point an der Nordspitze von St. Mary’s ankommen. In der Gruppe sind alle Altersstufen vertreten, und auch mehrere wichtige Stützen der Inselgemeinschaft, darunter Frank und Elaine Rawle, haben sich zum Dienst eingefunden. Die Miene meines ehemaligen Schulleiters ist ernst, als wir am Church Point vorbeikommen. Er bleibt auf dem Pfad stehen, während jüngere Teilnehmer zum Ufer hinunterklettern. Das Ehepaar ist sichtlich froh, dabei zu sein, und die beiden gehen auch sehr gründlich vor, schauen sogar unter dem wuchernden Unkraut nach und überprüfen mit Stöcken jeden Zentimeter des Bodens. Unter normalen Umständen wäre unser Spaziergang angenehm, denn unterwegs kann man weit über den Crow-Sund hinweg bis zu den Eastern Isles sehen. Am Wegesrand blühen die auf den Scilly-Inseln heimischen Mohnblumen, Ginsterbüsche und Schafgarben und erinnern mich daran, dass der Mörder bei seiner ersten Tat ähnliche Blumen verwendet hat. Wenn wir zu langsam sind, wird er dieselben Wildblumen in Jades Haar flechten.

Die Start- und Landebahn des Flugplatzes vor uns sieht eher wie eine Landstraße aus; sie ist gerade so lang, dass ein kleines Flugzeug aufsteigen kann, bevor es über den Rand des Kliffs stürzt. Wenn einer der örtlichen Piloten sich im Timing irren würde, würde sein Flieger auf die Kleingartenkolonie und die Felsen darunter krachen. Jade Finburys

»Rhianna lässt sich entschuldigen«, sagt er. »Einer von uns muss immer im Hotel sein.«

»Schon okay, wir haben genug Freiwillige.«

»Wir brauchen ohnehin mal eine Pause voneinander. Die Besichtigung durch diese verdammte Organisation, die die Travel Awards vergibt, war echt meganervig. Tut mir leid, ich sollte die Arbeit jetzt gar nicht erwähnen.« Er betrachtet mich nachdenklich. »Du hast mich noch nie leiden können, was?«

»Eine Frau ist verschwunden, Tom. Die Vergangenheit ist jetzt unwichtig.«

»Es tut mir heute leid, dass ich anderen das Leben schwergemacht habe, falls es dich interessiert. Bei mir zu Hause war die Hölle los; das Geld war knapp, und die Stimmung bei meinen Eltern war ständig auf dem Nullpunkt. Aber ich hab versucht, aus meinen Fehlern zu lernen. Ich hab sogar ein Antiaggressionstraining gemacht.«

»Ja, das soll gut sein, wie ich hörte.« Ich bin zu sehr auf Jade konzentriert, um mich für seine Entschuldigung zu interessieren, auch wenn er ziemlich elend klingt.

»Gestern hat Sabines Vater mich angerufen. Die Hotelbesitzer haben eingewilligt, für den Transport ihrer Leiche auf dem Flugweg und für die Beerdigung zu zahlen.«

»Ja, aber das bringt sie auch nicht zurück.« Polkerris’ Blick ist auf den Pfad gerichtet. »Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen deswegen.«

»Wie meinst du das?«

»Sabine war unsere Angestellte, und wir haben sie im Stich gelassen. Ich hab dauernd Albträume deswegen.«

»Sie hat das Hotelgrundstück aus freien Stücken verlassen, Tom.« Die Schuldgefühle, die sich in seiner Miene widerspiegeln, sorgen schließlich dafür, dass meine alten Vorurteile verblassen, trotzdem bleibe ich misstrauisch. »Ich wollte dich noch fragen, warum du letzte Woche nach Penzance geflogen bist.«

»Wegen einer Gesellschafterversammlung. Die finden viermal im Jahr statt, und Rhianna und ich fahren abwechselnd hin. Sie erwarten jedes Mal mehr von uns; wir geben alles, aber es ist nie genug.«

»Du bist am selben Abend zurückgekommen, oder?«

Er nickt schnell. »Ich hab den Flieger um sechzehn Uhr noch gekriegt. Mir wär’s ja lieber, das alles via Skype zu erledigen, aber sie lieben es, uns persönlich in die Mangel zu nehmen.«

Polkerris’ Geschichte klingt ehrlich. Leider fehlen mir immer noch die Namen der Insulaner, die mit der Scillonian nach Penzance gefahren sind. Ich weiß, das Elaine Rawle ihre alte Mutter im Pflegeheim besucht hat, wie sie es pünktlich wie ein Uhrwerk alle zwei Wochen tut. Die Keast-Brüder sagen, sie hätten den Tag mit der Bestellung von Futter und landwirtschaftlichen Geräten verbracht, und Leo Kernick war in einer Kunstgalerie, doch viele andere sind wegen der IT-Panne noch nicht einmal identifiziert. Tom Polkerris

Der Fußpfad schlängelt sich durch eine Landschaft, in der urzeitliche Inselbewohner ihre Spuren hinterlassen haben. Die riesigen Granitformationen, die sich hier erheben, haben ihre Namen vor vielen Jahrhunderten erhalten: Horse Rock, der Pferdefelsen, Druid’s Chair, der Druidenstuhl, und Giant’s Grave, das Riesengrab. Und die Bezeichnungen passen auch heute noch. Der Horse Rock erinnert an einen aufsteigenden Hengst, dessen Mähne im Wind flattert. Ich gehe langsamer, um auf den Fotografen, der ganz hinten in der Gruppe läuft, zu warten. Er gibt wieder einmal den alternden Rockstar: Seine grauen Locken sehen aus, als wären sie seit Wochen nicht gekämmt worden. Trotz der Wärme trägt er hautenge Jeans, eine verschrammte Lederjacke und ein rotes Tuch. Seine Miene wirkt so angespannt, als könnte er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Die Kamera hängt ihm wie eine Rettungsdecke um den Hals, er stützt sie im Gehen mit der Hand ab. Bevor ich ihn begrüßen kann, drückt er mit einem nichtssagenden Gesichtsausdruck auf den Auslöser und macht ein Foto von mir.

»Sie sollten vorher um Erlaubnis fragen, Leo.«

»Ich fotografiere jeden, der mir vor die Linse läuft, aber wenn Sie wollen, lösche ich das Bild wieder.«

»Sie müssen ja eine gigantisch große Sammlung haben.«

»Wahrscheinlich mehrere zehntausend Fotos. Die, die in meiner Wohnung hängen, sind nur eine winzige Auswahl.«

Er schüttelt den Kopf. »Ich frage die Leute nie nach ihrem Namen, ich dokumentiere einfach nur das Leben auf der Insel. Das ist wesentlich befriedigender, als draußen vor einem beschissenen Nachtclub auf Ibiza darauf zu warten, dass irgendein D-Promi rausgetorkelt kommt, der zu viel Champagner gesoffen hat.«

»Haben Sie damals viel verdient?«

»Ich hab eine Menge auf den Kopf gehauen. Der Lebensstil rächt sich heute; ich kann mich eigentlich kaum noch an etwas aus meinen Dreißigern erinnern.«

»Wie findet Jade Ihre Fotos?«

Seine Stimme wird weicher, als ich ihren Namen nenne. »Sie sagt mir immer, dass sie bestimmt eines Tages in einem Museum hängen.«

»Wie haben Sie beide sich kennengelernt?«

»Sie meinen, wie hat ein altes Wrack wie ich eine jugendlich frische Katholikin abgekriegt?«

»Ich wusste gar nicht, dass sie eine Kirchgängerin ist.«

»Jades Eltern sind religiös. Ich glaube nicht, dass ihr das wirklich wichtig ist, aber sie geht hin und wieder in die Messe.«

»Wissen Sie etwas über ihre früheren Beziehungen?«

»Ihr letzter Freund hat ihr sehr weh getan; er hat sie verarscht. Jade betont zwar ständig, dass sie nichts Festes will, aber jetzt sind wir schon seit zwei Jahren zusammen. Daher hoffe ich, dass sie ihre Meinung doch noch mal ändert.« Er zertritt seine Zigarettenkippe so fest mit dem Absatz seines Stiefels, als würde er auf dem Gesicht des Mörders

»Wir tun, was wir können.«

Kernick versinkt wieder in seinen Gedanken. Ich gehe allein weiter und frage mich, ob die exzentrische Art dieses Typen vielleicht nur eine Tarnung ist. Ich habe schon genügend Mordfälle bearbeitet, um zu wissen, dass auch sanftmütige Individualisten gewalttätig werden können. Als ich nach Osten schaue, sehe ich, dass sich der Himmel hinter Toll’s Island, wo eine alte Festung langsam ins Meer bröckelt, rot färbt. Vor uns öffnet sich Pelistry Beach. Der Pfad windet sich um die Landzunge und gibt den Blick auf eine weitere verborgene Bucht frei. Schmuggler haben die abgelegenen schmalen Buchten über Jahrhunderte dafür genutzt, ihre Schmuggelware an Land zu bringen. Es ist das perfekte Gelände für einen Mörder, der ein Opfer verstecken will. Ich weiß, dass Jade Finbury vielleicht schon tot ist und ihre Leiche in einem der neolithischen Gräber verborgen sein könnte, die in den Hügeln der Insel verborgen sind.

Als Jeff Pendelow meinen Namen ruft, bin ich erleichtert, meine Sorgen beiseiteschieben zu können. Der Psychologe humpelt; er sieht immer noch kräftig aus, aber an seiner bleichen Haut ist gut zu erkennen, dass er leidet.

»Was macht der Rücken, Jeff?«

»Ach, dem geht’s immer noch nicht besser, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, zu Hause zu hocken, während Jade verschwunden ist. Sie hat uns häufig besucht, als das mit Vals Krankheit losging.« Er betrachtet mich über seine Halbbrille hinweg. »Wie läuft’s denn mit der Ermittlung?«

»So kam es mir in meinem Job auch häufig vor, wenn die Patienten nicht auf meine Therapie ansprachen.« Er bleibt an der Stelle stehen, wo der Weg zum Strand hin abfällt. »Ich habe zwar vor ewigen Jahren mal Forensische Psychologie studiert, aber der einzige Rat, den ich dir geben kann, ist eigentlich Allgemeingut.«

»Und zwar?«

»Es wird jemand sein, dem du vertraust. Mörder lieben es, eine Ermittlung zu beobachten. Häufig suchen sie sogar die Nähe der Polizei und bieten freiwillig ihre Hilfe an.«

Jeff sagt das mit einer Ruhe und Gewissheit, die meine eigenen Überzeugungen widerspiegelt. Serienmörder betrachten ihre Untaten als ein Spiel und sind, um die Oberhand zu gewinnen, sogar bereit, das Risiko ihrer Ergreifung in Kauf zu nehmen. Als ich mich dem alten Freund meines Vaters erneut zuwende, wirkt er noch abgehärmter.

»Ruh dich aus, Jeff. Du siehst nicht gut aus.«

Ginny Tremayne, die Mutter von Isla, eilt über den Pfad auf uns zu und schaut besorgt, als ihr Freund sich auf einem Felsen niederlässt; seine Haut hat mittlerweile einen wächsernen Farbton angenommen.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst zu Hause bleiben, du alter Narr«, sagt sie. »Warum kannst du nicht ein einziges Mal auf den Rat deiner Ärztin hören? Komm, ich bring dich zurück.«

»Du bist ein Engel, Ginny.« Der Psychologe sieht erschöpft aus, als sie ihm auf die Füße hilft. »Ich hoffe, du findest sie, Ben. Tut mir leid, dass ich schon gehen muss.«

Ich verspüre einen Hauch von Neid, während ich

Als ich am Ufer ankomme, ertönt ein Schrei. Eine Frau ruft meinen Namen, und ich sehe Elaine Rawle am Flutsaum hocken. Sie trägt Jeans und Wanderstiefel und hält etwas in der Hand.

»Jade hat so eine Tasche«, sagt sie. »Ich hab sie mal damit gesehen.«

Ich mache mir nicht die Mühe, sterile Handschuhe überzustreifen, bevor ich ihr die knallrote Tasche abnehme; das Salzwasser wird ohnehin bereits alle Fingerabdrücke zerstört haben. Die Tasche hängt voller Seetang, aber der Synthetikstoff glänzt noch, und der Reißverschluss ist intakt. Als ich den Inhalt in den Sand kippe, landen ein Schlüsselbund, ein Handy und ein Geldbeutel vor meinen Füßen. Jade Finburys Name steht auf der ersten Kreditkarte, auf die mein Blick fällt.

»Es ist ihre, stimmt’s?«, fragt Elaine mit bebender Stimme, in ihren Augen stehen Tränen.

Leo Kernick hält sich am Rand der Gruppe und versteckt sich vor der Wahrheit, bis ich ihn rufe.

»Ihre Tasche könnte doch jeder ins Meer geworfen haben, oder?« Er spricht so leise, dass man es über das Meeresrauschen fast nicht verstehen kann. »Das heißt noch nicht, dass ihr was angetan wurde.«

Es ist klar, dass er sich an jeden Strohhalm klammert und so zu tun versucht, als wäre seine Freundin in Sicherheit, obwohl die auflaufende Flut uns ihre Habseligkeiten vor die Füße gespült hat.

Während ich die Tasche auf weitere Gegenstände untersuche, ertönt der nächste Schrei. Tom Polkerris kommt über den Strand angerannt und hält eine triefnasse Jacke in der Hand. Sie sieht aus wie die, die Jade immer trug, und am Revers ist das Logo der Isles of Scilly Travel Company zu erkennen. Unser Suchtrupp verstummt. Der Mörder hat vielleicht so viel Angst, geschnappt zu werden, dass er die ausgefeilte Inszenierung seiner ersten Tat aufgegeben hat. Diesmal kann Kernick die Bedeutung des Fundes nicht verleugnen. Er geht taumelnd weg, bis einer aus der Gruppe zu ihm hinläuft, um ihn zu trösten. Jade Finbury könnte nur wenige Meter von Ninas Feriencottage ermordet und ihre Leiche ins Meer geworfen worden sein.

»Bitte bleiben Sie nicht stehen. Lassen Sie uns die Suche beenden, bevor es dunkel wird.«

Leo Kernick kommt zurück, als die Truppe ihren Weg fortsetzt, und kniet sich mit gesenktem Kopf neben die Sachen seiner Freundin in den Sand. Ich erwarte, dass er seine Kamera hebt und die im Sand verteilten Utensilien